"Namibia" von Henning Melber verspricht in doppelter Hinsicht interessante Lektüre. Zum einen lässt der Politikwissenschaftler einen fundierten Blick auf das südwestafrikanische Land erwarten, denn der langjährige Direktor am unabhängigen Nordic-Africa-Forschungsinstitut im schwedischen Uppsala beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Namibia. Zum anderen taugt die Biografie des Autors für mehr als ein länderkundliches Standardwerk.
Befreiungsbewegung SWAPO
Denn der gebürtige Stuttgarter kam im Alter von 17 Jahren mit seinen Eltern in das damals von Südafrika verwaltete Land. 1974, mit 24, trat Henning Melber der Befreiungsbewegung SWAPO bei. Ein ungewöhnlicher Schritt für einen Weißen: Die South West African People's Organisation war die größte Oppositionsbewegung und sie hatte als einzige einen bewaffneten Arm.
Nun ist die SWAPO seit 25 Jahren an der Macht - kein Grund zum Feiern, urteilt Henning Melber:
"Es ist eine Clique politisch Herrschender und mit ihnen verbandelter Nutznießer, die mit dem Unabhängigkeitstag sich selber und ihre Errungenschaften feiern. Sie nehmen solche Tage zum Anlass, staatliche Gelder auf obszön pompöse Rituale zu verschwenden, die den Nationalstolz zu einem Eliteprojekt haben verkommen lassen."
Das sind harte Worte. Ist es die enttäuschte politische Liebe eines jungen Idealisten und späteren Mannes des Schreibtisches, die zu solch einem harschen Urteil führt?
In internationalen Rankings zu Demokratie und Wirtschaft belegt Namibia durchaus akzeptable Plätze. Aber Melber betont an dieser Stelle einen Punkt: Früher habe er bei Vorträgen seine Kritik oft relativiert, mit Verweis etwa auf Namibias koloniale Vergangenheit. Ein tansanischer Kollege habe ihn schließlich eines Besseren belehrt: Der meinte, es gäbe keinen Grund, gesellschaftliche Verhältnisse nicht an den weltweit erstrebenswerten Kriterien zu messen. Eine spezielle Kategorie für afrikanische Verhältnisse mit niedrigerem Bewertungsmaßstab wäre herabsetzend. Melber hat sich den kollegialen Rat zu eigen gemacht:
"Für Fehlentwicklungen gibt es keine Entschuldigungen oder Ausreden, wenn sie durch eigenes Zutun verschuldet werden. Genau das ist in Namibia der Fall."
Reich an Bodenschätzen und touristischen Attraktionen
Namibia ist eigentlich ein reiches Land - reich an touristischen Attraktionen, aber vor allem reich an Bodenschätzen. Doch statt die natürlichen Vorteile zum Wohle der Bevölkerung zu nutzen, ergreifen SWAPO-Obere die Gelegenheit zur Bereicherung: Sie verscherbeln Lizenzen zur Ausbeutung der Ressourcen an ausländische Unternehmen, statt Bodenschätze und Fische im Land selber zu verarbeiten und damit dringend benötigte Jobs zu schaffen. Oder - falls Fachwissen noch fehlt - Kooperationen in Form von Joint Ventures einzugehen.
Ernüchternd ist Melbers Befund auch bei der sogenannten Landfrage. Im ganzen südlichen Afrika litten die Menschen unter der Landaneignung durch Europäer. Eine Umverteilung weg von weißen Großfarmern war ein emotional hoch besetzter Antrieb für die Unabhängigkeitsbewegungen.
"In vielen Fällen blieben die Umgesiedelten von staatlicher Hilfe abhängig und verfiel die Infrastruktur auf den Ländereien. Zudem waren die Nutznießer häufig nicht die am meisten Benachteiligten. Vielmehr kamen Angehörige der neuen politischen Elite in den Vorzug einer privilegierten Sonderbehandlung, was bereits Mitte der 1990er Jahre zu der sarkastischen Meinung führte, dass die Landreform bereits vollzogen sei, da die meisten Kabinettsmitglieder inzwischen ihre Privatfarmen hätten."
Trotz offenkundiger Korruption und Misswirtschaft sitzt die "Befreiungsbewegung an der Macht" fest im Sattel. Seit der Unabhängigkeit hat sie sogar noch zugelegt. Zuletzt, bei den Parlamentswahlen von 2014, lag die Zustimmungsrate bei über 80 Prozent. Dieser Wahlerfolg ist allerdings vor allem ein Zeichen für die Schwäche der Opposition.
Umso wichtiger ist die Frage nach demokratischen Entscheidungsprozessen innerhalb der dominanten Partei. Aber auch um die ist es laut Melber nicht gut bestellt. Nach wie vor hat die alte Garde das Sagen: Vor allem Männer, die den Widerstand von New York, London und Ost-Berlin aus betrieben haben - also im geografischen und oft auch im mentalen Sinne weit weg von Namibia.
Nach ihrer Rückkehr setzten sie sich auch gegen die im Land verbliebenen SWAPO-Aktivisten durch, später stellten sie Zeugnisse ihrer Machtfantasien auf: überlebensgroße Standbilder des ersten Präsidenten Sam Nujoma zum Beispiel. Und der kürzlich gewählte Präsident Hage Geingob regiert im neuen State House, einer wuchtigen, von einem nordkoreanischen Unternehmen erbauten Residenz.
Entwicklung bei der einstigen Befreiungsbewegung
Melber geht außerdem der selten gestellten Frage nach, wie es passieren konnte, dass sich die Führer der einstigen Befreiungsbewegung in Namibia - ebenso wie in anderen Staaten im südlichen Afrika - so weit entfernen konnten von ihren öffentlich proklamierten Idealen. Er beschreibt die Gewalt in den SWAPO-Lagern zur Zeit des Unabhängigkeitskampfes, wo angebliche Verräter in Erdlöchern vegetieren mussten und Kämpferinnen von ihren Genossen als Sexualobjekte behandelt und vergewaltigt wurden. Melber benennt einen Webfehler beim Übergang von der bewaffneten Befreiungsbewegung zur demokratisch gewählten Regierungspartei. Er liegt in der Psychostruktur der Akteure - jedenfalls derjenigen, die sich letztlich durchgesetzt haben:
"Sie gaben ihre Menschlichkeit preis und erwarten im Gegenzug bedingungslose Loyalität zu einer Form des Kampfes, die als ein unaufhörlicher Dienst an der Heimat und ewiger patriotischer Akt propagiert wird."
So klar und unsentimental Henning Melber die Fakten präsentiert - so fällt der namibische Wissenschaftler doch kein Verdammungsurteil. Er zeigt vielmehr, dass staatliche Unabhängigkeit nicht der Endpunkt der Befreiung ist, sondern nur ein Beginn:
"Es ist gut möglich, dass solche Antikolonialisten der ersten Generation nötig sind. Aber sie demonstrieren ... die Grenzen der Emanzipation ... Formelle Selbstbestimmung in einem souveränen Staat bedeutet bekanntlich weder, dass individuelle Freiheit und Unabhängigkeit verwirklicht wären, noch soziale und wirtschaftliche Gleichheit."
Buch:Henning Melber: "Namibia. Gesellschaftspolitische Erkundungen seit der Unabhängigkeit", Brandes & Apsel