Man kennt das berühmte Foto: der alte Maler im Rollstuhl in seinem Atelier, in der rechten Hand eine lange Schere, auf dem Fußboden verstreut farbige Papierschnitzel. Er hat sie ausgeschnitten und komponiert aus ihnen Papiercollagen. Wie "Die Schnecke" von 1953, eine seiner größten 'gouaches découpées', und eines der beliebtesten Werke in der Sammlung der Tate. Paare aus komplementärfarbigen Schnipseln - rot/grün, orange/blau, gelb/violett - tanzen konzentrisch auf weißem Grund, der gelb gerahmt ist.
Scherenschnitt als eigenständiges Kunstwerk
Die meisten Künstler entwickeln eine Art Altersstil, der entweder die Kulmination ihres Schaffens darstellt, oder einen Abstieg signalisiert. Matisse dagegen erfand im Alter ein ganz neues Medium, den Scherenschnitt. Die Ausstellung in der Tate Modern führt uns von den Papierstücken, die er Ende der 30er-Jahre noch als Aides-Memoires für seine Kompositionen ausschnitt, über die Papiercollagen für Bücher bis zu den großformatigen Scherenschnitten seiner letzten Jahre, die eine erstaunliche Frische besitzen. Die Maquetten für das 1947 veröffentlichte Buch "Jazz" stellten einen Wendepunkt für ihn dar - zum ersten Mal sah er den Scherenschnitt als eigenständiges Kunstwerk.
Das Zentrum der letzten 17 Jahre seines Lebens war das Atelier, wo er Tag und Nacht verbrachte, arbeitete, schlief, wegen seiner Krebskrankheit Schmerzen aushalten musste. Und doch schuf er hier Werke voller Farbigkeit, die eine unglaubliche Lebensfreude ausstrahlen. Die Wände des Ateliers wurden ihm zur Leinwand, auf ihnen befestigten Assistenten mit Reißzwecken die ausgeschnittenen Papierstücke nach seinen Anweisungen, die zu Schwalben im Flug wurden, zu Bienenschwärmen, zu Laub und zu menschlichen Formen. In einem Raum haben die Kuratoren den Versuch gemacht, eine solche Wand im Atelier nach einem Foto zu rekonstruieren. So ganz gelang es nicht, doch das Ergebnis ist eine wahre Farborgie. Alles bewegt sich, tanzt, pulsiert.
Der Grund, warum diese rekonstruierte Wand nicht so ganz funktioniert, ist, dass die einzelnen Arbeiten in Rahmen gezwängt sind. An der Wand im Atelier waren sie frei, konnten ausufern, sich bewegen. Dass sie mit Reißzwecken befestigt waren, gab ihnen Plastizität und Tiefe. Erst später wurden sie auf weißes Papier aufgezogen, abgeflacht, und dann auf Leinwand, wieder in einem Viereck eingeschlossen, dem sie durch die Schere des Künstlers entflohen waren.
Die vier blauen Akte
In einem Raum hängen die berühmten vier blauen Akte, die er im Frühjahr 1952 schuf, zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder vereint. Er begann mit der Arbeit an Akt Nummer vier, der aber als letzter fertig wurde. Er bereitete ihm offensichtlich Schwierigkeiten, kaum zu erkennende Striche mit dem Kohlestift und übereinander geschichtete blaue Papierstückchen zeugen davon. Die anderen drei Akte sind ohne abzusetzen aus einem Stück Papier geschnitten. Sie sind das treffendste Beispiel für das, was Matisse selbst "direkt in die Farbe schneiden" nannte, und haben etwas Skulpturales.
Die letzten Räume der Schau zeigen dann die in den letzten Lebensjahren entstandenen Arbeiten. Je sicherer er mit der Schere wurde, desto ehrgeiziger wurden er und seine Formate. "Der Sittich und die Meerjungfrau" von 1952 misst über sieben mal drei Meter, zwischen dem Vogel und der Jungfrau schweben vielfarbige Blätter. "Große Dekoration mit Masken" misst gar zehn mal drei Meter und entstand ein Jahr vor seinem Tod. Eine von vier Maquetten für eine Keramikwand, die ein amerikanisches Sammlerehepaar bei ihm bestellt hatte. Dass ein 84-jähriger, vom Tod gezeichneter Künstler solche lebensbejahenden Bilder schaffen konnte, ist ein wahres Wunder.