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Helga Schubert: "Vom Aufstehen"
Vom Hinfallen und Wiederaufstehen

Die Autorin Helga Schubert hat viel erlebt, auch Demütigungen in der DDR. Nach dem Mauerfall geriet sie etwas in Vergessenheit. Im letzten Jahr aber gewann Schubert mit 80 Jahren den Bachmann-Preis mit einem sehr persönlichen Text über ihre Mutter. Diese und andere Lebensbilanzen versammelt ihr Erzählband.

Von Peter Henning |
Buchcover zu Helga Schuberts Buch "Vom Aufstehen"
"Vom Aufstehen"- Das neue Buch der Bachmann-Preisträgerin Helga Schubert (dtv )
Das eigene Leben in knapp dreißig Erzählungen bannen – ja, das wäre was!
Das neue Buch der aktuellen Bachmann-Preisträgerin Helga Schubert unternimmt scheinbar - rein formal betrachtet - einen solchen Versuch. Tatsächlich aber ist die 1940 in Berlin Geborene viel zu klug, um zu glauben, ein solches Vorhaben könne auch nur ansatzweise gelingen - ist der eigene Lebensroman doch bekanntlich viel zu komplex und zu ausufernd, als dass man ihm in Form einiger Episoden beikommen könnte!
Der Norweger Karl-Ove Knausgard hat es zwar auf Tausenden von Buchseiten ebenso versucht wie der Schweizer Schriftsteller Paul Nizon in Form seiner raumgreifenden "Journale". Am Ende aber haben beide doch nur - wenn auch stellenweise durchaus mitreißend - Mitschriften des eigenen Alltags vorgelegt.
Entsprechend sollte man Helga Schuberts Buch "Vom Aufstehen" eher als kleinen Rundgang durch das Museum ihrer Erinnerungen verstehen – und die herausgehoben behandelten Bilder und Momentaufnahmen ihrer Vita als besondere Mark- und Verweilpunkte begreifen über denen unsichtbar geschrieben steht: "So oder so ähnlich bin ich zu der geworden, die ich heute bin!"

Rundgang durch das Museum ihrer Erinnerungen

"Zum Schreiben gehören das Hinsehen und das Erschrecken. Dass in der Welt der Menschen nichts einfach gut oder böse ist. Dass jeder, auch die, die schreiben, gut und böse ist, erschöpft und wach, verzeihend und nachtragend, hasserfüllt und liebend, verletzend und verwundbar."
Was Helga Schubert hier scheinbar ganz allgemein über das Schreiben sagt, bezeichnet treffend auch den Charakter ihrer vorliegenden Erzählungen. Denn sie alle sind durchwirkt von eigenen Empfindungen – und gehorchen der moralischen Dialektik von Gut und Böse.
Bachmann-Preisträgerin Helga Schubert - "Ich musste 80 werden, um das schreiben zu können"
Die Autorin Helga Schubert hat viel erlebt, auch Demütigungen in der DDR. Nach dem Mauerfall geriet sie etwas in Vergessenheit. Im letzten Jahr aber gewann Schubert mit 80 Jahren den Bachmann-Preis mit einem sehr persönlichen Text über ihre Mutter. Diese und andere Lebensbilanzen versammelt ihr Erzählband.
Trotz dieses ethischen Grundtons behandelt Schubert ihren vor uns in Einzelgeschichten angeblendeten eigenen Lebensstoff aus der Distanz einer Beobachterin, die nicht in der Gefahr steht, in den Kitsch oder die Selbstbeweihräucherung abzugleiten – wie sie Autobiografen sonst nur allzu leicht erliegen. Denn wann immer sie "Ich" sagt, tut sie dies mit dem abgeklärten Blick der Älteren auf die jüngere Version ihrer selbst.
Als 1940 Geborene war Schubert ein Kriegskind, hat Flucht und Vertreibung erlebt, verlor früh den Vater an der Front - und suchte fortan ihren Platz in der Familie und in der Welt. Mal bei der eigensinnigen Mutter - mal bei der ihr Geborgenheit spendenden Großmutter.
"Mein idealer Ort ist eine Erinnerung. An das Aufwachen nach dem Mittagsschlaf in der Hängematte im Garten meiner Großmutter und ihres Freundes (mein alter Freund, sagt sie) in der Greifswalder Obstbausiedlung am ersten Tag der Sommerferien.
Ich lag im Schatten, und es war ganz still. Und es duftete nach dem warmen Kuchen. Am gedeckten Kaffeetisch. Bis zum Ende des Sommers. So konnte ich alle Kälte überleben. Jeden Tag. Bis heute."

Das Glück ist ein Damals bei den Großeltern

2. Weltkrieg. Deutsche Teilung. Der mühsame Alltag in der DDR. Staatssicherheit und die Wende 1989: All das macht Helga Schubert in ihren Texten noch einmal für sich und uns begreifbar – betrachtet durch das Brennglas ihrer eigenen Biographie.
So flirrt ein halbes Jahrhundert deutscher Historie an uns vorüber – verdichtet zu einer ganz persönlichen Chronik des Hinfallens und wieder Aufstehens.
"Sie wollte, dass ich über sie eine Geschichte schreibe. Hast du mit der Geschichte nun endlich angefangen, fragte sie mich, als sie schon über hundert war. Aber wie sollte ich über sie schreiben, als sie noch lebte?"
Helga Schubert hat die von ihrer Mutter gewünschte Mutter-Geschichte am Ende dann tatsächlich geschrieben – und wurde 2020 dafür mit dem Ingeborg Bachmann-Wettbewerb ausgezeichnet, was ihr eine späte Wiederentdeckung als Autorin bescherte. Denn zuletzt war es stiller um die ehemalige DDR-Schriftstellerin geworden, die im Honecker-Staat hauptberuflich als Psychotherapeutin arbeitete – und als Pressesprecherin des auf Initiative der Bewegung "Demokratie jetzt" ins Leben gerufenen "Zentralen Runden Tisches" die ersten freien Wahlen der Volkskammer im Osten mit vorbereitet hat.
Als Titelgeschichte ihrer Erzähl-Sammlung liegt das jahrzehntelang im Stillen gereifte Porträt ihrer Mutter nun in gedruckter Form vor. Und es ist beeindruckend, wie leichthändig Helga Schubert es darin gelingt, das ganze Ausmaß ihrer lebenslang schwierigen Beziehung zur Mutter fühlbar zu machen ohne anklagend zu sein.
Sie zeigt, ohne zu werten. Lässt das Erzählte für sich selbst sprechen.
"Etwas erzählen, das nur ich weiß. Und wenn es noch jemand liest, weiß es noch jemand. Für die wenigen Minuten, in denen er die Geschichte liest. In der unendlichen, eisigen Welt."

Wie kann man eine solche Mutter lieben?

In diese ihre Empfindungswelt entführt Helga Schubert uns nun mit ihrem Erzählungsband. Darüberhinaus verdichten sich die dreißig versammelten Prosastücke am Ende auch zu so etwas wie der Chronik einer Vergebung - hatte die Mutter ihre Tochter doch jahrelang mit bösartigen Sprüchen gequält, indem sie immer wieder vorgab, sie habe sie eigentlich abtreiben wollen.
Später, auf ihrer Flucht vor der russischen Armee, plante sie dann, ihre kleine Tochter irgendwo alleine zurückzulassen. Ja, sie spielte sogar mit dem Gedanken, die kleine Helga angesichts der anrückenden Russen zu vergiften.
Wie, so fragt man sich unwillkürlich als Leser, kann eine Tochter einer derart grausamen Mutter später ohne Verachtung begegnen, ja, sie lieben?
Helga Schubert gelingt es, ihrer in ihren Texten wiederholt auftretenden Mutter zu vergeben, indem sie diese vor dem Hintergrund der damals herrschenden Umstände zu verstehen sucht.
So scheinen die in ihrer Kindheit erlebten Schrecken formal gebannt - in den Texten selbst aber bleiben sie spürbar.
"Wahrheit lässt sich nicht zeigen, nur erfinden!"
Mit dieser Wendung umschrieb einst der Schweizer Schriftsteller Max Frisch sein poetologisches Programm.
Helga Schubert hat es im Vorliegenden auf das Schönste für sich adaptiert. Denn auch wenn vieles darin bloße Fiktion zu sein scheint – so wirkt es doch glaubhafter als so manche sogenannte Wahrheit.
Helga Schubert: "Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten"
dtv Verlag, München 2020. 222 Seiten, 22 Euro.