Morgenstimmung in Oslo. Nach einem kräftigen Frühstück, das der fünftteuersten Stadt der Welt zumindest preislich gerecht wurde, geht die Sonne wie eine dicke Orange über dem Büroviertel auf, in dem wohl die meisten Tesla-Limousinen der Welt im Stau stehen. Hier das moderne Opernhaus, dort ein Museum von Renzo Piano, überall neue gläserne Investmentpaläste. Oslo ist heute schick wie eine Prada-Handtasche ‒ und mindestens so kostspielig.
Aber wir wollen weiter ins Landesinnere ‒ dorthin, wo das Herz Norwegens schlägt. Am Hotel wartet Hermann mit einem Wagen des Hemsing-Festivals; knapp drei Stunden wird er uns nach Norden chauffieren, bis nach Aurdal im Skiparadies Valdres. Unterwegs passieren wir Insel Utøya, wo der Rechtsextremist Anders Breivik 69 Menschen erschossen hat. Das Trauma des Anschlags sitzt tief in einer Gesellschaft, die auf Ausgleich, Wohlstand und Einklang mit der Natur bedacht ist. Allmählich verschwindet die Insel im Rückspiegel, wir fahren weiter.
"Zu Ostern nahmen mich meine Eltern mit in die Berge für lange Skiausflüge, jeden Sommer verbrachten wir am Meer, mein Vater wanderte mit mir durch die Wälder. Dadurch wurde die Natur Teil meines inneren Erlebens. Und das geht vielen Norwegern so: Diese verinnerlichten Bilder und Erlebnisse der Natur sind eine Art Anatomie unserer Seele."
Einsamkeit schärft das Gehör
Im Nythun-Hotel, einem gemütlichen, rot gestrichenen Holzhaus in den Valdres-Bergen, sitzt mir, bei einem edlen Aquavit, Lasse Thoresen gegenüber: 69 Jahre alt, Kastenbart und Brille, einer von Norwegens führenden Komponisten und ein langjähriger Freund des Hemsing-Festivals. In den achtziger Jahren hat er sich für die französische Spektralmusik begeistert ‒ dennoch hat er sich nicht die Maske eines Gérard Grisey oder Tristan Murail aufgesetzt, sondern die norwegische Volksmusik ins Spiel gebracht ‒ nahe an der Natur und der Identität der Bewohner. Und weil die Einsamkeit hier oben auch das Gehör schärft, hat Thoresen ein Buch über das Hören geschrieben, 600 Seiten stark.
"Das Buch geht ziemlich weit, denn ich führe 400 neue Begriffe für Klangphänomene in der Musik ein. Wir haben noch kein systematisches Vokabular für Klangqualitäten ‒ so wie etwa für Farben. Mich interessieren dabei nicht die Tonhöhen etc., sondern der Klang als Klang. Dabei kann man viele neue Eigenschaften entdecken."
Unten im Valdrestal zeigt eine Gasse von flackernden Kerzen im hohen Schnee den Weg zur Kirche von Aurdal an ‒ eine stimmungsvolle Gemütlichkeit, die man in Norwegen als "koselig" bezeichnet. Innen hört man die beiden Schwestern Eldbjörg und Ragnhild Hemsing zusammen mit den Larsen-Brüdern spielen ‒ nicht auf der Geige, sondern auf der Hardanger-Fiedel: schön dekorierten Instrumenten mit neuen Metallsaiten, auf denen man eine unendliche Fülle an Melodien spielen kann.
"In Aurdal gibt es eine starke Volksmusik-Tradition durch die Hardanger-Fiedel, die man lernt, indem man die Melodien allein oder in der Gruppe von einem Lehrer vermittelt bekommt, ohne Noten. Dieser mündliche Unterricht ist unsere spezielle Tradition, die von einer zur nächsten Generation weitergegeben wird."
Konzerte in Bergkirchen, Fischfarmen und Skistationen
Eldbjørg Hemsing ist gerade 29 Jahre geworden und schon ein Superstar in Norwegen ‒ unterwegs in der ganzen Welt, mit einem wichtigen Standbein in China, wo der Komponist Tan Dun zu ihren Förderern gehört. Aber Eldbjørg ist nicht abgehoben, sondern steht zu ihrem Heimatdorf Aurdal, wo einst ein Urahn von ihr Edvard Grieg vorgesungen hat. Hier ist Eldbjørg mit ihrer Schwester Ragnhild aufgewachsen, behütet von einer musikliebenden Familie. Als Dank haben sie vor sieben Jahren ein Festival nach Valdres geholt: mit Konzerten in Gasthäusern und Bergkirchen, auf Fischfarmen und Skistationen. Und manche aus dem Publikum schnallen fürs Konzert nur kurz ihre Skier ab, um später wieder in der Loipe zu entschwinden.
Vor dem Altar der schönen Holzkirche in Aurdal spielen die beiden Hemsing-Schwestern im ersten Streichsextett von Johannes Brahms; mit dabei sind unter anderem an den Celli der Däne Andreas Brantelid und der Pole Adam Krzeszowiec ‒ junge und schon berühmte Solisten beim Festival, zu denen sich noch das französische Modigliani-Quartett und der Klarinettist Karl-Heinz Steffens, Ex-Musikchef der Osloer Oper, gesellen.
"Es gibt einen starken Schwerpunkt auf Kammermusik, der intimsten Form des Musikmachens. Weiterer Schwerpunkte ist die Volksmusik mit Klassik und zeitgenössischer norwegischer Musik, um sie ein bisschen zu präsentieren. Das heißt, wir zeigen norwegische Musik aller Art ‒ aber wir bringen auch Standardrepertoire hierhin, das wir in unerwarteten Kombinationen zeigen, in denen die vertrauten Stücke ganz neu klingen."
Brahms und Lasse Thoresen, Aquavit und Rentierwurst, Hardanger-Fiedel und norwegische Romantiker, fermentierter Salzfisch und Schneevergnügen ‒ das Erfolgsrezept des Hemsing-Festivals ist für die Südländer vom europäischen Kontinent einfach unwiderstehlich. Und es zeigt, welche soziale Rolle die Musik in Norwegen spielt ‒ vor allem auf dem Land, in der reichen, identitätsstiftenden Natur.