Nur 35 Jahre hatte die deutsche Kolonialzeit Bestand. Und doch, so betont der Politologe und Sozialwissenschaftler Henning Melber, sei die kurze Periode zwischen 1884 und 1919 weder in ihrem Ausmaß noch in ihren Konsequenzen bedeutungslos gewesen. Seine Diagnose lautet: Die Deutschen leiden an kolonialer Amnesie, einem folgenreichen Gedächtnisverlust.
"Sie sind über die eigentliche Geschichte ihrer sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung nicht im Bilde und haben eine falsche Vorstellung davon, wie sie in die heutige Welt passen. Die "patriotische Identität" umgarnt Menschen mit einem Selbstverständnis, das für die nicht dazu Gehörigen sichtbar nachteilige Folgen hat. Sie basiert auf einem Entwicklungspfad und -verständnis, die ein historisches Privileg reklamieren, das rassisch – und in seiner Konsequenz rassistisch – geprägt ist."
Entwicklung oder Fortschritt sind für Melber Begrifflichkeiten, die letztlich der kolonialen Überzeugung entspringen, Mittelpunkt der Zivilisation zu sein, deren Produktions- und Lebensweise die einzig erstrebenswerte ist. Nur eines von vielen Beispielen für den "kolonialen Blick", den Melber und 17 weitere Autorinnen und Autoren in ihrem Buch entlarven. Dessen erste Hälfte widmet sich einer Analyse der deutschen Politik in und mit Afrika.
Paternalismus - damals wie heute
Dass Afrika in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen hat, ist bekannt. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat acht Afrika-Reisen unternommen, Helmut Kohl nur zwei. Und dennoch, so der Vorwurf der Autoren: Deutsche Afrikapolitik sei heute wie damals paternalistisch geprägt, egal ob es um Sicherheitsfragen, Entwicklungshilfe oder Wirtschaftskooperation gehe. Letztlich gelte die koloniale Maxime: Afrika hat das Problem, wir haben die Lösung. Besonders erhellend ist die Untersuchung sogenannter Derisking-Programme, die private Investitionen etwa in Erneuerbare Energien erleichtern sollen.
"Das […] mobilisierte Kapital von über 450 Millionen US-Dollar […] kommt zum größten Teil aus dem globalen Norden und man kann dementsprechend davon ausgehen, dass die Renditen wieder zurück in die Herkunftsländer fließen. Dies verhindert, dass Geld für notwendige Reinvestitionen im Land bleibt. […] Die im Programm angelegte Struktur kann gleichzeitig finanzielle und technologische Abhängigkeiten von Investoren aus dem globalen Norden vertiefen."
Fragwürdige Bekämpfung von Fluchtursachen
Ein anderes Beispiel: Die Migrationspolitik. In Deutschland gelte Migration aus Subsahara-Afrika als großes Problem, obwohl Flüchtlinge vorwiegend aus ganz anderen Regionen nach Deutschland kämen und die mit Abstand meisten afrikanischen Flüchtlinge in Afrika blieben. Trotzdem würden hohe Millionenbeträge etwa in den Niger investiert, der im Gegenzug Migranten auf dem Weg nach Norden aufhalte. Dass Deutschland damit ein Regime stützt, das hoch umstritten ist, ist eine Folge. Noch schwerer wiegt für den Autoren Boniface Mabanza Bambu, dass die sogenannte "Fluchtursachenbekämpfung" prinzipiell jenseits von Deutschland stattfinde – für ihn ein weiteres Zeichen für eine kolonial geprägte Selbst- und Fremdwahrnehmung.
"Wichtiger zu betonen ist jedoch, dass diese bewusste Fixierung auf Aufgaben, die woanders gemacht werden sollen, den Blick von den realen strukturellen Ursachen von Zerstörungen und Umwälzungen, die zu Fluchtbewegungen führen, ablenkt."
Ein Beispiel: Die europäische Handelspolitik, die bei der Fluchtursachenbekämpfung trotz ihrer weitreichenden Folgen etwa für Afrikas Bauern keine Rolle spielt.
Blockierte Aufarbeitung
Nahezu allen Autoren gelingt es im analytischen Teil des Buchs, den Zusammenhang zwischen heutiger Afrikapolitik und "kolonialem Blick" herzustellen – fachkundig und mit vielen Belegen, ohne erhobenen Zeigefinger. Umso wichtiger erscheint die Frage, welcher Umgang mit der deutschen Kolonialvergangenheit die Afrikapolitik im Sinne eines gleichberechtigten Miteinanders verändern könnte. Dieser Frage ist die zweite Hälfte des Buchs gewidmet, in der eine Zunahme pro-kolonialistischer Deutungsmuster beklagt wird.
"Zuletzt sind es die dumpfen Parolen vor allem der ‚Neuen Rechten‘, darunter die AfD, Pegida oder die ‚Identitäre Bewegung‘, die gegen den ‚Schuld-Kult‘ wettern. Mit ihrem Kulturkampf torpedieren sie nicht nur eine kritische Aufarbeitung des Nationalsozialismus, sondern auch der Kolonialgeschichte. Der xenophobe Nationalismus der rechtspopulistischen und rechtsextremistischen Kräfte zeigt einmal mehr die Weigerung, die Geschichte des Rassismus – auch er ein unheilvolles Erbe des Kolonialismus – aufzuarbeiten."
Zur Anerkennung des kolonialen Erbes würde nicht zuletzt gehören, das Bild des angeblich "weißen Deutschen" endgültig an den Nagel zu hängen. Schon vor hundert Jahren kämpften schwarze Deutsche für ihre gesellschaftliche Anerkennung, ein Kampf, der nie gewonnen wurde – wie etwa die Debatte um "racial profiling" und die anhaltende Gewalt gegen Schwarze zeigen. Dagegen helfen könnte eine postkoloniale Erinnerungskultur, für die einige der Autoren – nicht alle – Raum im umstrittenen Berliner Humboldt-Forum sähen. Wo auch immer: Die Aufarbeitung von Deutschlands kolonialem Erbe und ein Ende der "kolonialen Amnesie" ist unbedingt geboten. Das legen die Autorinnen und Autoren des Sammelbands mit ihren vielschichtigen Zugängen überzeugend dar. Ein wichtiges Buch, das viele gute Argumente für eine dringend nötige Debatte liefert.
Henning Melber (Hrsg.): "Deutschland und Afrika - Anatomie eines komplexen Verhältnisses",
Brandes & Apsel, 225 Seiten, 22,90 Euro.
Brandes & Apsel, 225 Seiten, 22,90 Euro.