Dirk Helbing von FuturICT: "We want to create something like a flight simulator for politics and economics."
Ein Flugsimulator für Politik und Wirtschaft: Das war das Ziel von FuturICT. Forscher aus 30 Ländern bewarben sich damit für eine der größten Ausschreibungen bei der EU-Kommission. Helbing:
"Wir nutzen Supercomputer heute in allen möglichen Bereichen."
Eine Milliarde Euro sollte das Gewinnerprojekt erhalten, verteilt über zehn Jahre. Die Versprechungen des Züricher Projektleiters Dirk Helbing waren gewaltig:
"Für Politik und Wirtschaft gibt es noch nichts Vergleichbares."
Am Ende scheiterte FuturICT gegen andere Bewerber. Aber die Idee ist längst nicht tot.
Unvorhersehbar emanzipatorisch: der Arabische Frühling
Am 17. Dezember 2010 stellt sich der 26-jährige Obstverkäufer Mohamed Bouazizi vor die Präfektur seiner Heimatstadt im tunesischen Sidi Bouzid. Er übergießt sich mit Benzin. Und er zündet sich an. Zuvor hatte er versucht, sich bei der lokalen Regierung über erlebte Polizeigewalt zu beschweren - erfolglos.
Die aussichtslose Situation von Mohamed Bouazizi trifft genau an diesem Tag einen Nerv.
Tagesschau-Bericht vom 9. Januar 2011: "Tunesien und Algerien werden von heftigen Protesten gegen Arbeitslosigkeit und steigende Lebensmittelpreise erschüttert."
Tagesschau-Beitrag vom 15. Januar 2011: "Panzer überall in der Hauptstadt Tunesiens. Das Militär hat die Kontrolle übernommen und zeigt sich im ganzen Land."
Tagesschau-Beitrag vom 9. Januar 2011: "Die Politiker, sagt dieser Jugendliche, behalten den ganzen Reichtum des Landes für sich. All die Milliarden, die das Öl für Algerien bringt, nur für die da oben."
Die Unruhen breiten sich aus und erfassen bald mehr als 15 andere Staaten der Region. Es ist ein politisches Ereignis, das so kaum jemand vorhergesehen hatte. Und doch bahnte es sich schon vorher an. Zehntausende Menschen beklagten sich zunächst in den sozialen Netzwerken. Wer die Zeichen zu deuten weiß, ist klar im Vorteil. Nicht nur Twitter- und Facebook-Revolutionen sind daher längst ins Visier der Politikberater gerückt. Gesucht werden Prognosen, für bessere Entscheidungen, bessere humanitäre Hilfe. Oder bessere Unterdrückung:
"I think that this is plausible."
Der Mathematiker und emeritierte Professor John Casti befasst sich seit Jahrzehnten mit der Vorhersage gesellschaftlicher Ereignisse:
"Ich denke, das ist längst noch keine Simulation der Welt, aber es ist möglich. Sie bekommen mit solchen Studien über soziale Netzwerke ein Gespür dafür, wann es gefährlich wird."
Kam einfach über uns? Der IS war der Öffentlichkeit bis 2014 praktisch unbekannt
Vorhersagen spielten in der Menschheitsgeschichte immer eine bedeutende Rolle. Für eine sesshafte Lebensweise und erst recht für große Zivilisationen war es wichtig zu wissen, was morgen passieren könnte und was eher nicht. Antike Feldherren besuchten vor großen Feldzügen Orakel, um sich des Beistands der Götter sicher zu sein. Heute sind alle Staaten, Städte, Gemeinden und Haushalte miteinander vernetzt - die Welt ist hochkomplex geworden. Erst dadurch kann ein scheinbar unwichtiges Ereignis ganze Erdteile politisch umwälzen - was gute Vorhersagen notwendig macht.
Tagesschau-Beitrag vom 11. Juni 2014: "Die Gotteskrieger der ISIS sind nach der gestrigen Eroberung von Mossul weiter auf dem Vormarsch. Ihr Name ist Programm. Islamischer Staat in Irak und Syrien."
Seit 2011 bildet sich in Syrien und im Nordirak unauffällig ein neues Machtzentrum heraus. Extremistische Gruppen versuchen mit Gewalt und Terror gezielt globale Störeffekte auszulösen.
"Ich heiße Stefan Wuchty. Und seit drei Jahren bin ich Professor für Computer Science an der University of Miami."
Stefan Wuchtys Forschergruppe wollte herausfinden, ob sich die enorme militärische Ausbreitung des sogenannten Islamischen Staates vorab in den sozialen Netzwerken ankündigte:
"Da haben wir also dann bei Twitter nachgesehen und bei Facebook und haben keine Daten gefunden, ganz einfach deswegen, weil Twitter und Facebook sofort jegliche ISIS-Aktivitäten unterdrücken."
Wer gut vorhersagen will, braucht erstmal richtig gute Daten:
"Wir haben dieses russische Netzwerk gefunden, VKontakte.com. Das ist das russische Pendent zu Facebook, das einen weiteren Verbreitungsgrad in Russland hat als Facebook selbst. Und von VKontakte wussten wir auch, dass da wahrscheinlich Daten zu bekommen sind, weil es in den südlichen Teilen von Russland, also in den Regionen Tschetschenien, Tadschikistan und so weiter, starke ISIS-Unterstützung gibt."
Mit 370 Millionen Mitgliedern gehört VKontakte zu den großen sozialen Netzwerken. Wuchty:
"Dort wird ISIS-Aktivität auch unterdrückt. Aber weitaus sporadischer als das bei Facebook oder Twitter der Fall ist. Also es gibt Online-Moderatoren, die diese Gruppen abschalten, wenn sie der Meinung sind, dass die abgeschaltet werden müssen."
Stefan Wuchty entschied sich, nicht etwa den Inhalt der Gruppen anzusehen - sondern lediglich die Anzahl der Gruppen, ihre Lebensdauer vor ihrer Löschung durch Moderatoren und die Rate, mit der neue Gruppen entstanden:
"Und wir haben ein sehr gutes Signal bekommen rund um den 18. September 2014."
Ein Signal heißt: In dieser Zeit schossen neue Sympathie-Gruppen für den IS wie Pilze aus dem Boden. Vielleicht weil Gerüchte über eine bevorstehende Invasion zirkulierten. Vielleicht weil IS-Kämpfer selbst ihnen nahe stehende Gruppen des sozialen Netzwerks fütterten. Irgendetwas gärte:
"Da haben wir vor dem Computer gesessen, uns das angesehen und uns gefragt: Was war am 18. September 2014? Da sind wir mal die Nachrichten durchgegangen und haben versucht herauszufinden, was da war: Da hat es also die ersten Berichte gegeben, dass Menschen aus Kobane in Syrien versuchen zu fliehen. Es war ein Massenexodus aus der Stadt, weil Gerüchte aufkamen, dass ISIS auf dem Vormarsch wäre."
"Vorhersage" ist bislang nur rückwirkend möglich
Es war ein vergleichsweise später Angriff auf die kurdisch dominierte Stadt in Nordsyrien, als der Islamische Staat längst über ein riesiges Territorium herrschte. Weit nützlicher wäre es gewesen, schon fünf Jahre zuvor den Aufstieg des IS vorherzuzeichnen - als dessen Mitglieder noch zu scheinbar unbedeutenden extremistischen Randgruppen zählten. Stefan Wuchty hält das prinzipiell für möglich:
"Ja. Ich bin davon überzeugt, wenn wir die Daten hätten. Leider haben wir sie nicht. Wenn wir schon damals vor circa vier Jahren Gruppen auf sozialen Netzwerken angesehen hätten, die pro-ISIS sind, hätte man wahrscheinlich auch ein Signal feststellen können."
So aber blieben nur wenige Tage bis zur Offensive auf Kobane. Zu wenig, um die aufstrebende Macht zu stoppen. Vielleicht aber hätte man den Vorsprung dennoch nutzen können: um die Verteidiger militärisch vorzubereiten, Hilfsgüter zu entsenden oder einen Weg für Flüchtlinge offen zu halten. Ein gewichtiges Problem hat Wuchtys Studie dennoch: Seine Daten waren alt:
"Wir sind noch weit davon entfernt, ein Realzeitsystem zu haben. Da bräuchte man noch jede Menge Mittel, um das aufzustellen. Es ist natürlich möglich, das zu bauen. Aber für unsere Studie haben wir das alles post faktum gemacht."
Die "Vorhersage" der Forscher war also gar keine. Sie fanden ein Muster in alten Daten, nachdem die IS-Offensive stattgefunden hatte.
An der Medizinischen Universität Wien analysiert auch Stefan Thurner große Datenmengen aus Wirtschaft und Gesellschaft. - Er hat ein Problem mit den Arbeiten vieler seiner Kollegen:
"Was man rückwirkend machen kann, ist natürlich die Zukunft gut vorherzusagen. Das funktioniert immer. Das funktioniert dann aber oft für die wirkliche Zukunft sehr viel schlechter oder überhaupt nicht mehr. Das ist das große Problem des sogenannten Overfittings, dass sie das Wissen aus der Zukunft schon hineinstecken in ihr Modell, um dann rückwirkend die Zukunft gut vorhersagen zu können. Das ist ein Riesenproblem, das in sehr vielen Arbeiten drin steckt."
Für Stefan Thurner ist die Erforschung sozialer Dynamik deswegen noch reine Grundlagenforschung. Die Wissenschaftler müssten in den Daten erst einmal nachvollziehen, wie eine komplexe Gesellschaft überhaupt kollektive Entscheidungen trifft:
"Die Menschen sind verbunden miteinander durch eine Reihe von Netzwerken, nicht nur eines, sondern viele. Zum Beispiel sind das Freundschaftsnetzwerke, Kommunikationsnetzwerke oder Handelsnetzwerke. Die Kollegen in der Arbeit sind ein Netzwerk oder die Familie ist ein Netzwerk."
Das Geflecht ändert sich ständig - und auch die Menschen selbst können sich verändern: spontan - oder weil die Wut wächst. Ob nun aber wie beim Arabischen Frühling viele Menschen gleichzeitig gegen die Missstände auf die Straße gehen - oder dann doch schulterzuckend zu Hause bleiben, hängt von ihren persönlichen Kontakten ab, so Thurner:
"Da kriegen Sie so ein Henne-Ei-Problem. Die Eigenschaften ändern sich aufgrund des Netzwerks. Das Netzwerk ändert sich aufgrund der Eigenschaften."
Dieses Henne-Ei-Problem scheint nun aber langsam lösbar: Was viele Menschen denken, planen und tun, ist im Prinzip jederzeit in den Datenbergen des Internets abrufbar. Dazu verdoppelt sich die erzeugte Datenmenge der Menschheit jedes Jahr. Das heißt, von Anbeginn der Menschheitsgeschichte bis zum 31. Dezember 2015 entstanden genauso viele Daten wie im Jahr 2016. Stefan Thurner:
"Man kann die Netzwerke beobachten, wie sie sich in der Zeit ändern. Aus dieser Beobachtung kann man dann Gesetzmäßigkeiten erkennen und dann natürlich früher oder später diese Gesetzmäßigkeiten extrapolieren und dann zu testbaren Vorhersagen kommen. Daran glaube ich bestimmt. Was ein Game Changer ist: Vor 20 Jahren hätte man mich aus der Universität geworfen für so ein Statement."
Computerspieler als Laborratten
Der Weg ist vorgezeichnet, allerdings auch steinig. Noch ist Stefan Thurner weit von validen Vorhersagen für eine ganze Gesellschaft entfernt:
"Ein Student ist eines Tages in meinem Büro gewesen und hat gefragt, ob er eine Doktorarbeit schreiben kann. Ich wollte wissen, was ihn an Mathematik interessiert und welches Thema er sich aussuchen würde. Das hat ihn alles nicht interessiert. Physik hat ihn auch nicht interessiert und auf meine Frage, was ihn interessiert, hat er gesagt: Computer-Games interessieren ihn."
Es war das Wissen einer ganzen Welt, die Stefan Thurner da vor die Füße fiel. Einer Spielewelt zwar, aber mit nahezu unbegrenzten Möglichkeiten, sie zu erforschen:
"Er hat in seiner Jugend ein Computerspiel programmiert, zum Spaß mit einem Freund. Und das ist eines der größten Massively Multiplayer Online Games in Europa geworden. Und als er mir da noch gesagt hat, dass er sich jede Bewegung, jede Aktion aller Spieler aufzeichnet; dass also die komplette Information und die gesamte Geschichte von dem Spiel aufzeichnet, hatten wir einen Deal."
Die Spielewelt hat heute 400.000 registrierte Mitglieder, die in Raumschiffen eine virtuelle Galaxie bevölkern, Freundschaften schließen, Güter produzieren und Handel treiben. Große Umbrüche treten in dieser Welt nur alle paar Jahre auf: Es sind Kriege zwischen den Parteien der Spielewelt. Wann genau sich viele tausend Spieler gemeinsam für den Waffengang entscheiden, wollte Thurner prognostizieren. Immerhin kannten die Forscher ja jeden Schritt aller Spieler:
"Diese Kriege vorherzusagen, haben wir nicht geschafft, also Early Warning Signals zu entwickeln. Das wäre natürlich fantastisch, wenn das gehen würde."
Per Algorithmus kollektives Verhalten vorausahnen
Vielleicht sind die Algorithmen schlicht noch nicht gut genug. Immerhin beginnen Physiker, Mathematiker, Informatiker und Soziologen gerade erst damit, die zukünftigen Bewegungen der Gesellschaft zu erforschen. In einem kleineren Bereich sind soziale Vorhersagen dagegen längst Alltag: Prognosen aus Unternehmensdaten sind seit Jahren ein florierendes Geschäft.
Mitarbeiter: "Sie wollten zum Professor Feindt?"
Wie solche Verfahren genau funktionieren, könnte Michael Feindt erklären. Er ist Gründer einer Vorhersagefirma, die in einem ruhigen Gewerbegebiet am Rand von Karlsruhe residiert. Auf einem blauen Teppich am Eingang steht das Firmenmotto: Forward looking. Forward thinking. Nur kommt Michael Feindt nicht wie verabredet.
Michael Feindt: "Hallo."
Karl Urban: "Hallo Herr Feindt. Haben Sie es geschafft?"
Michael Feindt: "Ich bin am Ende."
Feindt reist am Tag nach der Brexit-Abstimmung zurück nach Karlsruhe. In Frankreich streiken die Fluglotsen:
"Sowas habe ich echt noch nicht erlebt, dass so viel auf einmal schief geht."
Michael Feindt war jahrelang Professor für Teilchenphysik und arbeitete am CERN. Dort entwarf er auch seinen Vorhersagealgorithmus. Damals wollte er nur die immensen Datenmengen aus dem Teilchenbeschleuniger bändigen:
"Es gibt viele Beobachtungen mit jeweils vielen Variablen, wie in einer Matrix viele Reihen mit vielen Spalten."
Es wurde ein Geschäftsmodell:
"Im Prinzip kann der Algorithmus aus der Beobachtung vieler solcher Ereignisse jede beliebige Spalte vorhersagen. Und ein Trick ist, dass die Vorhersagespalte etwas ist, das eben in der Zukunft liegt."
Michael Feindt schaut also nicht in die Glaskugel - sein Programm macht schlicht eine statistische Analyse mit Daten aus der Vergangenheit. Dabei wird ein Maschinenlern-Algorithmus darauf optimiert, selbstständig Muster zu erkennen. Blue Yonder sagt etwa einer Drogeriemarktkette voraus, wie viele Kunden zukünftig jede einzelne Filiale besuchen werden, abhängig vom bisherigen Kundenandrang, der Jahreszeit und dem Wetter:
"In der Gesellschaft, in der Wirtschaft, in einem Staatswesen, in einem Unternehmen, also überall da wo es viele Individuen gibt, die irgendwie handeln. Da gibt es also jede Menge von Effekten, die sich langfristig so gut wie gar nicht vorhersagen lassen, kurzfristig aber manchmal schon."
Das Niveau von Prognosen über soziale Massenbewegungen ist vergleichbar mit einer 80er-Jahre-Wettervorhersage
Solche prädiktiven Verfahren werden heute in vielen Bereichen eingesetzt: bei der Vergabe von Krediten, von der Polizei bei der Einsatzplanung. Doch eine Vorhersagemaschine für die Gesellschaft müsste mehr können: Sie müsste das Verhalten von 7,5 Milliarden Menschen berücksichtigen.
Und tatsächlich gibt es ein vergleichbar kompliziertes und computergestütztes Orakel, auf das sich schon heute fast alle verlassen und das jeden Tag aufs Neue versucht, nicht etwa das Verhalten aller Menschen, sondern das aller Luftmoleküle vorherzusagen.
In der Zentrale des Deutschen Wetterdienstes in Offenbach am Main:
"Wir stehen jetzt hier vor unserem neuen Rechner."
Henning Weber betreut den vor zwei Jahren neu angeschafften Supercomputer:
"Der ist relativ klein. Das sind vier große schwarze Schränke, vielleicht so groß wie ein Kleiderschrank."
Der Rechner beschäftigt sich vor allem mit einem: Mit dem Wetter der Zukunft. Und das wird immer besser vorhergesagt:
"Wenn Sie sich eine Grafik ansehen, in der die Qualität der Wettervorhersage aufgezeichnet ist, dann sehen Sie da immer wieder Sprünge. Diese Sprünge sind Zeiten, in denen ein neues Modell eingeführt wurde. Das hat eine höhere Qualität gehabt. In der Vergangenheit sind das immer die Momente gewesen, in denen ein neuer Rechner zum DWD gekommen ist."
Und es ist eine wachsende Datenflut aus der Umwelt, mit denen die immer genaueren Modelle in immer schnelleren Rechnern gefüttert wurden. Die meisten Wetterlagen sind heute über eine Woche sehr zuverlässig vorherzusehen. Ein Vorbild für eine Vorhersage der Gesellschaft? Stefan Thurner:
"Vielleicht ist man da, wo man mit den Wettermodellen in den 80er Jahren war, als die absolut nicht funktioniert haben."
Doch selbst die Wettermodelle von heute können noch nicht alles fassen. Dann nämlich, wenn kleinräumige Effekte Überhand nehmen.
Es sind die Wege, die ein Gewitter an einem schwülen Julinachmittag nimmt. Zu klein sind dafür die Gewitterzellen, zu schnell entstehen sie, bevor sie sich auch schon entladen.
Der Mathematiker John Casti nennt solche Ereignisse in der Gesellschaft X-Event. Das können scheinbar unbedeutende Momente sein, die globale Auswirkungen haben:
"Ich denke nicht, dass Sie jemals ein bestimmtes Ereignis an einem bestimmten Ort vorhersagen können. Dafür gibt es viel zu viele zufällige Faktoren. Wer hätte vorhersagen können, dass der Arabische Frühling durch einen tunesischen Obstverkäufer ausgelöst werden kann, der sich selbst angezündet hat? Obstverkäufer zünden sich vermutlich immer wieder an und nichts passiert. Aber in diesem Moment stimmte der Zusammenhang. Das war der zufällige Funke, der alles entzündet hat."
Gesellschaftliche Umbrüche ähneln komplexen Phasenübergängen in der Physik
Die meisten Gesellschaften sind stabil, selbst wenn massive Ungerechtigkeit herrscht. Das kann sich allerdings schnell ändern, ohne dass es nach außen sichtbar wird. Zum Beispiel wenn Menschen gleichzeitig immer mehr Ungerechtigkeit erleben - aber vorerst weiter ihr normales Leben führen. In sozialen Netzwerken dagegen könnte der Schleier fallen. John Casti kann sich deshalb gut vorstellen, hier Zeichen für Stabilität oder Labilität zu entdecken:
"Ich glaube, Sie können herausfinden, in was für einer Landschaft wir uns gerade befinden: auf einem Berg oder Hügel, wo wir schon bald sehr schnell hinabrollen könnten. Nur zu wissen wohin wir uns dann bewegen werden, da glaube ich nicht, dass das möglich ist."
Stefan Wuchty: "Was wir da sehen: In der Physik würde man das als Phasenübergang bezeichnen."
Ein Phasenübergang ist etwa der Übergang von Eis zu flüssigem Wasser - oder von kochendem Wasser zu Dampf. Auch Wuchty aus Miami und Thurner aus Wien haben sich mit Phasenübergängen beschäftigt, Und wollen das Konzept nun auf die Gesellschaft übertragen. Stefan Thurner:
"Solche Phasenübergänge gibt es in allen dynamischen Systemen, die genügend hochdimensional sind. Gesellschaften sind genügend hochdimensional. Die haben Phasenübergänge. Aber die sind viel komplizierter. Da gibt es viel mehr Phasen als fest, flüssig und gasförmig. Und ich glaube, dass man wird vorhersagen können, in was für einer Phase sich eine Gesellschaft befindet."
Das gilt allerdings nur für Vorhersagen kollektiven Verhaltens, zu denen Demonstrationen oder militärische Offensiven gehören. Einzelne Terroranschläge dürften sich auch künftig kaum prognostizieren lassen, selbst mit den Methoden, mit denen Stefan Wuchty die nächsten Schritte des IS vorausahnen will:
"Nein. Das Problem hier ist, dass das zunächst kein Massenphänomen ist, sondern dass es nur vereinzelte Täter sind, die das machen. Auf der anderen Seite: Sowohl in Paris als auch beim Attentäter in Orlando waren diese einsamen Wölfe nicht alleine. Das heißt, was wir gesehen haben, ist, dass solche lone wolves auch solchen Gruppen wie auf VKontakte und anderen sozialen Netzwerken folgen."
Es ist eine Kernbotschaft aus Stefan Wuchtys Studie: Wer das Entstehen und wachsen extremistischer Gruppen erkennt, könnte in Zukunft die Ausbreitung deren Gedankenguts begrenzen, indem die Anhänger mit gezielten Eingriffen in soziale Netzwerke gelenkt und ausgebremst werden. Aber eigentlich ginge noch viel mehr - die gleichen Methoden ließen sich problemlos auch gegen die Gesellschaft einsetzen. Und das, meint Politikwissenschaftler Wolf Schünemann von der Universität Hildesheim, sei auch gar nicht neu:
"Wir beobachten schon seit geraumer Zeit entgegen dem mit der Internetentwicklung und der Social Media- und Web 2.0-Entwicklung verbundenen Transformationsversprechen - dem demokratischen Versprechen - das genau entgegengerichtete Phänomen, dass den autokratischen Regimen mit der Internettechnologie und der massenhaften Nutzung hervorragende Möglichkeiten zur Massenüberwachung und zur Zensur geboten werden."
Weltsimulation zum Wohle aller ein frommer Wunschtraum?
Fünf Jahre ist es jetzt her, seit sich Dirk Helbing mit dem Weltsimulator als Flaggschiff-Forschungsprojekt bei der Europäischen Union bewarb. Aus dem ehemals sprühenden Fürsprecher von FuturICT ist ein desillusionierter Forscher geworden:
"Ich glaube, der Grund für die Flagship-Entscheidung lag woanders. Es war nicht die Qualität des Projektes, die sehr hoch ist. Denn die Ideen haben sich weltweit verbreitet und sind aufgenommen worden und sind an vielen Stellen weiterverfolgt worden."
Auf einem Werbevideo von damals erscheint ein lichtdurchfluteter Kontrollraum voller Bildschirme und einer großen Weltkarte. Menschen, vermutlich kluge Staatenlenker und Forscher, versuchen gemeinsam, die Datenberge zum Wohle aller zu untersuchen. Politiker - sollte man meinen - hätten sich um Helbings Vision geradezu reißen müssen:
"Ich glaube sie haben es getan - sie haben das Ergebnis nur für sich behalten."
Die Vision des Soziophysiker ist offenbar dabei, sich in ihr Gegenteil zu verkehren. Denn was wäre, wenn in besagtem Kontrollraum Agenten eines demokratisch schlecht kontrollierten Geheimdienstes säßen - oder die Schergen eines Diktators, der schlicht seine Macht erhalten will? Und laufen nicht längst die Vorläufer eines Weltsimulators, ohne dass wir davon wissen? Dirk Helbing:
"Das ist mein Eindruck. Man hat in vielen Ländern daran gearbeitet. In den USA, in Japan, in Südkorea, in Russland, in China. Über Europa möchte ich mich nicht äußern, aber: Es ist klar, es sind überall Daten gesammelt worden, Big Data. Und was genau damit gemacht wird, das ist die andere Frage."
Geheimdienste und Regierungen versuchen die gesellschaftliche Entwicklung zu steuern
Die Arbeitsgruppe von Dirk Helbing entwickelt heute eine App, mit der Menschen freiwillig Daten für Simulationen bereitstellen können - ein winziger Teil für einen besseren Weltsimulator. Vom großen Wurf aber ist er abgerückt und warnt nun sogar davor. Die Steuerung der Gesellschaft über soziale Netzwerke sei schon viel zu weit entwickelt. Argumente liefern ihm Politikwissenschaftler wie Wolf Schünemann, der beobachtet, wie sich Regierungsarbeit im Zeitalter sozialer Netzwerke etwa in China verändert hat:
"Wenn Sie sich die Forschung in diesem Bereich anschauen, die geht eigentlich schon seit einigen Jahren davon aus, dass wir es nicht nur mit einem Abschöpfen im Sinne einer Contentregulierung und Zensur zu tun haben, sondern auch in einer neusten Generation von Zensur, wie es da bezeichnet wird, um gezielte Propaganda in diesen sozialen Netzwerken."
Die chinesische Zensur ist also längst kein reiner Maulkorb für Kritiker des Staates - sondern ein Instrument, die Gesellschaft zu beobachten und zu steuern. Wolf Schünemann:
"Dass man auf der anderen Seite dieses Ventil lässt und man sogar Regimekritik durchaus zulässt. Aber dann, wenn es wirklich zu dem kommt, was das Regime am meisten fürchten muss, greift man gezielt ein."
Im demokratischen Westeuropa scheinen solche Schritte noch undenkbar zu sein. Doch auch hier kommen sie nach Terroranschlägen zunehmend ins Gespräch. Thomas de Maizière:
"Die Sicherheitsbehörden warnen seit längerem davor, dass dem Internet und den sozialen Medien in der rechtsextremistischen Szene, aber nicht nur dort, eine hohe Bedeutung zukommt."
Wolf Schünemann: "Es ist immer schon das Interesse vom Staat und der Politik gewesen, eine gewisse Form von Medienkontrolle auszuüben."
Thomas de Maizière: "Wir müssen dabei nicht nur eine Verrohung der Sprache feststellen, sondern auch sich daraus entwickelnde Gewalttaten."
Wolf Schünemann: "Und das ist in Zeiten digitaler Medien und des Producerships - jeder kann produzieren, jeder kann veröffentlichen - ungleich schwieriger geworden als früher, diesen Content, der da minütlich produziert wird, zu filtern oder zu überwachen."
Thomas de Maizière: "Auch die Provider müssen hier ihren Teil der Verantwortung übernehmen und aktiver werden."
Ende August 2016 besuchte Thomas de Maizière die Berliner Niederlassung von Facebook - und forderte, dass das soziale Netzwerk auch mit automatischen Filtern stärker gegen Hasskommentare vorgehen solle. Wäre es da nicht viel effizienter, alle allzu populistischen Bewegungen zu bremsen, etwa mit der Methode von Stefan Wuchty?
Wuchty: "Es ist immer ein zweischneidiges Schwert. Auf der einen Seite kann man das natürlich dazu benutzen, um gegen terroristische Organisationen vorzugehen. Auf der anderen Seite kann man das auch missbrauchen. Genau genommen muss man auch sagen: Obwohl viele Menschen in Deutschland die AfD nicht mögen, handelt es sich immer noch um einen demokratischen Prozess. Und da gehört auch die freie Meinungsäußerung dazu, auch wenn uns diese Meinung nicht gefällt."
"Sie wären der größte Diktator aller Zeiten"
Letztlich zeigt sich also, dass Vorhersagen wie immer in der Menschheitsgeschichte ein Machtinstrument sind. Wer Zugriff auf einen Gesellschaftssimulator erhielte und Stimmungen, Ängste oder Euphorie einer Gesellschaft immer besser vorausahnen könnte, dem wüchse auch die Macht zu, genau diese Zukunft noch zu verändern.
John Casti: "Die Leute haben geglaubt, Dirk Helbing wollte mit seinem großen Weltsimulator solche Dinge erreichen: Wenn Sie eine wirklichkeitsgetreue Simulation der echten Welt in Ihrem Computer hätten, könnten Sie sofort alle möglichen Experimente damit starten. Und dann wüssten Sie auch, was zu tun ist, damit sich die Welt so verhält, wie Sie das wollen. Sie wären der größte Diktator aller Zeiten."
Simulationen könnten die Wirtschaft effizienter machen, politische Entscheidungen und Gesetze weitsichtiger, die Folgen von Naturkatastrophen abmildern und die Verschwendung von Ressourcen senken: Das war die Hoffnung von Dirk Helbing. Deshalb dürfen keinesfalls nur Geheimdienste und Sicherheitsbehörden über die neuen Orakel verfügen, sagt er heute:
"Ich persönlich denke, damit es am Ende gut ausgeht, braucht es Transparenz. Die Welt ist komplex und sie kann niemals aus einer einzigen Perspektive richtig erfasst werden. Und auch, wenn wir eine einzige Zielfunktion unserer Politik zugrunde legen, dann geht das am Ende schief. Es braucht einen pluralistischen Ansatz."
Es sprachen: Max von Pufendorf und Michael Evers
Ton: Martin Eichberg
Regie: Beatrix Ackers
Redaktion: Christiane Knoll
Deutschlandfunk 2016
Ton: Martin Eichberg
Regie: Beatrix Ackers
Redaktion: Christiane Knoll
Deutschlandfunk 2016