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Henri Thomas: "Der Kohlenkübel"
Im Seelenlabyrinth

Das erste Buch des großen Unbekannten Henri Thomas: Der 1940 erschienene Roman ist eine Art französischer "Törleß" und führt in eine düstere Internatswelt, in das poetische Universum eines literarischen Außenseiters.

Von Dorothea Dieckmann |
Ein Portrait des Schriftstellers Henri Thomas und das Buchcover seines Romans "Der Kohlenkübel"
In Frankreich gilt Henri Thomas als einer der großen Verkannten, und von den zahlreichen Büchern des stillen Solitärs liegen nur wenige auf Deutsch vor. Aufsehen erregte lediglich die unvollendet gebliebene Übersetzung seines Romans „Das Vorgebirge“ durch Paul Celan, deren vervollständigte Version der Suhrkamp Verlag erst Jahrzehnte später veröffentlichte. Die Pflege des Thomas’schen Werks hat dagegen der Wiener Klever Verlag übernommen, der nun die mittlerweile vierte Thomas-Übersetzung des verdienten Leopold Federmair vorlegt. „Der Kohlenkübel“, erschienen 1940 als erste Veröffentlichung des Autors, erfüllt ein schlichtes Genre: das des Internatsromans. Schauplatz ist ein Städtchen in den Vogesen; die Zeit: ein November im scheinbar noch fernen Krieg; das Wetter: Regen, Regen, Regen.

 „Durch die Fensterscheibe, über die Regenwasser rinnt, betrachtet er die verschwommenen Umrisse der Häuser (...); [sie] stecken in der Nacht und im Regen wie Felswände; das ganze Leben hat sich auf seinem Grund zusammengekauert (...). Er schaut, und genau das ist seine Domäne, diese Einsamkeit, dieses namenlose Außer-sich-Sein, wo er sich sacht von einer Schulter auf die andere rollt: die Nacht sehen, schweigen …“


 Multiperspektivische Erzählung


Der Schüler Paul, der hier im Schlafsaal liegt, zweifellos ein Alter Ego des Autors, wird im Lauf der Handlung den Impulsen einer seltsam passiven Rebellion folgen und aus dem Internat fliehen. Warum?
„Wichtig ist nur, zu verschwinden und ganz auf der Suche zu sein … Paul fragt sich nicht, wonach; er hat nicht den geringsten Zweifel; die Dinge um ihn herum, ein Sonnenstrahl, der dort drüben die glatte Stuhllehne berührt – alles drängt ihn mit bestürzender Zartheit, schnell darin einzutauchen. Kein Haß, keine Revolte, nur eine Art klammes Staunen, in dem sich vielleicht irgendein kleiner Satz bildet, den er in das Heft schreiben kann, das er in der Westentasche trägt.“
Pauls Antipode ist der Schüler Tessier, den ein böses Begehren zu Intrigen und Machtspielchen treibt, denen der neue Küchenjunge Louis zum Opfer fällt. In kurzen Kapiteln beleuchtet die multiperspektivische Erzählung jedoch vor allem das Innenleben der Erwachsenen. Da sind der senile, lüsterne Direktor, der jüdische, aus Deutschland emigrierte Lehrer Klaus und seine Frau, Wäscherin im Internat, der Geschichtslehrer Dumont, den ein chronischer Juckreiz quält, und vor allem das unglückliche Faktotum der Schule, ein verwirrter Säufer, dem der Roman seinen Titel verdankt. Denn der Alte trägt neben einem Besen stets auch einen Kohlenkübel herum, den er nicht mehr braucht, seit eine Zentralheizung seine geliebte Arbeit des Ofenheizens überflüssig macht. Obwohl fast taub, erreicht sein Ohr dennoch immer sein Spitzname, der zischende Scheuchlaut „Hüch“, mit dem der Übersetzer gekonnt das französische „Cheu“ wiedergibt.


Phänomenologie der Seelenregungen

Vom Dachboden bis zum Keller verkörpert das Internatsgebäude die labyrinthische Innenwelt seiner Protagonisten und ihre verschlungenen Gemütszustände, in denen sich feinste Sensationen zu Katastrophen oder Euphorien steigern können. Beim Küchenjungen Louis etwa entfaltet eine geheime Idee magische Wirkung:
 „Er hielt einfach an dieser unverhofften Idee fest und folgte ihr (...). Sie erschien ihm jedesmal auf Umwegen, durch ganz kleine Wirkungen, und diese Wirkungen lagen ihrerseits im Dunkel und ließen (...) sein Herz klopfen. Zum Beispiel wußte er, daß er sich nicht mehr auf das Treppenhausgeländer stützen, an den Gangfenstern nicht mehr stehenbleiben und den Fenstervorhang in seiner Mansarde nicht schließen durfte, tagsüber genauso wie nachts.“
Die flackernden, gleichsam in Schwarzweiß gehaltenen Suchbewegungen machen die Lektüre zu einem Tauchgang in die Unterwelt der Seele – und das ohne jede Psychologie. Bei Klaus herrscht, so wörtlich, ein „Karneval der verrückten Ideen“, Lehrer Dumont erlebt Exkursionen in seine „kleine persönliche Hölle“. Und die äußere Handlung? Louis wird vertrieben, Paul reißt aus, der Jude Klaus wird seine Frau verlassen und weiterziehen, der alte Hüch kommt zu Tode. Doch Henri Thomas’ Romane verweigern sich kategorisch einer Reduktion auf den Inhalt. In seinem Erzählkosmos ist der dramatische Plot nur Anlass für eine Phänomenologie existenzieller Erschütterungen auf der Folie einer kruden, oft düsteren Außenwelt. Kein Wunder, dass Thomas im „Kohlenkübel“ unter den vielen fiktiven Namen von Ortschaften, Buchtiteln oder Buchautoren nur einen Klarnamen nennt – den von Franz Kafka. Kein Wunder auch, dass seine Literatur von Zeitgenossen wie Jacques Derrida oder Georges Perec geschätzt wurde. Mit seinen Büchern, so Perec, habe Thomas einen Weg gefunden, sein ganzes Leben in Worte zu fassen. Wer ihn liest, entdeckt ein Stück Weg zu sich selbst.
Henri Thomas: "Der Kohlenkübel".
Aus dem Französischen von Leopold Federmair.
Klever Verlag Wien, 166 Seiten, 20 Euro