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Heinrich-Böll-Stiftung
"Wer radikalisiert ist, der will auch spektakuläre Anschläge"

Auch wenn die Terroristen von Paris nicht im Auftrag des IS gehandelt hätten: Wer sich radikalisiert, der wolle möglichst spektakuläre Anschläge verüben, sagte Bente Scheller, Leiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Beirut, im DLF. Im Umkehrschluss hätten Al Kaida oder IS Interesse, sich die Taten an die Brust zu heften.

Bente Scheller im Gespräch mit Martin Zagatta | 10.01.2015
    Zahlreiche Rettungskräfte und Polizisten vor dem Redaktionsgebäude von "Charlie Hebdo".
    Zahlreiche Rettungskräfte und Polizisten vor dem Redaktionsgebäude von "Charlie Hebdo". (AFP / Martin Bureau)
    Bente Scheller: Guten Morgen!
    Martin Zagatta: Frau Scheller, beide Terrororganisationen, die ja eigentlich Konkurrenten sind, die beanspruchen jetzt die Attentäterschaft. Bei aller Konkurrenz – verfolgen denn da beide das Ziel, im Westen Terroranschläge zu verüben? Stimmen da Al Kaida und IS im Ziel völlig überein?
    Scheller: Also wir haben hier eine Situation, in der wir überhaupt nicht wissen, ob sie tatsächlich die Auftraggeber waren. Wir haben ja nur die eigenen Begründungen. Und ich denke, dass die beiden Organisationen zumindest eins gemeinsam haben: Sie leben von der Angst, sie leben von der Einschüchterung – und so ein spektakulärer Anschlag, das ist etwas, was für uns fürchterlich ist und was sie als gutes Werbemittel sehen.
    Zagatta: Könnte man sich denn vorstellen – die bekämpfen sich ja gegenseitig teilweise sehr heftig und blutig auch in Syrien –, dass da beide Organisationen zusammenarbeiten bei so etwas, bei solchen Anschlägen in Europa? Oder ist das nicht vorstellbar?
    Scheller: Ich halte wenig für unvorstellbar, aber für mich ist im Moment wirklich dieser Punkt, dass das Auftragsarbeiten sein sollten, sehr fragwürdig. Ich denke nicht, dass diese Organisationen es einerseits nötig haben – ich denke, die Stimmung, in der sie agieren und die Stimmung, die sie schaffen, trägt maßgeblich dazu bei, dass Leute in Europa sich radikalisieren, und deswegen denke ich, dass da durchaus Leute einfach loslaufen können und sich eben dieses Label zu eigen machen. Denn nicht zuletzt muss man ja auch sagen: Wer sich in Europa radikalisiert, tut das ja nicht, um auf Dauer dann im Geheimen zu agieren, sondern da ist ja durchaus die Idee, auch in die Öffentlichkeit zu treten und dort möglichst spektakulär Anschläge zu verüben. Deswegen denke ich, dass wir sowohl bei den Attentätern ein Interesse daran haben, so ein großes Label wie eben Al Kaida oder ISIS sich an die Brust zu heften, als auch bei den Organisationen.
    Zagatta: Ja, das wollte ich Sie auch fragen: Haben Sie da Zweifel? Wovor unsere Sicherheitsbehörden ja immer warnen, sind solche Rückkehrer aus Syrien, also Islamisten-Deutsche aus Deutschland oder deutsche Islamisten, die in Syrien gekämpft haben, dass die möglicherweise mit solchen Aufträgen zurückkommen. Das stellen Sie zumindest infrage?
    "Stelle Auftragsarbeit in Frage"
    Scheller: Das kann passieren, das stelle ich insofern nicht infrage. Ich stelle nur infrage, ob jeder Anschlag, der jetzt in Europa passiert, eine Auftragsarbeit ist, denn ich denke, das braucht es nicht. Was eben viel wichtiger für die Organisation ist, ist, dass eben generell so eine Atmosphäre geschaffen ist, also in Syrien sehen wir das ja seit drei Jahren, fast vier jetzt, dass hier jetzt ein vorgeblich säkularer Herrscher töten kann im großen Stil und im Wesentlichen Sunniten, ohne dass der Westen dabei aktiv wird. Jetzt ist aber durch die Luftschläge gegen ISIS natürlich eine Situation gegeben, dass der Eindruck entsteht, dass der Westen mit Assad hier zusammenarbeiten würde, also dass der Westen dann aktiv wird, wenn es eben gegen islamistische Gruppen geht – und das wird als Angriff zum Teil gegen den Islam, und nicht dem ISIS verstanden. Und das ist etwas, was ISIS sehr viel mehr in die Hände spielt, als ihnen das nützlich wäre, dass Leute nach Europa zurückkehren können.
    Zagatta: Sie haben die Luftschläge erwähnt. Wie stark schätzen Sie den Islamischen Staat jetzt denn überhaupt noch ein in diesem Moment? Also das Pentagon, das US-Verteidigungsministerium, das hat ja gerade erklärt, die militärische Stoßkraft des IS sei im Irak gestoppt, und die Terrororganisation sei in Syrien genauso in der Defensive. Können Sie das einschätzen?
    "IS beliebe nicht zerschlagen"
    Scheller: Ich finde, dass man dabei in Betracht ziehen muss, dass wir zwar im Moment keine weitere Ausdehnung des IS sehen, aber er ist beileibe nicht zerschlagen, und das braucht ja keine Spezialkenntnisse, um das zu sehen. Er ist dort, wo er ist, und ich sehe ihn da nicht abgeschwächt, ich sehe im Gegenteil, dass eben die Rekrutierung sehr, sehr leicht weiterhin ist. Die Luftschläge haben vielleicht etwas erreicht, aber beileibe nicht so viel, wie man sich vielleicht im Westen erhofft hatte. Und wir haben eine Situation, die möglichst ewig so weitergehen kann. Ich denke, der Atem des Westens ist definitiv kürzer als der von ISIS, die ja auch nur hier zu sitzen braucht und eine Rekrutierungsbonanza dadurch hat, dass eben diese Konstellation so ist, dass es so wirkt, als würde Assad mit dem Westen hier zusammengehen, und als ginge es nicht gegen eine Terrororganisation, sondern gegen einen Glauben.
    Zagatta: Bente Scheller von der Heinrich-Böll-Stiftung in Beirut. Frau Scheller, ich bedanke mich für das Gespräch und Ihre Einschätzungen!
    Scheller: Ich danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.