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Sport in Afghanistan
Heldengeschichten und zögerliche Verbände

Der Einmarsch der Taliban hat Afghanistans Sport von Grund auf verändert. In einer ersten Reaktion half vor allem die Zivilgesellschaft Sportlerinnen und Sportlern. Die großen internationalen Verbände müssen nachlegen, fordern Menschenrechtsaktivistinnen.

Von Tom Mustroph | 20.08.2022
Shabnam Mabarz und Khalida Popal (l.), stehen im Trikot der afghanischen Frauen-Nationalmannschaft auf einem Fußballfeld.
Shabnam Mabarz und Khalida Popal (l.), waren 2016 Mitglieder der afghanischen Frauen-Nationalmannschaft. (dpa / picture alliance / Jan M. Olsen)
Ein Jahr nach der Preisgabe Afghanistans durch den Westen an die Taliban liegt auch der Sport im Lande am Boden. Zwar gibt es Cricket-Spiele sogar vor größerem Publikum, wie man einer Meldung über eine explodierende Granate in einem Kabuler Stadion Ende Juli entnehmen kann. Cricket ist Nationalsport in Afghanistan. Aber viele andere Wettkämpfe finden nicht mehr statt.
Frauen und Mädchen, die einst Sport getrieben haben, haben aus Angst vor den Taliban sogar ihre Sportkleidung verbrannt. Sie fürchten um ihr Leben wegen ihrer Leidenschaft für Fußball.
„Eine Geschichte von einer unserer Spielerinnen: Sie rief mich per Videocall an. Sie war 22 Jahre alt, ein junges Mändchen, und sie sagte, ich habe eine Waffe in der Hand. Ich sitze am Fenster und schaue heraus. Wenn die Taliban zu unserem Haus kommen und zu suchen beginnen, werde ich mich erschießen. Ich will niemanden anderes töten, nur mich, bevor sie mich finden”, erzählt Khalida Popal im Juni auf der „Play the Game“-Konferenz.
Khalida Popal spricht auf einem Podium ins Mikrofon
Khalida Popal bei der Play-the-Game-Konferenz (Thomas Søndergaard/Play the Game)

Frauennationalmannschaft spielt in Australien

Popal hat vor einigen Jahren das afghanische Fußball-Nationalteam der Frauen mitgegründet. Nach Morddrohungen ist sie nach Dänemark geflüchtet, dort war sie auch, als die Taliban im August letzten Jahres in Kabul einmarschieren.
Gemeinsam mit einem spontan entstandenen Netzwerk von Frauen  aus Australien, Kanada und Großbritannien organisiert sie die Ausreise von mehr als 80 Personen. Die meisten von ihnen sind Fußballerinnen der Nationalmannschaft und der Nachwuchsmannschaften des Landes. Viele von ihnen leben und trainieren jetzt in Australien. Die Frauennationalmannschaft hat sich dem Klub Melbourne Victory angeschlossen und nimmt sogar am Meisterschaftsbetrieb in der Provinz Victoria teil.
Es ist eine Erfolgsgeschichte. Auf die großen Sportverbände wie FIFA und IOC konnten sich die Aktivistinnen damals allerdings nicht verlassen.
„Da war keinerlei praktische oder strategische Hilfe. Erst nachdem wir Erfolg hatten, die Spielerinnen bei der Evakuierung zu unterstützen, rührte sich die FIFA für 15 weitere Menschen. Aber zu Beginn hatten sie eine Taktik des Abwartens und Zuschauens und dachten, dass gar nichts möglich war. Und erst als ein paar unabhängige Frauen, ehemalige Sportlerinnen darunter, zeigten, dass es geht, wurden sie aktiv“, erzählt Alison Battisson, Anwältin und Gründerin der Gruppe Human Rights 4 All, die in die Evakuierung stark eingebunden war.

IOC und UCI retten Funktionäre

Das IOC nimmt für sich immerhin in Anspruch, Ausreisevisa für mehr als 300 Menschen aus der olympischen Familie Afghanistans organisiert zu haben. Wie viele Sportlerinnen und Sportler darunter waren, und wie viele Funktionäre und deren Familienmitglieder, gibt das IOC nicht bekannt. 
Unter den 165 Personen, die auf Bemühen des Weltradsportverbandes UCI das Land verlassen konnten, haben sich nach Einschätzung von Aktivisten nur wenige Sportlerinnen und Sportler befunden. Wer rechtzeitig herausgekommen ist, hat das meist allein geschafft oder mit Hilfe von kleineren Menschenrechtsorganisationen.
Zahra Hossaini etwa kommt im Zuge einer spektakulären Massenflucht der Afghanistan Human Rights and Democracy Organisation über Pakistan nach Europa. Hossaini war Radsportpionierin in der Provinz Bamiyian, im Zentrum des Landes. In einem Tal dort standen einst die größten Buddha-Statuen der Welt. 2001 sprengen die Taliban die Statuen. Genau an diesem Ort startet vor acht Jahren das erste Radrennen für Männer und Frauen, organisiert von Hossaini:
„Am 8. August 2014 hatten wir das erste Rennen mit einhundert Teilnehmern. Zehn davon waren Frauen. Alle Bewohner der Stadt wussten davon. Sie kamen an die Straßen und wollten das Rennen sehen.“

Radsportlerinnen verlassen das Land

Die Frauen und Mädchen prägen das Motto „Right to ride" – das Recht auf Fahrradfahren. Hossaini setzte sich damals sogar gegen die Mullahs durch:
„Wir hatten ein Treffen mit den Mullahs. Und sie sagten, das geht, aber ihr müsst einen speziellen Platz zum Trainieren finden. Und ich sagte: Nein. Warum sollten wir an einen besonderen Platz gehen, weit weg von allen? Wir wollen mitten in der Stadt Rad fahren, auch mit Jungs und Männern. Warum sollen wir getrennt fahren?“
Im  heutigen Afghanistan ist das undenkbar. Einige der Mädchen und Frauen, die mit Hossaini Radsport begonnen haben, haben das Land mittlerweile verlassen. Die anderen hoffen darauf, herauszukommen.
Das IOC setzt sich zwar nach eigenen Angaben dafür ein, dass die Taliban Frauen und Mädchen sportliche Betätigung wieder erlauben. Es geht auch von einem gemischten afghanischen Team für die Olympischen Spiele 2024 in Paris aus. Das sagte ein IOC-Sprecher dem Deutschlandfunk. Aber die Gegenwart ist düster, auch für den Sport.

"Junge Sportlerin als Heiratsobjekt unglaublich attraktiv"

Die Menschenrechtsaktivistin Alison Battisson fordert von Verbänden wie IOC und FIFA vor allem seriöse Anstrengungen, Athletinnen und Athleten herauszuholen:
„Sie haben bereits Prozeduren, wie sie Personen aus Risikoländern herausholen können. Sie haben das ganz sicher für Funktionäre und Manager, die in Risikogebiete fliegen. Das sollten sie auf Spielerinnen und Spieler ausweiten.“
Parallel dazu sollten sie sich Expertise einholen, wie Sportlerinnen und Sportlern vor Ort geholfen werden kann. Einfach nur Geld hinschicken reiche da nicht, betont Battisson:
„Sportlerinnen sind meist jünger. Eine junge Sportlerin mit Geld wird als Heiratsobjekt dann unglaublich attraktiv“, befürchtet die Menschenrechtsaktivistin.