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Helene Hegemann: "Bungalow"
Nichts ist lustiger als das Unglück

Die Menschheit bereitet sich auf einen großen Krieg vor - und mittendrin kämpft die 13-jährige Charlie auf ihre Art ums Überleben. Helene Hegemann orientiert sich in ihrem dritten Roman „Bungalow“ am absurden Theater, bringt ihre Erzählerin an die Schmerzgrenze und ihre Leser an die menschlichen Abgründe.

Von Tanya Lieske | 25.10.2018
    Buchcover: Helene Hegemann: „Bungalow“
    Hat in ihrer Kindheit viel Zeit am Theater verbracht: Helene Hegemann (Buchcover: Hanser Verlag; Foto: David Kohlruss)
    "Nichts ist komischer als das Unglück", heißt es in Samuel Becketts Theaterstück "Endspiel". Wir erinnern uns, da sind Hamm und Clov, Herr und Bediensteter, die einander hassen bis aufs Blut. Außerdem die Eltern Nell und Nagg, von der Hüfte abwärts gelähmt stecken sie in Mülltonnen. Sonst gibt es nicht mehr viel. Die Welt da draußen ist dunkel und tot, die vier scheinen die einzigen Überlebenden einer großen Katastrophe zu sein.
    Man kann "Endspiel", Samuel Becketts Einakter aus dem Jahr 1956, gut als Beginn der modernen dystopischen Literatur lesen, die uns in jüngerer Zeit viele interessante Stücke beschert, im Roman wie auf der Bühne. Helene Hegemann, die 1992 geborene Autorin, Regisseurin und Schauspielerin, verdankt vieles in ihrem künstlerischen Werdegang dem Theater.
    "Bungalow" heißt ihr jüngster, ihr dritter Roman, und auch hier scheint eine Art Endzeit angebrochen. Das wird schon klar im ersten Satz des Romans:
    "Ich war siebzehn, wir durften das Haus nicht verlassen wegen Ozonwarnung, Hitzefrei für Erwachsene."
    Dystopie im nirgendwo und überall
    Eine Klimakatastrophe also, aber auch Krieg; später werden Bomben explodieren. Doch zunächst gibt es ein großes, unmotiviertes Sterben. Es sterben Tiere: Hamster, Kaninchen, Ratten, ein Waschbär. Dann die Menschen, es steigt die Anzahl der Selbstmorde in der nicht näher benannten Stadt, die der ehemaligen Metropole Berlin in vielen Ansichten gleicht. Dieser Roman spielt in einer Art futuristisch verschobener Jetztzeit.
    "Die Stadt, aus der wir kommen, ist austauschbar. Genau so wie das Land, in das wir später geflohen sind. Es ist auch egal, wie alt ich jetzt bin und ob ich ein Körperteil verloren habe oder nicht. Ich habe inzwischen Kinder. Eins von ihnen wird übermorgen sechs. Mit sechs begann ich, mich an Sachen zu erinnern. Da fängt das hier jetzt an."
    Eine noch junge Erzählerin blickt in diesem Roman zurück auf ihr noch jüngeres Ich. Es ist Charlie die da spricht, eigentlich Charlotte, nach der Filmschauspielerin Charlotte Rampling benannt, doch den Namen findet die 13jährige Charlie peinlich. In vieler Hinsicht ist sie abgeklärt, blickt aus einer Distanz auf sich selbst, die ihr unbeteiligt klingende Schilderungen ermöglicht:
    "Falls jemanden interessiert, wie ich zu diesem Zeitpunkt ausgesehen habe, mittelmäßig, dünn genug, dass mir fremde Männer auf der Straße zuzwinkerten, Hautunreinheiten beschränkten sich auf die Stelle neben meinem rechten Mundwinkel, um den sich, wenn ich meine Tage kriegte, in einem Rechteck von zwei Quadratzentimetern Eiterpickel ausbreiteten, kein Arsch, keine Titten, Jungskörper, was mir gefiel."
    Mehr als ein Coming-of-age-Roman
    Pickel, Jungs, Arsch und Titten – man könnte vermuten, dass es sich um einen Coming-of-age-Roman handelt, in dem die erste Liebe, der erste Sex und der erste Suff eine Rolle spielen.
    Das kommt in der Tat alles vor, doch die Vektoren dieses Romans zeigen in eine andere Richtung. Charlie ist bis zum Rand des Machbaren damit beschäftigt, in einer für sie erdrückenden Zweierbeziehung zu überleben. Sie wohnt mit ihrer Mutter in einer Neubauwohnung in einer Hochhaussiedlung. Die Mutter leidet an einer nicht näher benannten bipolaren Störung. Meistens ist sie, die Mutter, im Suff; der Kühlschrank ist immer leer, die Wohnung verwahrlost und Charlie schaltet in den Überlebensmodus. Sie liebt und hasst ihre Mutter, sie sorgt für sie und weiß doch, dass sie zugrunde gehen wird, wenn sie bei ihr bleibt. Manchmal ist das Geld alle, dann muss Charlie Zucker mit Schnittlauch essen und Nahrungsmittel suchen, in Mülltonnen.
    Immer ist Charlie darauf bedacht, dass niemand da draußen etwas merkt. Die Scham ist das größte der hier beschriebenen Gefühle, die alle verzweifelter Natur sind. So kauft Charlie zu Beginn des Romans von ihrem ersten Taschengeld Kekse und verteilt diese auf dem Spielplatz, angeblich hat ihre Mutter gebacken:
    "Die Erwachsenen grinsten nur gönnerhaft oder erklärten mir, dass man nicht lügen darf. Trotzdem hörte ich nicht auf. Der Vorgang kam mir wie die Widerlegung der in der Nachbarschaft kursierenden Annahme vor, dass meine Mutter nicht mehr fähig sei, sich selbst und ihr Leben zu organisieren. Seht her, ihr Idioten, die hat was gebacken. Das sollten die Leute glauben, und obwohl sie das nicht taten, beruhigte es mich irgendwie."
    Perfekt inszenierter Albtraum
    Helene Hegemann, oder genauer, ihre Erzählerin, geht gerne bis zur Schmerzgrenze. Selten hat man so genau gelesen, zu wieviel Durchhaltevermögen und Liebe Kinder ihren Eltern gegenüber fähig sind. Der Erzählton bleibt dabei drastisch und leicht unterkühlt, weder Kitsch noch Sentiment haben eine Chance. Die entsprechenden Passagen könnten zu einem Roman gehören, der der sich der sozialen Realität verschrieben hat. Durch das Prisma der apokalyptisch konnotierten Umwelt gesehen, wirkt diese Milieustudie aber verzerrt: Es ist der perfekt inszenierte Albtraum. Wenn man mit steigender Intensität weiter liest, hat das viel mit der kühlen Präzision dieser Inszenierung zu tun. Hier isst Charlies Mutter im Vollrausch ein rohes, bereits vergammeltes Biohühnchen :
    "Ihre Augen traten hervor, sie stöhnte, kaute weiter, schluckte eins der Gummibänder runter, röchelte, kaute weiter. Ich versuchte mich lautlos hinter sie zu schleichen und blieb starr mit angehaltenem Atem hinter ihrem Rücken stehen. Fünf oder zehn Minuten vergingen, bis sie mich bemerkte und sich zu mir umdrehte. Ihr Schrei war völlig unkontrolliert, zum ersten Mal in der Geschichte unserer durch Abstammung begründeten Lebensgemeinschaft schien sie in mir nicht ihr Kind, sondern einen Angreifer in alttestamentarischer Rächerpose zu sehen."
    Der Roman "Bungalow" verdankt viel dem genauen, am Theater geschulten Blick der Autorin, seiner szenischen Auflösung, den verbalen Pointen, den ins Nichts gerichteten Gesten der Protagonisten, die tatsächlich an das absurde Theater eines Samuel Beckett erinnern. Auch in der Wirkung, wir lachen, um uns selbst zu retten. Charlie hingegen aktiviert ihre eigenen Fliehkräfte. Als sie dreizehn Jahre alt ist, zieht in einen der Bungalows, die der Hochhausreihe gegenüber stehen, und die dem Roman seinen Titel geben, ein neues Paar ein. Es sind Georg und Maria, Schauspieler beide, Theaterleute, Bohemiens: für Charlie kommen sie aus einer anderen Welt. Charlie fängt an, die beiden zu stalken, und irgendwann geben sie nach. Das geschieht allerdings nicht aus Zuneigung.
    "'Brauchst du denn irgendwas?', fragte sie.
Ich musste stehen bleiben, weil ich mich nicht mehr bewegen konnte. Wahrscheinlich wegen dieser Frage. Ob ich irgendwas bräuchte. 'Aus dem Supermarkt, meine ich. Musst du da sowieso hin? Zum Supermarkt? Brauchst du irgendwas?' Ich fing an zu heulen. Machte, glaube ich, nicht mal Geräusche dabei. Maria ging ein bisschen in die Hocke, sodass ihr Gesicht auf der Höhe von meinem war. Sie nahm meine Hand. Das war ein Reflex, es ging dabei nicht im Geringsten um mich. Sie mochte mich nicht. Wenn ein Kind heult, muss ein Erwachsener es trösten, sie war reaktionsschnell. Sie nahm mich mit in den Supermarkt, ich heulte weiter, sie sagte nichts."
    "Ich habe meine Seele verkauft"
    Charlie hat das Kind in sich schon zurück gelassen. Mehrfach beobachtet sie Maria und Georg beim Sex, dann fängt sie selbst an, die beiden zu begehren. Da der Roman Bungalow im Rückblick und in einer leicht verschobenen Chronologie erzählt ist, erfährt man am Anfang, was sich am Schluss ereignet haben muss. Maria und Georg geben nach, sie lassen Charlie in ihr Leben, auch für den Sex. Ebenfalls weiß man: Es wird Charlie gelungen sein, sich auch aus dieser Schwärze zu retten.
    "Ich schreibe das in einen Stapel Notizbücher, die ich auf dem Antiquitätenhaufen am Strand gefunden habe. Ich schreibe das für mich, ich weiß nicht, wer diese Geschichte außer mir zu Ende lesen soll. Ich habe ihnen meine Seele nicht hinterhergeschmissen, ich habe sie ihnen verkauft. Warum man so etwas tut, seine Seele verkaufen, warum ich das getan habe? Weil sie anders waren. So hübsch und alleine und gefährlich wie Wölfe."
    Kein Zweifel, Helene Hegemanns dritter Roman "Bungalow" kann verstören. Zugleich ist er, in seiner Hybridfunktion zwischen sehr verschiedenen Genres, äußerst gelungen. Hegemann verschiebt ständig ihre eigenen Kulissen und zeigt, was Literatur leisten kann: Abgründe nicht nur zu behaupten, sondern sie um uns herum zu errichten. Sie werden beim Lesen Wirklichkeit, denn wir sind dann dort gewesen. Und kehren, auch das sei gesagt, unbeschadet zurück. Wie heißt es so schön bei Beckett: "Meine Stücke sind nur Spiel. Erst andere Leute haben daraus Ernst gemacht."
    Helene Hegemann: "Bungalow"
    Hanser Berlin, Berlin. 288 Seiten, 22 Euro.