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Helmut Schmidt
Aufruf eines zornigen, engagierten Europäers

Es ist mehr als 30 Jahre her, dass Helmut Schmidt Bundeskanzler war - doch er mischt sich bis heute ein. Ein neues Buch mit ausgewählten Texten und Reden beendet er mit dem Aufruf zum Putsch.

Von Conrad Lay |
    Der vorliegende Band versammelt Reden und Aufsätze von Helmut Schmidt aus einem Zeitraum von über sechs Jahrzehnten. Sie zeichnen sich durch eine besondere Art der Beständigkeit aus, wobei es sich um eine Kontinuität sowohl positiver als auch negativer Art handelt.
    Positiv, weil schon in den ersten Texten von Helmut Schmidt aus den Jahren 1948/49 deutlich wird, dass er die europäische Integration von Anbeginn an über nationalstaatliche Taktiererei stellte. In diesen frühen Texten ging es Schmidt um die Bedeutung des Ruhrstatutes und die Einbeziehung Westdeutschlands in einen (damals west-)europäischen Kontext. Der zu jener Zeit gerade 30 Jahre junge Schmidt scheute sich dabei nicht, seiner eigenen Partei, der SPD, zu widersprechen.
    Aber auch im negativen Sinn zeugen die europapolitischen Reden Schmidts von einer großen Kontinuität: Es gibt in all diesen Jahrzehnten so gut wie keinen Text, in dem Schmidt nicht den fragwürdigen Zustand der europäischen Integration kritisiert. Einer seiner Bundestagsreden hat er sogar die Überschrift gegeben: "Lebt Europa von Krisen?"
    Kritik an der EU
    Den augenblicklichen Zustand der EU sieht Schmidt besonders skeptisch: Die europäischen Institutionen kämen ihren Aufgaben nicht nach; zudem nehme Deutschland wieder eine dominante Stellung innerhalb Europas ein. In einer Rede im Jahr 2011 führte er aus:
    "Die ökonomische Entwicklung insgesamt und die gleichzeitige Krise der Handlungsfähigkeit der Organe der Europäischen Union haben Deutschland abermals in eine zentrale Rolle gedrängt. Gemeinsam mit dem französischen Staatspräsidenten hat die Kanzlerin diese Rolle, wie es scheint, willig akzeptiert. Aber es gibt in vielen europäischen Hauptstädten und es gibt ebenso in den Medien mancher unserer Nachbarstaaten abermals eine wachsende Besorgnis vor deutscher Dominanz."
    Bekanntlich ist Helmut Schmidt kein Visionär. Ein Endziel, auf das hinzuarbeiten wäre, kennt er nicht; in seinem Pragmatismus fühlt er sich vor allem dem - wie er mehrfach schreibt - "großen Franzosen" Jean Monnet verbunden, als dessen Schüler er sich sieht. Als deutscher Patriot müsse man sich in einem längerfristig verstandenen Eigeninteresse für die Einbindung Deutschlands in europäische Strukturen einsetzen.
    Die historische Last Deutschlands
    "Für uns Deutsche scheint mir entscheidend zu sein, dass fast alle Nachbarn Deutschlands - und außerdem alle Juden auf der ganzen Welt -, dass sie sich des Holocaust und der Schandtaten erinnern, die zur Zeit der deutschen Besatzung in den Ländern der Peripherie geschehen sind."
    Länder der Peripherie? Liegt das östliche Mitteleuropa an der Peripherie Europas? Kommen die beiden polnischen Pflegerinnen, die - wie Schmidt berichtet - rund um die Uhr für ihn da sind, von der Peripherie Europas? Das kann man durchaus anders sehen. Helmut Schmidt fährt fort:
    "Auch die nachgeborenen Generationen, die nachgeborenen Deutschen, müssen mit dieser historischen Last leben. Und die heutigen dürfen nicht vergessen: Es war der Argwohn gegenüber einer zukünftigen Entwicklung Deutschlands, der 1950 den Beginn der europäischen Integration begründet hat."
    Den Aufsätzen und Reden hat Schmidt ein Gespräch angefügt, in dem er mit Joschka Fischer über "Europa am Scheideweg" spricht. Obwohl die beiden nicht nur unterschiedlichen Parteien, sondern auch lebensgeschichtlich verschiedenen Generationen angehören, sind sie nahezu durchgehend einer Meinung. Von einem "Dialog" kann man da nicht gerade sprechen. Interessant ist das Gespräch aber deshalb, weil beide - sowohl der ehemalige Bundeskanzler als auch der ehemalige Außenminister - von ihren jeweiligen Regierungserfahrungen berichten.
    Zu Europa bekennen
    Beide kritisieren die Äußerung Angela Merkels, in der EU müsse jeder für sich selbst zu Hause aufräumen. Das sei der Beginn "jener unseligen Renationalisierung gewesen, die wir heute überall in der EU finden", kommentiert Joschka Fischer. Mit dieser Haltung habe Merkel die traditionelle Rolle Deutschlands, im Zweifel auch Opfer für Europa zu bringen, aufgegeben. Insbesondere Helmut Schmidt betont immer wieder, wie wichtig es sei, sich zu Europa zu bekennen, auch wenn dies etwas kostet. Jedoch dürfe man nicht vergessen, den Bürgern den Sinn solcher Opfer zu erklären.
    "Wir Deutschen haben doch unsere große Wiederaufbauleistung der letzten sechs Jahrzehnte auch nicht allein oder nur aus eigener Kraft zustandegebracht. Sie wäre nicht möglich gewesen ohne unsere Einbettung in die europäische Gemeinschaft, sie wäre nicht möglich gewesen ohne den Marshall-Plan, sie wäre nicht möglich gewesen ohne das atlantische Bündnis. Sie wäre auch nicht möglich gewesen, ohne den politischen Aufbruch im Osten Mitteleuropas und sie wäre nicht möglich gewesen ohne das Ende der kommunistischen Diktatur."
    Dass der Pragmatiker Helmut Schmidt einmal zu einem "zornigen alten Mann" werden könnte, hätte man vielleicht nicht erwartet. Aber der kritikwürdige Zustand der europäischen Institutionen führt ihn dazu, regelrecht einen "Aufstand des Europäischen Parlaments" zu fordern, einen "Putsch", das heißt, das Parlament solle absichtlich über seine Kompetenzen hinausgehen, um Bewegung in die eingefahrenen Institutionen zu bringen. Ein mutiger Schlusspunkt des 95-jährigen, engagierten Europäers, der mit seinem Aufruf zur Unbotmäßigkeit immer noch aufzurütteln versteht.
    Helmut Schmidt: "Mein Europa. Reden und Aufsätze." Hoffmann & Campe, 368 Seiten, 22,99 Euro, ISBN: 978-3-455-50315-9.