Am Anfang liegt alles im Nebel.
"Wie eine Wand steht er dort, wo der Strand beginnt. Immer suche ich nach einem gegenüberliegenden Ufer, das mir Halt geben könnte, aber bis auf Meer und Himmel ist da nichts. An diesigen Tagen verschwimmt selbst diese Grenze."
"Wie eine Wand steht er dort, wo der Strand beginnt. Immer suche ich nach einem gegenüberliegenden Ufer, das mir Halt geben könnte, aber bis auf Meer und Himmel ist da nichts. An diesigen Tagen verschwimmt selbst diese Grenze."
Als der Nebel sich dann lichtet, ist der Himmel so blau, dass es Angst macht. Die Sonne verbrennt das Gras. Möwen stürzen mit angekohltem Gefieder in den Garten. Kaninchen, Pferde, Füchse bleichen aus, bekommen rote Augen und verschwinden als weiße Gespenster im Gebüsch. Wie überleben die Menschen in dieser postapokalyptischen Landschaft am Rand der Welt?
Möwen stürzen vom superblauen Himmel
Die 25 Jahre alte Helene Bukowski hat angeblich mehrere Wochen in einer abgeschiedenen Hütte in Niedersachsen verbracht, um sich in diese Einsamkeitsatmosphäre hineinzuphantasieren. Ihr Debütroman "Milchzähne" ist aber in einer nördlichen Gegend angesiedelt, die durch die Klimakatastrophe in eine karge, ausgedörrte Steppe verwandelt wurde. Hier entfaltet Bukowski ihre Geschichte, die sich ebenso als düstere Dystopie lesen lässt wie als abenteuerliche Robinsonade. Die totale Isoliertheit der Szenerie erinnert an Marlen Haushofers berühmten Roman "Die Wand", in dem die Heldin in einer Berghütte durch eine undurchdringliche Glaswand vom Rest der Welt abgetrennt wird. In "Milchzähne" ist die Landschaft ähnlich abweisend und unzugänglich:
"Ich zeigte auf umgestürzte Bäume, die Landlinie am Horizont, Ackersenf, echtes Eisenkraut, Moschus, Malve. Wie die Feldsteine zu unverrückbaren Formationen gestapelt waren. Ich tat, als gäbe es nichts mehr zu befürchten. Wenn die Sonne höher stieg, flüchteten wir ins Haus. Gegen die Hitze hängte ich in den Räumen nasse Tücher auf, doch selbst das half kaum. Die Vorhänge ließen wir den ganzen Nachmittag geschlossen und dösten im Dämmerlicht vor uns hin."
"Ich zeigte auf umgestürzte Bäume, die Landlinie am Horizont, Ackersenf, echtes Eisenkraut, Moschus, Malve. Wie die Feldsteine zu unverrückbaren Formationen gestapelt waren. Ich tat, als gäbe es nichts mehr zu befürchten. Wenn die Sonne höher stieg, flüchteten wir ins Haus. Gegen die Hitze hängte ich in den Räumen nasse Tücher auf, doch selbst das half kaum. Die Vorhänge ließen wir den ganzen Nachmittag geschlossen und dösten im Dämmerlicht vor uns hin."
Mutter und Tochter vegetieren in der Hitze vor sich hin
Die Landschaft ist so karg wie die Sprache, in der Bukowskis Ich-Erzählerin davon spricht. Skalde ist ein Mädchen, das bei seiner Mutter Edith aufwächst. Als sie rückblickend ihre Geschichte erzählt, ist sie vielleicht fünfzehn oder auch achtzehn Jahre alt, zu Beginn noch ein kleines Kind. Haus und Garten darf sie nicht verlassen, die Fenster sind mit schwarzem Papier verklebt, denn draußen, hinter der Brombeerhecke, lauert die Gefahr. "Wenn sie kommen, dann knall ich sie ab", sagt Skaldes Mutter Edith, ohne zu erklären, wer "sie" sind: die spärlichen und weit verstreuten Nachbarn? Die ausgebleichten Tiere? Oder die Gestalten der eigenen Phantasie?
Überall gilt es, Grenzen zu ziehen und zu unterscheiden zwischen Drinnen und Draußen, zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Skaldes Mutter Edith kam selbst vor langer Zeit als Fremde in diese Gegend, in der es unausgesprochene Pflicht ist, sich den Konventionen und Regeln anzupassen. Die gesellschaftlichen Zwänge sind stark, auch wenn die Menschen sich nur selten begegnen. So ist Skaldes Mutter Edith sie ebenso roh, brutal und misstrauisch geworden wie all die anderen, die gelernt haben, "Abweichungen auch mit geschlossenen Augen zu bemerken", wie es im Roman heißt.
Überall gilt es, Grenzen zu ziehen und zu unterscheiden zwischen Drinnen und Draußen, zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Skaldes Mutter Edith kam selbst vor langer Zeit als Fremde in diese Gegend, in der es unausgesprochene Pflicht ist, sich den Konventionen und Regeln anzupassen. Die gesellschaftlichen Zwänge sind stark, auch wenn die Menschen sich nur selten begegnen. So ist Skaldes Mutter Edith sie ebenso roh, brutal und misstrauisch geworden wie all die anderen, die gelernt haben, "Abweichungen auch mit geschlossenen Augen zu bemerken", wie es im Roman heißt.
Irgendwo da draußen lauert unsichtbar Gefahr
Auch das Verhältnis von Mutter und Tochter ist von Misstrauen und Gewalt geprägt. Der Feind lauert überall. Die Angst vor dem Fremden beginnt mitten in der eigenen Familie. Auch der seltsame Titel "Milchzähne" erklärt sich so. Für Skalde ist es ein Mysterium, als sie eines Tages einen Milchzahn verliert. Wie eine Perle legt sie ihn behutsam in ihre Hand, doch ihre Mutter reagiert abweisend, ja schroff. Erst viel später begreift Skalde, dass Milchzähne ein biologisches Merkmal sind, um Einheimische und Zugewanderte zu unterscheiden. Das gilt auch für Mutter und Tochter – und so beginnt mit dem Verlust der Milchzähne Ediths Feindschaft gegen die eigene Tochter.
Man kann diesen beklemmenden Roman von Helene Bukowski als Parabel auf all die Überfremdungsängste der Gegenwart lesen, als Märchen vom Zivilisationsverlust, der zwangsläufig auf die Selbstisolation folgt – oder als archaisch anmutende Vision von Klimawandel und Überlebenskampf. Das wäre schwer erträglich, wenn es nicht mit dem Mädchen Skalde auch einen wärmenden Gegenpol der Hoffnung gäbe – und mit ihr die Sehnsucht, aus der Enge dieser absterbenden Welt herauszufinden. "Milchzähne" ist so gesehen auch ein Roman über das Erwachsenwerden, wenn Erwachsenwerden bedeutet, der Enge der Welt, in der sich das Kind vorfindet, zu entkommen.
In Skaldes Fall geschieht das zunächst und vor allem über die Sprache und über Bücher. Sie lernt lesen und schreiben, einzelne Worte zunächst – Haus, Hund, Wald – dann ganze Sätze. Die Zettel mit ihren Notizen versteckt sie vor ihrer Mutter unter Holzdielen, im Keller und auf dem Dachboden.
Schreiben, um zu überleben und als Akt des Widerstands
"Jeden Tag kamen weitere dazu. Als der Platz nicht mehr ausreichte, suchte ich mir neue Orte, immer darauf bedacht, dass Edith sie nicht entdeckte. Nach einer Zeit hatte ich das Gefühl, das Haus bestünde nur noch aus meinen Sätzen. es kam mir vor, als wären sie unter der Oberfläche der Dinge zu sehen, bereit, jeden Moment hervorzubrechen."
Am Ende, als sie zu erzählen beginnt, sammelt sie diese Zettel wieder ein und rekonstruiert daraus die Geschichte der vergangenen Jahre. Unmittelbarkeit des Erlebten und Distanz des Rückblicks verbinden sich in diesem Bericht, der auch und gerade wegen dieser sprachlichen Ebene der Selbstfindung und des Widerstands gegen die gewalttätige Erwachsenenwelt an Agota Kristofs "Das große Heft" erinnert.
Am Ende, als sie zu erzählen beginnt, sammelt sie diese Zettel wieder ein und rekonstruiert daraus die Geschichte der vergangenen Jahre. Unmittelbarkeit des Erlebten und Distanz des Rückblicks verbinden sich in diesem Bericht, der auch und gerade wegen dieser sprachlichen Ebene der Selbstfindung und des Widerstands gegen die gewalttätige Erwachsenenwelt an Agota Kristofs "Das große Heft" erinnert.
Mit der Sprache weitet sich der Blick. Lesen weckt die Sehnsucht nach Welt. Damit ist in Skalde auch sehr rasch der Wunsch gewachsen, sich dem mütterlichen Verbot, Haus und Garten zu verlassen, zu widersetzen. Im Wald findet sie ein rothaariges Mädchen und bringt es mit nach Hause – eine Grenzübertretung mit fatalen Folgen. Denn es ist klar, dass die Nachbarschaft dieser archaischen Gesellschaft die Fremde nicht dulden wird. Jetzt zeigt sich, wer die immer nur als "sie" Bezeichneten sind. Wie im Wilden Westen fahren Männer mit Pickups und Flinten vor, um Jagd auf das fremde Kind zu machen. Diese reale Bedrohung führt immerhin dazu, dass die Mutter in ihrer paranoiden Angst und die Tochter in ihrer natürlichen Hilfsbereitschaft vorübergehend zusammenhalten.
Plötzlich fahren Männer mit Flinten vor
Helene Bukowski hat für ihren Debütroman einen kristallklaren Ton gefunden. Ihre Ich-Erzählerin schreibt kurze Sätze, die häufig nur aus Subjekt, Objekt, Prädikat bestehen, die aber gerade in ihrer Schlichtheit eine magische Schönheit entwickeln. Die knappen Kapitel sind nur wenige Seiten lang, manchmal sind es auch nur einzelne Beobachtungen, Gedanken, Poeme, wie Skalde sie auf ihren versteckten Zetteln festgehalten hat. In ihren Aufzeichnungen wächst sie mit all ihren Ängsten, ihrer Lebenszugewandtheit und ihrer Unwissenheit zu einer starken, herzergreifenden Persönlichkeit heran. Jeder einzelne Moment, den sie erlebt, ist konkret und sinnlich erlebbar. Die ganze Geschichte aber bleibt geheimnisvoll und mehrdeutig. Das überzeugt schon deshalb, weil Form und Inhalt in diesem beeindruckenden Debüt vollkommen übereinstimmen und weil es darin kein Wort zu viel und keins zu wenig gibt.
Helene Bukowski: "Milchzähne"
Verlag Bumenbar, Berlin. 224 Seiten, 20 Euro.
Verlag Bumenbar, Berlin. 224 Seiten, 20 Euro.