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Heinz Helle
Um Distanz bemüht

Heinz Helle wurde 1978 geboren, er hat in München und New York Philosophie studiert und als Texter in Werbeagenturen gearbeitet. In Biel hat er am Schweizerischen Literaturinstitut - einem Pendant des Leipziger Literaturinstituts - das Schreibhandwerk gelernt. Nun ist sein zweiter Roman erschienen. Er hat es auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft.

Von Ulrich Rüdenauer |
    Dereinst dürften Literaturgeschichtsschreiber, wenn sie auf die Zehner Jahre des 21. Jahrhunderts schauen, unter der jungen Autorengeneration eine gewisse Freude an der Apokalypse entdecken. Was jetzt nur punktuell und kurzsichtig wahrgenommen wird, könnte dann als Symptom einer bestimmten Umbruchszeit gedeutet werden. So viel aber lässt sich sagen: Der dystopische Roman feiert in der Gegenwartsliteratur fröhliche Urständ, und vielleicht werden spätere Historiker die unterschwelligen Zusammenhänge zwischen literarischen Untergangsszenarien und gesellschaftlichen Verwerfungen ein wenig genauer analysieren können als es gerade noch möglich erscheint - das Wechselspiel von coolen literarischen Endzeit-Sounds und den diversen Krisenherden, ob Finanz-, Flüchtlings-, Europa-, Abhör-, Ukraine- oder Syrienkrise.
    Nach einschlägigen, düstereren, heruntergekühlten Büchern von Valerie Fritsch, Matthias Nawrat, Roman Ehrlich, Leif Randt oder Benjamin Stein, um nur einige wenige zu nennen, kommt nun in diesem Herbst ein weiteres hinzu, das noch ein wenig radikaler und unerbittlicher die drohende Apokalypse schildert. Heinz Helles Roman "Eigentlich müssten wir tanzen" lässt eine Gruppe junger Männer in einem Nichts zurück, in einer postapokalyptischen Welt, in der Dörfer und Städte abgebrannt, die Menschen tot oder am Sterben sind, alles Menschliche ausgelöscht und verschwunden scheint - ohne eine Erklärung dafür zu geben, was mit der Erde geschehen ist. Die Geschichte ist denkbar einfach: Fünf Freunde treffen sich - wie in jedem Jahr - zu einem gemeinsamen Wochenende in den Alpen, auf einer Hütte oberhalb eines kleinen, unbenannten Dorfes.
    "Wir waren fünf. Drygalski, Gruber, Fürst, Golde und ich, und wir hatten Eier eingepackt und Milch, Bier, Hack, Nudeln, Nutella, nur Brot nicht, das wollten wir beim Bäcker im Tal kaufen, unten, im Dorf. Wir hatten die Stadt hinter uns gelassen, die Vorstadt, in der wir zusammen aufgewachsen waren, die Autobahnkreuze, die Teppich-, Möbel- und Baumärkte, die Industriegebiete, in denen Firmen saßen, die Sicherheitsschleusen hatten und einen Werkschutz und englische, umständliche Namen, und sie machten irgendwas mit Computern. Zwei vorne, drei hinten. Wir saßen auf engem Raum. Die, die hinten saßen, hätten, wenn sie gewollt hätten, ihre Hände ineinander legen können, aber das wäre schwul gewesen, und außerdem spürten wir trotz der Euphorie über die gemeinsame, fortschreitende Bewegung auch eine gewisse Distanz zwischen uns, so lustig wie früher würde es ja eh nicht werden, nur jedes Jahr teurer, und eigentlich war man für das alles allmählich zu alt, und außerdem dauerte es mittlerweile ja auch gut drei Tage, bis ein anständiger Rausch wieder abgebaut war."
    Man merkt schon an dieser kurzen Passage: Nicht nur die jungen Männer untereinander, sondern auch der Ton Heinz Helles ist um Distanz bemüht; die Beziehungen der Figuren sind auf merkwürdige Weise sachlich; Körperlichkeit und Nähe sind verpönt. Man hat es - vor und nach der Katastrophe - mit Eisklötzen zu tun, Menschen, die Gefühle kaum zu formulieren im Stande sind.
    Als die fünf Freunde nach dem gar nicht allzu rauschhaften Wochenende ins Tal zurückkehren wollen, sehen sie eine imposante Rauchfahne aufsteigen. Nicht ein Haus brennt da, sondern das gesamte Dorf. Etwas Unfassliches muss sich ereignet haben. Sie machen sich zu Fuß auf den Weg und stoßen fortwährend auf Zeugnisse der Zerstörung und Auslöschung:
    "Im letzten Licht erreichen wir ein Dorf. Auch hier sind alle Fenster verrammelt, die Türen verschlossen, wir treffen keinen Menschen und finden keinen Hinweis auf den Verbleib der Bewohner."
    Anders als in Thomas Glavinic' "Arbeit der Nacht", wo ein Mann eines Morgens feststellt, dass er der letzte verbliebene Erdenbewohner ist und eine existenzielle Fantasie über Einsamkeit, Leben und Tod entwickelt wird, sind bei Helle der Erzähler und seine Freunde weder allein noch existenziell berührt. Im Gegenteil: Die Gefühllosigkeit der Figuren in diesem Roman ist das eigentlich Erschreckende. Ab und an begegnen die fünf Männer Leichen oder Halbtoten. Je aussichtsloser ihre Lage, desto mehr verliert sich das Gefühl für die Würde des andern. Wir begegnen diesen Übriggebliebenen, als sie schon seit einiger Zeit unterwegs sind, den Pfad der Zivilisation verlassen haben. Man glaubt zunächst, sie würden sich in ihrem Verhalten Tieren annähern. Aber das ist falsch: Sie vertrauen nicht einmal ihren Instinkten, scheinen die selbstverständlichsten Dinge, die zum Überleben notwendig wären, zu vergessen. Sie sind abgestumpft. Zivilisationswracks. Mit geradezu ekelerregender Kälte und Abgebrühtheit schildert der Ich-Erzähler etwa die Vergewaltigung einer zwischen Leben und Tod schwebenden Frau. Nachdem sich die herumstreifenden Freunde über sie hergemacht haben, heißt es lapidar:
    "Wir sehen ihren zur Seite geneigten Kopf, ihre jetzt doch noch geschlossenen Augen, und dann hören wir ihre Stimme, ein einziger Ton nur, wieder und wieder und wieder, und all das macht es uns unmöglich, nicht zu denken: Du willst es doch auch."
    Man mag diesen Ton der Gefühllosigkeit als Konsequenz des apokalyptischen Horrors bewundernswert finden, weil er den Prozess von der Zivilisation zur Barbarei, die zunehmende Verrohung von Helles Personal drastisch vor Augen führt - alles kehrt zurück ins Nichts oder zu einer Stunde Null, von der vielleicht ein Neuanfang unter anderen Vorzeichen möglich wäre. Man mag aber ebenso gut in der Empathielosigkeit der Figuren und des Textes ein ästhetisches Problem entdecken, das zugleich ein moralisches ist: Der Roman erliegt seiner eigenen Versuchsanordnung so sehr, ist fasziniert von den Möglichkeiten, die diese Form der Leere eröffnet, dass daraus eine Masche wird. Helle arbeitet subtil, mit einer Sprache, die weder schön noch sonderlich brutal oder expressiv ist, sondern ebenso leblos wie die Kulisse seines Romans. Die Schockmomente werden sparsam gesetzt. Aber durchaus mit einer Freude am Verfall und Zerfall. Es ist eine Lust an der Endzeit, eine Lust an der Verdammnis, eine Lust am Unmenschlichen, die hier aufscheint und dem Leser keinen Fluchtraum und keine Hoffnungsfunken lässt. Die Errungenschaften einer aufgeklärten Welt, das will Helle vorführen und führt es unmissverständlich vor, sind hier nichts mehr wert. Zunächst landen noch die Smartphones in einem Fluss - man kann nicht mehr mit dem früheren Leben kommunizieren, man braucht also auch die Spielzeuge der überkommenen Welt nicht mehr. Dann aber wird auch das, was man Menschenwürde nennt, über Bord geworfen. Einer der fünf Freunde bricht sich beim zusehends sinnloser erscheinenden Marsch Richtung Grenze ein Bein. Die Erwartung, dass die anderen ihn weitertragen oder ihm zumindest beistehen, wird enttäuscht:
    "Ehe wir weitergehen, tragen wir ihn noch zu einer Eiche am Wegrand, wir setzen ihn an den Stamm, in Blickrichtung der unscharf aus dem Nebel hervortretenden Felstürme des Wilden Kaisers oder Hahnenkamms oder was auch immer hier langsam in Sicht kommt, wir drehen seinen Kopf in die Richtung, in die er gesehen hat, als er den Entwässerungsgraben, der seinen Fuß unbrauchbar gemacht hat, nicht gesehen hat, und wenn sich nachher seine vor Schmerz verkrampften Züge wieder entspannen, wird er genau die Berge sehen, die er gesehen hat, als er noch im Besitz zweier gesunder Füße war und sein einziges Problem eine aus den Fugen geratene Welt. Dann gehen wir. Wir lassen ihn sitzen im nassen Gras, und wir hoffen, dass es heute Nacht nicht so kalt wird, dass er im Dunkeln sterben muss. Aber kalt genug, dass es bald nach Sonnenaufgang vorbei ist."
    Ganz am Ende wird ein Fremder, ein anderer Überlebender, der sich in der Hütte zum Schlafen hingelegt hat, von den beiden noch übrig gebliebenen Freunden wie ein Tier gehetzt und brutal zu Tode geprügelt - pure Sinnlosigkeit der Gewalt, die kaum erklärbar ist. In "Melancholia" von Lars von Trier, einem Weltuntergangsfilm, gibt es ein trostreiches Moment - eine kleine Utopie in der Dystopie. Bei Helle herrscht Grausamkeit. Die Kritik an den Verrohungstendenzen unserer Gegenwart, wie sie in Helles Experiment düster zu Ende gedacht werden, wirkt schal durch die Ästhetik der Kälte, die darin aufscheint. Es ist kein Buch, das einem Unbehagen bereitet. Sondern eines, das sich im Unbehagen genüsslich und stilvoll einrichtet.
    Heinz Helle: Eigentlich müssten wir tanzen. Roman.
    Suhrkamp Verlag. Berlin 2015. 174 Seiten. 19,95 Euro.