"I, Olusegun Obasanjo - do solemnly swear - do solemnly swear..."
Es ist der 29. Mai 1999: Olusegun Obasanjo legt den Amtseid als neuer Präsident Nigerias ab. Das Volk hat ihn gewählt, zum Nachfolger des brutalen Militärdiktators Sani Abacha, der gut ein Jahr zuvor an einem Herzinfarkt gestorben ist. Die Hoffnung in Nigeria ist groß: Jetzt soll alles anders werden. Eine nicht ganz neue Verfassung begründet die vierte Republik, die Wohlstand, Demokratie und die Einheit des Landes bringen soll. Doch es kommt anders, wie Heinrich Bergstresser zwei Jahrzehnte später bilanziert.
"Liberalisierung und Deregulierung erzeugten einen enormen Wirtschaftsboom und beförderten Nigeria zur größten Volkswirtschaft Afrikas. Zugleich nahm die Korruption auf allen Gesellschaftsebenen zu, und auf der Herrschaftsebene entwickelten sich ungeahnte Bereicherungsmöglichkeiten, die zeitweise Formen einer organisierten Plünderung des Staates annahmen. Schließlich ebneten die vertiefte Islamisierung in Nordnigeria und die daraus entstandenen Spaltungen den Weg für den islamistischen Terror."
Terror, Korruption und Staatsversagen: Diese drei Begriffe ziehen sich wie ein roter Faden durch Bergstressers Buch "Nigeria. Die vierte Republik", das die Entwicklungen zwischen 1999 und 2017 geradezu minutiös dokumentiert. Da ist es folgerichtig, dass Bergstresser die Vorgeschichte weitgehend ausblendet, ihr hat er bereits vor Jahren einen eigenen Band gewidmet.
Im ersten Teil beleuchtet Bergstresser das, was er das "System Nigeria" nennt: Dazu gehören die wichtigsten Akteure in Politik, Medien, Justiz, Militär und Sicherheitskreisen sowie die Wahlen und die Amtszeiten von Obasanjo, seinen Nachfolgern Yar'Adua und Jonathan sowie dem aktuellen Präsidenten Buhari. Aus der gewissenhaften Chronologie entsteht das Bild einer Führungsschicht, die das Land in den Abgrund treibt - mit dem Terror von Boko Haram im muslimisch geprägten Norden als vorläufigem Tiefpunkt.
"Eine junge Generation muslimisch sozialisierter Politiker, gestählt im politischen Überlebenskampf unter verschiedenen Militärregimen, nutzte die neuen Freiheiten und setzte ihre religiösen Vorstellungen als erfolgversprechende politische Waffe ein, um gegenüber dem alten islamischen Establishment [...] ihre Machtansprüche durchzusetzen. Große Teile der Bevölkerung, die sich im formal säkularen Staat als Modernisierungsverlierer fühlten, stützten diese Vorstellung in der Hoffnung, dass ein anderer, wahrer Islam und die damit einhergehenden Rechte und Pflichten ihre überwiegend prekären Lebensverhältnisse merklich verbessern würden."
Das Land ist zerrissen
Bergstresser weist nach, dass Boko Haram und viele kleinere Gruppen nicht aus dem Nichts kamen, sondern eine komplexe Geschichte haben. Er macht einen Staat aus, in dem mit dem steigenden Ölpreis immer größere Millionen- und Milliardensummen abgesaugt werden, vor allem von Politikern, die im mehrheitlich christlichen Süden des Landes leben. Dort brummt auch die Konjunktur, während der abgehängte Norden abgehängt bleibt.
Die Zerrissenheit Nigerias ist vielleicht nirgends so deutlich zu spüren wie in seinen Gotteshäusern. Dabei sind christliche Sekten ebenso wie Boko Haram und andere Islamisten kriminell, korrupt und mit der Politik verflochten - auch dieser Aspekt fehlt nicht in Bergstressers Buch, dessen Mittelteil sich mit der Religion und Kriminalität im Staat befasst. Dabei widmet er sich auch den kaum bekannten Konfliktherden etwa im Zentrum Nigerias.
"Innerhalb von zwei Generationen entstanden, weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit, riesige Lager für Binnenflüchtlinge. Trotzdem betrachtete bislang jede Regierung die dortige Lage als beherrschbar und als nicht systemrelevant. Auch Präsident Buhari und seine Regierung räumten diesem Konfliktherd angesichts des islamistischen Terrors [...] keine Priorität ein. Erst nach mehr als einem Jahr im Amt, als die Opferzahlen fast im Tagesrhythmus in die Höhe schnellten und Raub, Plünderung, Viehdiebstahl und Mord die ganze Region in Angst und Schrecken versetzten, wandte er sich diesem Konfliktherd zu, [...] der der Hauptstadt bedrohlich näher kam."
Reicher Fundus an Fakten
Ob zur Lage im Niger-Delta, im ehemaligen Biafra im Osten des Landes oder dem Aufstieg der organisierten Kriminalität: Auch wer glaubt, sich in Nigeria schon gut auszukennen, kann in Bergstressers Buch viel Neues finden. Nur das letzte Kapitel zu Nigeria im internationalen System fällt deutlich ab, ist für eine ausführliche Darstellung des Komplexes aber auch viel zu kurz geraten.
Insgesamt wünscht man sich an vielen Stellen im Buch weniger Breite und mehr Tiefe. Um ein Gefühl für das Land zu entwickeln, würde es helfen, es kämen auch Nigerianer zu Wort - derzeit findet sich im ganzen Buch nicht ein wörtliches Zitat. Vor allem aber muss der Leser seine Schlüsse überwiegend selber ziehen: Viel Beschreibung, Dokumentation und teils seitenlange Aufzählungen von Entführungsopfern oder Ministern stehen wenig zusammenführender Analyse gegenüber. Man merkt wohl, wie die in den verschiedenen Kapiteln beschriebenen Sachverhalte zusammenhängen und sich teils gegenseitig bedingen - doch schön wäre es gewesen, der Autor hätte es dem Leser einfacher gemacht, diese Schlüsse zu ziehen. So präsentiert Heinrich Bergstresser einen reichen Fundus an Fakten, den es zu erobern gilt. Wer sich die Mühe macht, wird mit einem fachkundigen Einblick in eines der faszinierendsten Länder Afrikas belohnt.
Heinrich Bergstresser: "Nigeria. Die IV. Republik zwischen Demokratisierung, Terror und Staatsversagen (1999-2017)"
Brandes & Apsel Verlag, 260 Seiten, 24,90 Euro.
Brandes & Apsel Verlag, 260 Seiten, 24,90 Euro.