Die allererste Phase der Corona-Pandemie hat Deutschland hinter sich und steht trotzdem noch am Anfang, so hat es Kanzlerin Angela Merkel ausgedrückt als sie die Corona-Lockerungen bekannt gegeben hat. Bei der Bund-Länder-Runde haben sich die Bundesregierung und die Ministerpräsidenten der Länder darauf verständigt, dass die Kontaktbeschränkungen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie bis zum 5. Juni in Kraft bleiben. Zeitgleich wurden aber auch einige Lockerungen beschlossen. So dürfen sich künftig Mitglieder zweier Haushalte in der Öffentlichkeit treffen.
Und unter gewissen Auflagen sollen deutschlandweit auch Geschäfte und Restaurants wieder öffnen können. Deutschland fährt den Betrieb also wieder hoch. Doch viele fragen sich auch, ob das nicht zu riskant ist und wer eigentlich noch den Überblick beim Krisenmanagement hat, das sich von Bundesland zu Bundesland unterscheidet. Denn Sonderregelungen der Länder bleiben bestehen.
"Föderale Ordnung ist gut"
Das sei auch richtig so, denn die Zuständigkeit für die Beschränkungen des allgemeinen Lebens liege bei den Ministerpräsidenten, sagte Helge Braun, Chef des Bundeskanzleramtes, im Dlf. "Die Föderale Ordnung ist eine gute Ordnung."
Das sei nicht neu, und man habe immer ein gemeinsames Vorgehen vereinbart, wie bei der Frage der Kontaktbeschränkung. "Die wollen wir auch weiter gemeinsam besprechen."
Die Zahlen seien nach einer ersten kleinen Öffnung sehr stark runtergegangen – und deshalb könne jetzt nach landesspezifischen Besonderheiten das eine oder andere Land weitere Schritte selbst entscheiden.
"Wir hoffen, dass wir die Zahlen sehr niedrig halten können, auch wenn wir zu einem etwas normaleren Leben zurückkehren", so Braun.
Helge Braun: "Leben mitten in einer Pandemie"
Derweil warnt die WHO vor den Folgen eines zu laxen Umgangs mit den Vorsichtsmaßnahmen bei der Rückkehr in den Alltag. "Es besteht nie Anlass zur Sorglosigkeit", sagte Braun mit Blick auf Deutschland. Deshalb sei diese Mahnung sehr wichtig. "Wir leben nicht nach der Pandemie, sondern mitten in einer Pandemie."
Und diese werde uns auch mindestens noch dieses Jahr begleiten. Daher müsse ein Zustand erreicht werden, den man lange aushalten könne.
COVID-19-Pandemie: Sorge vor dem Reisen
Die deutsche Bevölkerung habe sich vorbildlich verhalten, darum beneide uns Europa, sagte er. Dass die Infektionszahlen sich so deutlich reduziert haben, sei ein Verdienst der Bevölkerung. "Dann können wir uns auch etwas zutrauen, nicht übermütig, aber in weiteren Schritten."
Seine Sorge gelte aber dem Thema Geselligkeit und Reisen. "Wenn man zurückschaut, kann man sehen, dass genau da die großen Ansteckungsgefahren lauern."
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Sarah Zerback: Musste sich die Kanzlerin gestern vor den sehr forschen, um nicht zu sagen zu forschen Länderchefs und Chefinnen geschlagen geben?
Helge Braun: Nein. Die Zuständigkeit für die Beschränkungen des allgemeinen Lebens lag und liegt bei den Ministerpräsidenten, bei den Bundesländern, und insofern ist da jetzt gar nichts neu. Wir haben in den Ministerpräsidentenkonferenzen immer ein gemeinsames Vorgehen vereinbart. Das gilt auch weiter. Alle ganz wesentlichen Punkte wie zum Beispiel die Frage der Kontaktbeschränkungen, die wollen wir auch weiter gemeinsam besprechen. Aber wir sind jetzt in einer Lage, wo wir nach einem ersten größeren Öffnungsschritt gesehen haben, dass die Zahlen weiter sehr stark runtergegangen sind, und deshalb kann jetzt nach landesspezifischen Besonderheiten auch das eine oder andere Land weitere Schritte selbst entscheiden. Das hat man ja auch in den letzten Tagen gemerkt, dass in unterschiedlichen Ländern unterschiedliche Situationen entstanden sind. Das kann man jetzt akzeptieren, weil wir auch unseren öffentlichen Gesundheitsdienst, unser Meldewesen gut vorbereitet haben, dass wir hoffen, dass wir die Zahlen sehr niedrig halten können, auch wenn wir zu einem etwas normaleren Leben zurückkehren.
"Es ist in der Tat nie Anlass zur Sorglosigkeit"
Zerback: Gleichzeitig haben wir gestern noch die Nachricht bekommen von der WHO, der Weltgesundheitsorganisation. Die warnt vor den Folgen eines zu laxen Umgangs mit Vorsichtsmaßnahmen bei der Rückkehr in den Alltag und sagt, da besteht das Risiko, dass wir dann ganz schnell wieder Richtung Lockdown, Shutdown kommen müssen. Können Sie da dem WHO-Direktor die Sorge in Bezug auf Deutschland wirklich nehmen?
Braun: Ich glaube, es ist in der Tat nie Anlass zur Sorglosigkeit, und deshalb ist die Mahnung sehr wichtig. Wir leben nicht jetzt nach der Pandemie, sondern wir leben mitten in einer Pandemie, aber auch eine, die uns noch eine ganze Weile begleiten wird. Ganz optimistisch gesprochen mindestens mal dieses Jahr. Deshalb müssen wir einen Zustand jetzt erreichen, wo wir sagen, das können wir auch auf eine solche lange Distanz durchhalten, und deshalb ist es richtig, dass wir in weiten Teilen so was wie eine Normalität wieder finden. Aber das Thema Abstand halten, das Thema, die Kontakte möglichst zu beschränken, das wird uns über die ganze Zeit begleiten.
Meine Sorge – und das haben wir gestern auch in der Ministerpräsidentenkonferenz im Hinblick auf deren weitere Entscheidungen deutlich gemacht – zielt sehr stark auf das Thema Geselligkeit und Reisen ab, weil wenn man zurückschaut, kann man sehen, dass genau da die großen Ansteckungsgefahren lauern. Wo Geselligkeit herrscht, da finden die größeren Ansteckungen statt, und das Reisen ist natürlich etwas, was dann die Verteilung dieser Ansteckung statt eines lokalen Ausbruchs in ganz Deutschland, oder wenn man jetzt an die Zeit vor den Schließungen von Grenzen und anderem und Reiseverkehr denkt, auch in Europa beschleunigt.
"Die deutsche Bevölkerung hat sich sehr, sehr vorbildlich verhalten"
Zerback: Ja, Herr Braun. Jetzt ist es ganz unübersichtlich. Niemand blickt im Moment so richtig durch, wo was erlaubt ist, und das wird uns ja auch die nächsten Wochen und Monate noch begleiten. Dabei haben wir eigentlich gelernt, dass Psychologie bei der Krise auch eine ganz große Rolle spielt. Glauben Sie denn tatsächlich, dass die Vorsicht aufrechterhalten werden kann, wenn alles so nach Normalität aussieht?
Braun: Das ist einfach eine Aufgabe, der müssen wir uns alle stellen. Und wenn man jetzt mal sieht, was wir geschafft haben, dann muss man sagen, die deutsche Bevölkerung hat sich sehr, sehr vorbildlich verhalten. Deshalb beneidet uns ja ganz Europa und Teile der Welt. Meine Amtskollegen aus den Regierungszentralen rufen alle an und fragen, wie habt ihr das in Deutschland geschafft. Weil wir gar keinen sehr harten Lockdown gemacht haben, wenn man das vergleicht mit anderen Ländern, die auch die produktive Wirtschaft lahmgelegt haben, die Ausgangsbeschränkungen gemacht haben, die einem nur einen einstündigen Aufenthalt außerhalb der Wohnung pro Tag erlauben. Das hat alles um uns herum stattgefunden. Wir haben relativ milde Maßnahmen gemacht im Verhältnis zu anderen. Absolut gesehen waren es natürlich keine milden Maßnahmen, sondern auch sehr weitgehende. Trotzdem haben wir es geschafft, dass die Zahlen sich so toll reduziert haben. Das ist ein Verdienst der Bevölkerung. Dann finde ich, dann können wir uns auch jetzt was zutrauen. Nicht übermütig, aber in weiteren Schritten. Und das Wichtigste gestern für uns war, ehrlich gesagt, dass auch Kinder wieder mal in den Kindergarten können und dass Schule wiederbeginnt, damit die Bildungschancen der jungen Generation gewahrt sind. Das war unser großes Anliegen.
"Einfach aufmachen, ohne dass man vorbereitet ist, geht nicht"
Zerback: Herr Braun, das verstehe ich. Ich will da auch gar keine Spielverderberin sein. Aber hat sich da nicht einfach viel zu wenig verändert, um zu lockern? Wenn Sie sagen, Hygienekonzepte für Schulen und Kitas zum Beispiel; wenn es die überhaupt gibt – das ist ja an vielen Orten noch gar nicht so -, dann ist nicht klar, ob sie wirken. Es gibt immer noch keine App, die Infektionsketten zurückverfolgen kann. Es gibt noch keine Medikamente. Es gibt keinen Impfstoff. Steuern wir da auf ein politisches Experiment zu?
Braun: Nein, das ist Lernen in der Krise. Wir merken ja, dass dieses Kontaktbeschränken und Abstand halten sehr gut wirkt, und das wird sich nicht verändern. Das muss in allen Lebensbereichen weiter gelten. Nur in dieser Phase, in der wir jetzt diese starken Beschränkungen hatten, haben wir auch alle was gelernt. Wir gehen heute anders zum Supermarkt einkaufen als vor sechs Wochen. Genauso hat sich auch in unserer betrieblichen Welt etwas getan. In dem Bereich, der jetzt nicht Kundenverkehr hat, war ja unsere Wirtschaft die ganze Zeit geöffnet. Trotzdem haben wir die Infektionszahlen niedrig halten können, weil die Betriebe entsprechende Hygienemaßnahmen ergriffen haben.
Die Öffnungen, die jetzt weitergehen – das ist ganz klar -, gehen immer nur unter der Voraussetzung, dass sich die Länder in der Fachministerkonferenz auf ein Hygienekonzept geeinigt haben, und es können auch nur die Einrichtungen wieder aufmachen, die diese Hygienekonzepte einhalten. Einfach aufmachen, ohne dass man entsprechend vorbereitet ist und dass das gut überlegt ist, das wird gar nicht gehen.
Zerback: Wenn Sie nach unten delegieren, dann müssen Sie da natürlich auch die Verantwortung delegieren und müssen sich sicher sein, dass diese Verantwortung auch von den Ländern übernommen wird. Da muss man aber auch sagen: Kontrolle wäre jetzt auch nicht schlecht. Wer hat denn aktuell noch den Überblick und kontrolliert tatsächlich, ob sich auch alle daranhalten, ob auch diese Notfallmechanismen, die gestern beschlossen wurden, eingehalten werden? Kommt da der Bund dann doch wieder ins Spiel?
Braun: Erst mal haben wir gar nichts delegiert, weil es die verfassungsmäßige Zuständigkeit der Länder ist und war.
"Wir wissen genau, welches Krankenhaus hat noch freie Betten"
Zerback: Wünschen Sie sich manchmal, dass das anders wäre?
Braun: Nein! Ich glaube, dass unsere föderale Ordnung eine gute Ordnung ist. Aber natürlich ist es so: Eine Pandemie, eine Epidemie, die überall weltweit, auch überall in Deutschland Relevanz hat, braucht auch eine bundespolitische Beteiligung, und genau das haben wir in den letzten Wochen aufgebaut. Wir wussten Anfang März nicht, welche Intensivbetten in Deutschland frei oder belegt sind. Wir haben jetzt ein Register, wo wir die Intensivbetten-Kapazitäten sehr, sehr gut steuern können, wo wir genau wissen, ob wir auf eine Überforderung unseres Gesundheitswesens hinfahren oder nicht. Die Gesundheitsämter melden …
Zerback: Entschuldigung, wenn ich Sie unterbreche, Herr Braun, aber genau diese zentrale Möglichkeit, die nehmen Sie sich ja, wenn Sie sagen, das ist jetzt Ländersache. Es gibt ja aktuell auch schon wieder …
Braun: Nein, da nehmen wir uns gar nichts von, sondern genau das läuft alles weiter. Das war die Grundbedingung für dieses Vorgehen. Wir wissen jetzt bundesweit, und diese Meldewege, die bleiben ja alle erhalten. Wir wissen genau, welches Krankenhaus hat noch freie Betten und welches droht, überfordert zu werden. Wir wissen genau, …
Zerback: Aber die Entscheidungswege sind nicht mehr so kontrollierbar. Stand heute Morgen gibt es ja zwei Regionen, …
Braun: Doch! An den Entscheidungswegen hat sich nichts geändert.
Zerback: Wenn Sie sagen, die Verantwortung liegt bei den Ländern und bei den Gesundheitsämtern vor Ort, dann müssen die ja auch gucken, wo funktioniert das, wo wird die Grenze von den 50 Neuinfektionen in den sieben Tagen auf 100.000 …
Braun: Da gibt es eine tägliche gesetzliche Meldepflicht.
"Notfallmechanismus ist nicht ein automatischer Lockdown"
Zerback: Genau. Und dann könnten wir jetzt ja schon feststellen, Stand heute Morgen, dass es zwei Regionen mindestens in Deutschland gibt, die eigentlich schon wieder aufgrund dieser Zahlen in den Lockdown müssten, in Bayern und in Thüringen. Wer sorgt denn jetzt dafür, dass das auch passiert, weil bis jetzt gibt es den noch nicht?
Braun: Grundsätzlich ist dieser Notfallmechanismus nicht ein automatischer Lockdown, sondern man muss sich das Infektionsgeschehen dann jetzt genau analysieren. Das muss man schon vorher, aber ab da werden wir als Bund informiert und schauen uns dann die Maßnahmen mit an. Wenn das ein Infektionsgeschehen ist, das nur in einer Einrichtung ist – so was hat es ja in letzter Zeit auch gegeben -, in einer Pflegeeinrichtung oder in einer Gemeinschaftsunterkunft oder so, dann muss eine solche Allgemeinbeschränkung für diese Einrichtung gelten. Wenn es aber ein Infektionsgeschehen ist, was breit über einen Landkreis zum Beispiel verteilt ist, weil es Feste gegeben hat, die es vielleicht nicht hätte geben sollen, die dann zu einer breiteren Ausbreitung in der Bevölkerung geführt haben, dann müssen auch solche Allgemeinbeschränkungen erfolgen.
Und weil Sie es gerade so schön sagen: Wir wissen das tagesaktuell von jedem Landkreis und dann wird das Robert-Koch-Institut informiert und dann reden wir gemeinsam mit den Landesbehörden darüber, welche Maßnahmen angesichts dieses konkreten Ausbruchsgeschehens jetzt ergriffen werden müssen, damit dieses Ausbruchsgeschehen nicht auf ganz Deutschland übergreift.
"Natürlich wünschen wir uns jetzt alle zügig Lockerungen"
Zerback: Herr Braun, Sie haben gerade auch schon das Reisen angesprochen, was Ihnen da am meisten Sorgen bereitet. Jetzt hat der Bundesinnenminister ja gerade noch mal die Grenzkontrollen verlängert bis Mitte Mai. Aktuell lesen wir, dass mehrere Abgeordnete auch aus Ihrer Partei Druck machen und fordern, dass die Grenzen umgehend geöffnet werden, spätestens aber am 15. Mai. Sind Sie da auch für Lockerungen?
Braun: Wir reden da ganz intensiv mit unseren jeweiligen Nachbarstaaten und natürlich wünschen wir uns jetzt alle zügig Lockerungen. Aber gerade in dieser Phase, wo jetzt Öffnungen in den einzelnen Ländern stattfinden, ist es dann wichtig, dass wir das auch vergleichbar tun. Der Anfang dieser Grenzkontrollen war, dass in Deutschland die Geschäfte auf waren und im Nachbarland nicht mehr und es dann zu ganz viel Bewegung kam, weil die Leute dann zum Einkaufen über die Grenze gekommen sind und damit auch Überfüllungen der Innenstädte, Dinge, die wir jetzt gerade nicht gebrauchen können, damit verbunden waren.
Deshalb, glaube ich, haben wir eine richtige Entscheidung getroffen, nämlich dass die Kontaktbeschränkungen in Deutschland etwas gelockert werden. Da muss man sich jetzt angucken – das tun wir heute im Corona-Kabinett -, können wir dann in vergleichbarer Weise auch die Regeln an der Grenze verändern. Die grundsätzliche Frage von Grenzöffnungen müssen wir immer im Gleichlauf mit unseren Nachbarstaaten tun, und auch da sind wir im Hinblick auf den 15. Im Gespräch.
Zerback: Um das noch mal konkret zu machen, Herr Braun: Es muss Schluss sein mit Gitterzäunen und Schlagbäumen im Herzen Europas, wie es jetzt in der Stellungnahme aus der Union heißt?
Braun: Natürlich sind Grenzkontrollen an den europäischen Binnengrenzen immer etwas Besonderes. Das darf immer nur mit guter Begründung und auf beschränkte Zeit sein. Das ist doch völlig klar.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.