Die anthroposophischen Praxisfelder sind vielfältig und heute zum Teil erfolgreicher denn je: Dazu gehören Karotten von bio-dynamischen Demeter-Höfen ebenso wie Salben der Firma Weleda. Außerdem natürlich Waldorf-Schulen, an denen es seit ihrer Gründung vor einhundert Jahren keine Zensuren gibt und Kinder im Fach Eurythmie lernen, ihren Namen zu tanzen. Es gibt anthroposophische Drogeriemärkte und Seifen-Hersteller, anthroposophisch arbeitende Ärzte und Krankenhäuser und sogar Banken, die nach anthroposophischen Kriterien wirtschaften.
Hinter all dem steht eine Weltanschauung, erklärt der Religionswissenschaftler Helmut Zander: "Die geht bei Anthroposophen zurück auf Rudolf Steiner, und seine zentrale Idee war, dass das Geistige und das Materielle eigentlich zwei Seiten einer Medaille sind."
Rudolf Steiner habe eine geistige Weltsicht konzipiert, erklärt Zander, "und geistig heißt bei ihm, Einsicht in übersinnliche, höhere, geistige Welten. Das ist das Zentrum der Anthroposophie."
Weltanschauung mit Absolutheitsanspruch
In seinem Buch schreibt Zander über Rudolf Steiner: "Seine Autorität gründete in dem Anspruch, universales Wissen aus einer übersinnlichen Welt auf die Erde herabzuholen."
Helmut Zander ist Professor für vergleichende Religionsgeschichte an der Universität Fribourg in der Schweiz. Seit Jahrzehnten beschäftigt er sich als Historiker und Theologe mit der Anthroposophie; vor einigen Jahren hat er eine vielbeachtete Biografie über Rudolf Steiner vorgelegt. Sein neustes Buch über die Anthroposophie kann man in einem durchlesen, denn es ist prägnant und kurzweilig geschrieben.
Man kann es aber auch wie ein Handbuch benutzen – denn jedes Kapitel entspricht einer Art Lexikon-Eintrag zu wichtigen Stichwörtern oder Themen der Anthroposophie: von Alnatura und Arzneimitteln über Reinkarnation und Theosophie bis hin zu Waldorfpädagogik und Weltanschauung.
In jedem dieser Kapitel wird deutlich, dass es bei Rudolf Steiner und seiner Anthroposophie um höhere Erkenntnis geht, um den Einblick in übersinnliche Welten.
Autoritäre Anthroposophie?
Zander schreibt: "Mit dieser Fähigkeit des ‚Hellsehens‘ beanspruchte Steiner, die kosmischen Wirkungen des Pflanzenwachstums zu erkennen, die Reinkarnationsverläufe von Menschen einzusehen, die historischen Hintergründe des Ersten Weltkriegs zu erläutern oder die verborgenen Jahre des Lebens Jesu offenzulegen."
An diesem Punkt wirft Zander einen kritischen Blick auf die Anthroposophie. Denn sie hat einen Absolutheitsanspruch: Die höhere Erkenntnis ist nicht verhandelbar. Das Totale aber ist "nur eine Handbreit vom Totalitären entfernt", schreibt Zander – und er belegt anhand zahlreicher Beispiele, dass die Anthroposophie zuweilen auch etwas Autoritäres an sich hat. Die Waldorfschulen etwa.
"Im Kern war Steiner der Meinung, dass die Lehrerin oder der Lehrer auch eine Eingeweihte ist, ein Eingeweihter. Dass sie Erkenntnis höherer Welten haben. Dass sie wissen, welche Reinkarnation ihre Schüler hinter sich haben", so Zander. "Das heißt, die Lehrerin, der Lehrer ist eine extrem starke Figur in der Waldorfpädagogik. Ja, Waldorfschulen sind in ihrem Kern autoritär."
Umgang mit rassistischen Aussagen Steiners
Anthroposophen werden das nicht gern hören – und auch an andere Ideen von Rudolf Steiner werden sie vermutlich lieber nicht erinnert. So sprach Steiner von menschlichen Rassen, von Wurzelrassen, von degenerierten Indianern und vom starken Triebleben der – Zitat – "Neger".
Die Art und Weise, wie Anthroposophen heute mit den rassistischen Aussagen ihres geistigen Mentors Steiner umgehen, bezeichnet Zander als "unsouverän" – trotz diverser Distanzierungsversuche und etwa der sogenannten Stuttgarter Erklärung des Bundes Freier Waldorfschulen.
Hier offenbare sich ein grundsätzliches Problem: Die Kritik am Gründungsvater werde als Gefahr für das gesamte anthroposophische System wahrgenommen.
"Steiner glaubte, dass diese Vorstellungen Ergebnis seiner Einsichten in höhere Welten seien. Wenn man jetzt ein Stück aus diesen höheren Welten herausschneidet und sagt, dieser Teil stimmt nicht, dann ist unklar, ob nicht wie ein Domino-Effekt andere Teile dieser Einsicht auch fallen."
Dazu schreibt Zander: "Am Ende geht es um viel mehr, um die Logik seines Weltanschauungshauses. Tief in dessen Inneren sitzt eine Evolutionstheorie, die Steiner aus dem 19. Jahrhundert geerbt hat und in der die ganze Kultur evolutionstheoretisch gedeutet wird. […] Steiners Rassentheorie zu kritisieren bedeutet im Kern, seine Logik der Evolutionslehre infrage zu stellen."
Zanders Buch ist eine kritische Auseinandersetzung mit der Anthroposophie – aber keine Abrechnung. Er schreibt mit dem beobachtenden Blick des Historikers - als Theologe und Religionswissenschaftler vermag er insbesondere die okkulte und religiöse Dimension der Anthroposophie einzuordnen.
Ein hochdifferenziertes Milieu
Vor allem aber wird in seinem Buch deutlich: Die Anthroposophie ist ein weit verzweigtes Netz mit vielen Aspekten und Ausprägungen – und ihre Akteure lassen sich nicht über einen Kamm scheren. Das anthroposophische Milieu sei hochdifferenziert, sagt der Autor: "Von offen linken, bürgerlichen, grünen Anthroposophen und einer Betonfraktion auf der anderen Seite, die der Meinung sind, dass die Rassentheorie Steiners doch irgendwie stimmt."
Ein Makel dieses Buches sei nicht verschwiegen: Der Verlag hat offenbar am Lektorat gespart, die Menge der Tippfehler ist ärgerlich. Doch trübt das nicht die inhaltliche Qualität dieses Buches: Wer verstehen will, was Anthroposophie bedeutet und welche Überzeugungen dazugehören, der sollte es lesen.
Helmut Zander: "Die Anthroposophie. Rudolf Steiners Ideen zwischen Esoterik, Weleda, Demeter und Waldorfpädagogik",
Verlag Ferdinand Schöningh, 287 Seiten, 39,90 Euro.
Verlag Ferdinand Schöningh, 287 Seiten, 39,90 Euro.