Andrea Bartl hat das Nachwort zu der Sonderausgabe von "Der Untertan" geschrieben, die bei Reclam erschienen ist. Sie ist Literaturwissenschaftlerin an der Universität Bamberg und Vize-Präsidentin der Heinrich-Mann-Gesellschaft sowie Mitherausgeberin des Heinrich-Mann-Handbuches. Ihrer Ansicht nach ist "Der Untertan" heute aktueller als noch vor 30 Jahren. Der Typus des Protagonisten Diederich Heßling sei ohnehin zeitlos: der verwöhnte Fabrikantensohn, einerseits der Mitläufer ohne Rückgrat, der Untertan, andererseits ein Choleriker, ein Lebemann, Egoist und Tyrann.
Heute würde er vielleicht geschäftstüchtig FFP2-Masken gegen Provision vermarkten, merkt die Literaturwissenschaftlerin an, oder lasse sich von Influencern allerlei Meinungen und Wahn empfehlen.
Der Fall Lück und George Floyd
Diese Sonderausgabe des "Untertan" basiert auf der Fassung von 1918. Diese wurde - im Unterschied zu den Vorabdrucken – nicht in punkto Kritik am Kaisertum zensiert. So wurde in den in Zeitschriften veröffentlichten Auszügen etwa der auf Tatsachen beruhende Fall Lück, die Erschießung eines Arbeiters durch einen Wachposten, abgeschwächt eingeordnet. Heinrich Mann weist dem Kaiser im autorisierten Text eine Mitverantwortung zu, eine Art geistige Brandstiftung. Und daher erinnere der Fall sehr an die Tötung von George Floyd in den USA, meint Bartl.
Die Kritik am Kaisertum wird mehr als deutlich im Roman, die Sozialdemokratie kommt aber auch nicht so gut davon, in Gestalt des Maschinenspezialisten in Heßlings Fabrik, Napoleon Fischer.
Heinrich Mann habe ein ambivalentes Verhältnis zur Sozialdemokratie gehabt, betont Andrea Bartl. So habe er auch in anderen Schriften die Errungenschaften für die Arbeiterschaft hervorgehoben, aber zugleich vor Korrumpierbarkeit durch Macht und Kapitalismus gewarnt – und für diese Gefahr steht die Figur Fischer.
Zeitlose Gesellschaftsdiagnose
Eine andere Figur, Wolfgang Buck, der als Schauspieler dem Publikum den Spiegel vorhält, entlarvt Diederich, dringt aber nicht damit durch. Auch das weckt Assoziationen zu aktuellen Diskursen, Warnungen vor rechtem Gedankengut, vor Instrumentalisierung, die nicht gehört werden. Auch Buck scheitere letztlich an seiner Korrumpierbarkeit, sei mehr auf eigene Wirkung bedacht als an Veränderung interessiert.
Heinrich Mann habe sich ein Leben lang mit Fragen von Macht und Unterwerfung auseinandergesetzt, auch im zwischenmenschlichen Bereich, fasst Bartl zusammen. Und für eine solche zeitlose Gesellschaftsdiagnose in Manns Lebenswerk stehe "Der Untertan" exemplarisch.
Heinrich Mann: "Der Untertan",
herausgegeben von Werner Bellmann,
Reclam Verlag, 494 Seiten, 36 Euro.
herausgegeben von Werner Bellmann,
Reclam Verlag, 494 Seiten, 36 Euro.