Wann beginnt eigentlich ein Spätwerk? Meist lässt sich das ja erst retrospektiv so recht beurteilen. Im Falle von Bob Dylan aber kann man, folgt man der Lesart des Literaturwissenschaftlers Heinrich Detering, einen erkennbaren Bruch ausmachen. "Love and Theft" hieß das Album, das einen Wendepunkt markiert. Erschienen am 11. September 2001 - schon das verleiht dieser Aufnahme etwas Bedeutungsschwangeres -, ist hier zum ersten Mal ein neuer Umgang mit dem musikalischen und poetischen Erbe zu bemerken. Einem Erbe freilich, dem sich Dylan schon immer verpflichtet fühlte.
Gewebe aus Zitaten, Text- und Musikzitaten
"Love and Theft" – der Titel steht in Anführungszeichen: Das ist neu im Oeuvre Dylans und ein wichtiges Detail, das den meisten Hörern bei Erscheinen der Platte entgangen war. Rasch aber hatte sich die Dylan-Gemeinde, bestehend aus eifrigen Fans, fleißigen Exegeten und hermeneutisch geschulten Spurensuchern, auf die Songs gestürzt. Jede Zeile wurde bis zu ihrer Quelle zurückverfolgt, jede Melodielinie auf ihre historische Dimension hin abgehört, jede Strophe auf intertextuelle Referenzen abgeklopft. Wankelmütige und Ungläubige ziehen Dylan des Plagiats. Und übersahen nicht nur die Gänsefüßchen, sondern auch die kunstvolle Webarbeit, die aus all den vielen Fäden eine neue Textur entstehen ließ. Was Dylan da genau macht mit all diesen Referenzen und Zitaten, welchem ästhetischen Programm er folgt und wie er überhaupt verfährt - das versucht Heinrich Detering in seiner neuen Arbeit zu erkunden:
"Ich würde einiges darum geben, wenn ich verstehen würde, wie Dylans wundersames Gehirn funktioniert. Das, was ich in meinem Buch ja ausschnittweise nur zu rekonstruieren versuche, muss etwas sein, was Dylan mehr oder weniger intuitiv produziert. Ich kann mir nicht vorstellen, das Gewebe aus Zitaten, Text- und Musikzitaten, so organisch und ganz und rund klingen können, wenn man nur additiv auf dem Papier zusammengeklebt und hinzugefügt hat. Das eigentlich Wunderbare ist ja nicht die Fülle der Stimmen, die in Dylans Stimme zu Gehör kommen, sondern das Wunderbare ist, dass es so klingt, als sei das alles ganz und gar von Dylan, aus einem Guss, sozusagen."
"Ich stelle mir so vor, dass Dylan in einer Welt aus Zitaten lebt"
Dylans Spätwerk ist kein Pastiche. Eher ein rhizomartiges Gewächs, das einen, je mehr man versucht, seine Struktur zu erfassen, umso stärker verblüfft, anregt, enthusiasmiert. Shakespeare trifft da auf Tennessee Williams, Lewis Carroll auf F. Scott Fitzgerald, Merle Haggard auf Ovid, Robert Johnson auf Juvenal, Frank Sinatra auf Petrarca, ohne dass die einzelnen Gewährsleute in den Songs ihr Gesicht offen zeigen würden. "Allianzen voller Dramatik und Komik, Travestie und Tragödie, Diebstahl und Liebe", nennt Detering das in seinem Buch. Und diese Allianzen scheinen sich zu bilden, weil all die an- und aufgerufenen Dichter und Sänger sich mit denselben grundlegenden Gefühlen, Sehnsüchten, Fragen auseinandergesetzt haben.
"Ich stelle mir so vor, dass Dylan in einer Welt aus Zitaten lebt, ganz konkret stelle ich mir vor, dass er umgeben ist von mit Kritzeleien und Anstreichungen versehenen, zerknitterten Taschenbüchern, Penguin-Taschenbüchern und, das weiß man auch, das hat er gesagt, mit einer Fülle von Schallplatten, die er bei sich hat, die er fortwährend hört."
"Dylan hat ein bestimmtes Ethos entwickelt"
Dylan, ein wandelndes Archiv? Durchaus. Auf seinen Platten, aber auch in Interviews, seiner Internetradiosendung "Theme Time Radio Hour" oder dem Film "Masked and Anonymous" scheint er sich als Lordsiegelbewahrer einer demokratischen, patchworkartigen amerikanischen Kultur, einer vielleicht schon im Untergang begriffenen Welt zu verstehen. Hatte Dylan früher seine Quellen oder Zitate in den Liedern noch offengelegt, so schmilzt er sie nun schier unkenntlich zusammen zu etwas Eigenem. "Wenn wir den Mund aufmachen, reden immer zehntausend Tote mit", schrieb Hugo von Hofmannsthal. Und auch Dylan dürfte diese Erfahrung nicht fremd sein. Aus ihm sprechen ebenfalls, bewusst und unbewusst, die Vorfahren – die Blues-, Jahrmarkt- und Minnesänger, die Poeten und Gaukler, die antiken Dichter und Underground-Poeten jüngerer Zeiten.
"Dylan hat ein bestimmtes Ethos entwickelt oder jedenfalls massiv weiterentwickelt in den letzten 15 Jahren, das ihn vielleicht seit seinen Anfängen schon mitbestimmt hat, und das ist die Vorstellung, es sei geradezu seine Aufgabe, die Stimmen der Toten zu Gehör zu bringen, sie nicht deshalb nur verstummen lassen, weil die ursprünglichen Sprecher oder Sänger eben tot oder vergessen sind."
Dylan ist eine Art Orpheus
Der Titel von Deterings Buch könnte nicht besser gewählt sein: "Die Stimmen aus der Unterwelt". Dylan ist eine Art Orpheus. Und er ist ein Spieler. Früher hat man oft davon gesprochen, Dylan trage Masken, verwandle sich fortwährend. Aber vermutlich hat sich das geändert: Dylan ist ganz eins mit dem, was er singt, ganz eins auch mit den Vorfahren; er ist viele.
"Dylan hat gesagt, in einem Interview vor wenigen Jahren, "the characters in my songs are all me". Ein ganz eigentümlicher Satz, denn es bedeutet ja in der logischen Umkehrung, ich bin alle Personen in meinen Songs, aber das sind Personen, die auch explizit in den Songs schon in verschiedenen Jahrhunderten leben."
Spätwerk als "Mysterienspiele"
Dylans Erinnerungs- sei eine "Vergegenwärtigungskunst", schreibt Detering, die zugleich einhergehe mit einer "radikalen Enthistorisierung" - denn alles Material wird in etwas Neues eingespeist, zu etwas Neuem geformt. Dylan als der wahre "Historiker der amerikanischen Traditionen". Wenngleich Dylan in steter Regelmäßigkeit auf allen Konzertbühnen dieser Welt zu erleben ist, muss man sich doch fragen, ob er überhaupt noch unter uns Sterblichen weilt. Oder schon ein Medium ist, etwas Zeitloses angenommen hat. Umso mehr, je einfacher und zugleich geheimnisvoller sich sein Schaffen in den letzten Jahren präsentiert. Einfach nämlich ist es an der Oberfläche: Es verwendet Songstrukturen, die man aus dem Great American Songbook seit Ewigkeiten kennt. Die Songs sind teils sexy, beschwingt, einnehmend. Kompliziert wird es, wenn man sich die verschiedenen, darunterliegenden Schichten anschaut. Da hat Deterings Buch eine geradezu augenöffnende Qualität. Er setzt die unterschiedlichen Ebenen zueinander in Beziehung. Und er bringt sie auf einen Begriff, der durchaus heuristischen Wert besitzt. Er fasst dieses Spätwerk, Dylan beim Wort nehmend, unter dem Begriff "Mysterienspiele":
"Der Begriff Mysterienspiele stammt nicht von mir, sondern von Dylan selbst. Dylan hat im Februar 2015 die erste und bislang einzige richtig lange Rede seines Lebens gehalten, am Vorabend der Grammy-Verleihung, da bekam er einen Ehrenpreis für sein Werk und hat zur allgemeinen Verblüffung eine über halbe Stunde lange programmatische Grundsatzrede gehalten. Und gleich zu Beginn dieser Rede fällt der erstaunliche Satz: Meine Songs sind wie Mysterienspiele von der Art wie Shakespeare sie sah, als er heranwuchs. Da muss man zweimal nachlesen, um den Gedanken richtig zu kriegen. Er meint tatsächlich nicht: Meine Songs sind so wie von Shakespeare, sondern sie kommen aus derselben Welt, aus der auch Shakespeares Dramen und Gedichte hervorgegangen sind. Und das ist die Welt, die er "Mystery Plays" nennt. Und das ist eine sehr konkret fassbare Welt, es ist die einerseits der jahrmarktshaften, schaustellerhaften Aufführungspraktiken. Anonyme Stücke, die zu kirchlichen Hochfesten in den Straßen oder auch in den Kirchen – es gibt beide Varianten des späten Mittelalters - aufgeführt werden. Das eine Überbleibsel davon, das heute noch alle kennen ist der "Jedermann" in Salzburg. Und es sind Stücke, in denen mit sehr einfachen archaischen Darstellungsformen menschliche Grundsituationen dargestellt werden."
Dylan neu kennengelernt
Detering liest zwar vornehmlich in den Texten Dylans, er schält die menschlichen Grundsituationen, von denen er spricht, aus den Songs heraus, beschäftigt sich exemplarisch und nachvollziehbar mit einigen Songs, dem "Workingman’s Blues #2" von Dylans Album "Modern Times" etwa oder dem homerischen "Roll on John" von "Tempest". Doch lässt er die anderen, notwendig eine Einheit bildenden Teile von Dylans Kunst nicht gänzlich außer Acht: die Musik, die Stimme und die Performance. Und am Ende hat man das Gefühl, Dylan - diesen Dieb aus Liebe - noch einmal besser kennengelernt zu haben.
"Man hat das Gefühl, plötzlich in einen sehr weiten, von Wundern erfüllten Hallraum hineinzuhören, von dem man vorher gar nicht wusste. Aber es liegt alles daran, dass die Songs auch ohne all diese Referenzen für sich stehen und funktionieren können."
Heinrich Detering: "Die Stimmen aus der Unterwelt. Bob Dylans Mysterienspiele"
C.H. Beck. München 2016. 256 Seiten. 19,95 Euro.
C.H. Beck. München 2016. 256 Seiten. 19,95 Euro.