Können allein reicht nicht aus, als Historiker muss man manchmal auch Glück haben. So manch einer durchstöbert sein Leben lang Archive, ohne je einen spektakulären Fund zu machen, andere hingegen landen schon in jungen Jahren einen echten Coup. Zu ihnen zählen zweifellos die 35-jährigen Historiker Henrik Eberle und Matthias Uhl, die eher zufällig in einem Moskauer Archiv auf ein Dokument mit dem Titel "Das Buch Hitler" stießen. Schnell, so Matthias Uhl, wurde die Besonderheit dieser Papiere deutlich:
"Das Eigentümliche an dem Buch ist die Entstehungsgeschichte. Es ist im Rahmen einer Geheimdienstoperation entstanden, deren Hintergrund war, dass Stalin zunächst nicht glauben wollte, dass Hitler tot war. Und der hatte seine verschiedenen Geheimdienste beauftragt, nähere Informationen zum Tod Hitlers beizuziehen."
Der Auftrag lautete, ein einziges Exemplar für einen einzigen Leser herzustellen: für Josef Stalin. Der wollte nicht nur wissen, dass Hitler tatsächlich tot war, er wollte auch erfahren, wer dieser Hitler gewesen war. Er wollte den privaten Hitler vorgeführt bekommen, die große Politik interessierte ihn nicht. Die beiden Kronzeugen des Buches mussten ihm diesen Wunsch erfüllen: Otto Günsche, persönlicher Adjutant Hitlers, sowie dessen Kammerdiener Heinz Linge. Die beiden hochrangigen SS-Offiziere waren in den letzten Kriegstagen in sowjetische Gefangenschaft geraten und wurden in den Geheimdienst-Verhören über ihren alten Chef befragt. Wie verlangt, lieferten sie viel und gern Privates. Etwa über den "Führer" auf dem Obersalzberg, wo er den Blick aus dem riesigen Panoramafenster genoss:
"Hitler machte jeden Gast auf dieses Fenster aufmerksam, durch das sich ein herrlicher Blick auf die Alpen und die Stadt Salzburg in Österreich eröffnete. An den Wänden der Halle hingen Gobelins und Gemälde, darunter die Venus von Tizian. Auf dem Bechstein-Flügel stand eine Büste von Richard Wagner. Hier, am großen Kamin, pflegte Hitler seine Abende im intimen Kreis bei Tee und Schallplattenmusik vom Grammophon zu verbringen."
Diese Beschreibung macht zugleich ein editorisches Problem deutlich: Die Herausgeber sahen sich gezwungen, größere oder kleinere Fehler in solchen Schilderungen zu korrigieren. In diesem Falle wiesen sie etwa fleißig darauf hin, dass das erwähnte Gemälde eben nicht "Venus" hieß, sondern "Venus und Amor", und auch nicht von Tizian stammte, sondern von seinem Schüler Paris Bordone. Das Ergebnis dieser Bemühungen sind die fast 600 Fußnoten, die zuweilen hilfreich, häufig auch unfreiwillig komisch wirken. Doch zurück zur Beschreibung Hitlers. Den ganz überwiegenden Teil des Buches bilden die Beschreibungen der Zeit nach dem Überfall auf die Sowjetunion – und ganz besonders die letzten Wochen im umkämpften Berlin. Dem Leser wird eindrücklich geschildert, wie Hitler zunächst noch fanatisch die drohende Niederlage abwenden will – und doch schon tief verzweifelt ist. Etwa als im April 1945 die Schlacht an der Oder tobte: Längst lagen die Nerven des obersten Feldherrn blank, und dann drang bei Küstrin auch noch die sowjetische Armee tief in die deutschen Stellungen ein:
"Der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe an der Oder, Generaloberst Heinrici, sah es als notwendig an, am Frontabschnitt westlich von Küstrin zurückzugehen, um eine Erweiterung des Durchbruchs zu verhindern. Hitlers Augen quollen aus den Höhlen. Auf seiner Stirn traten Zornesadern hervor. Er bellte: "Nein! Wir gehen keinen Meter zurück! Wenn wir uns an der Oder nicht halten, wo dann?""
Mit solchen Passagen sollte dem Leser des Buches – also Stalin – der Eindruck unmittelbarer Nähe zum historischen Geschehen vermittelt werden. Sei es beim letzten Geburtstag des Diktators oder der bizarren Hochzeit mit Eva Braun – fast aufdringlich wirkt diese geringe Distanz zu Hitler.
"Ich denke, das ist zum einen purer Voyeurismus, zum anderen ist es natürlich auch so, dass das Untersuchungsmaterial natürlich am dichtesten um die letzten Tage im Führerbunker ist. Und deshalb nimmt gerade dieser Zeitraum einen wichtigen Platz im Buch Hitler ein, er ist am dichtesten überliefert, er stellt auch quasi den Kernpunkt der zahlreichen Verhöre dar, und deshalb kann es uns nicht weiter verwundern, dass gerade die letzten Tage des Hitler-Regimes so dicht überliefert sind."
Hier mussten die verhörten SS-Offiziere peinlich genau berichten, was sie erlebt hatten. Wie die Verzweiflung bei Hitlers Satrapen um sich griff, wie sich so viele noch kurz vor Schluss aus dem Staub machten, weil sie – so suggeriert es der Text – doch im Grunde nur Feiglinge waren. Wie Hitler, der Realität längst entrückt, immer noch an die Wende des Kriegs glaubte, als sowjetische Granaten längst in Hörweite einschlugen. Und dann schließlich, penibel nacherzählt, das dramatische Finale: Hitlers Selbstmord und wie seine engsten Mitarbeiter ihn entdeckten:
"Linge öffnete die Tür und trat zusammen mit Bormann ein. Ihnen bot sich folgendes Bild: Links auf dem Sofa saß Hitler. Er war tot. Neben ihm die tote Eva Braun. An Hitlers rechter Schläfe klaffte eine pfenniggroße Einschusswunde, über die Wange liefen zwei Blutspuren. Auf dem Teppich neben dem Sofa hatte sich eine tellergroße Blutlache gebildet. Wand und Sofa waren blutbespritzt. Hitlers rechte Hand lag auf dem Knie mit der Handfläche nach oben, die linke hing am Körper herab. "
So hatte es sich tatsächlich zugetragen. Für Matthias Uhl einer von verschiedenen Belegen dafür, dass man dieser Quelle hinsichtlich der darin enthaltenen Informationen durchaus vertrauen darf:
"Das Buch ist entsprechend den besonderen Umständen seiner Entstehung erstaunlich dicht an der historischen Wahrheit. Das ist umso erstaunlicher, als sowohl die Verhörenden, also die verhörenden Gemeindienstoffiziere, als auch die Befragten offensichtlich ja keine oder kaum Unterlagen schriftlicher Art hatten. Alles wurde im Rahmen mündlicher Verhöre rekapituliert. Und wenn man das Buch Hitler durchsieht, so muss man doch feststellen, dass der größte Teil der historischen Fakten relativ genau überliefert ist."
Doch was wird tatsächlich überliefert? Matthias Uhl und Henrik Eberle weisen darauf hin, dass es blinde Flecken in diesem Buch gibt. So wird der Hitler-Stalin-Pakt nicht erwähnt, weil dies politisch selbstverständlich nicht opportun war. Und vor dem Hintergrund der antisemitischen Stimmung in der Sowjetunion blieb sogar die Ermordung der europäischen Juden vollständig ausgeblendet. Stalin wollte lediglich das persönliche Versagen Hitlers nachvollziehen können, das Scheitern eines Größenwahnsinnigen, die Niederlage eines militärischen Leichtgewichts, das sich als großer Feldherr aufspielte. Aber die Eckpfeiler der NS-Ideologie bleiben unerwähnt. Das macht das "Buch Hitler" zu einem Sonderfall: Ohne entsprechende Kontextualisierung wird hier eine Person beschrieben, an der Auftraggeber und Autoren ein sehr ausschnitthaftes Interesse hatten. Kann ein solcher Text unser Wissen über den Diktator also überhaupt ergänzen, gar in Frage stellen?
"Ich denke, das Bild von Hitler wird nicht völlig über den Haufen geworfen. Ich denke, es war uns wichtig, das Hitler-Bild in bestimmten Facetten zu ergänzen. Zum einen sehen wir sozusagen Hitler als Feldherrn, der immer wieder in Konflikt mit seinen Generälen gerät, zum anderen aber auch sozusagen sehen wir zum Beispiel die Beziehung zwischen Hitler und Eva Braun neu. Also offensichtlich hat Hitler Eva Braun nicht nur als Mätresse behandelt, sondern es gab auch irgendeine irgendwie geartete Beziehung zwischen den beiden."
Hier ist Widerspruch nötig: Hitlers Rolle als Feldherr wird keineswegs neu definiert: Wie er tobt und wie er wahllos hohe Offiziere entlässt – das war im Prinzip längst bekannt. Und zu Eva Braun lässt sich substantiell ebenfalls wenig Neues finden. Hier sind die Herausgeber in der Begeisterung über die aufgefundene Quelle doch ein wenig zu optimistisch, was deren Bedeutung angeht. Tatsächlich werden spürbare Korrekturen an unserem Bild von Hitler durch das Buch nicht provoziert. Was also sollen wir damit anfangen? Zunächst einmal gilt festzuhalten, dass es sich selbstverständlich um kein geschichtswissenschaftliches Werk handelt. Vielmehr ist es ein in erster Linie politisch motiviertes, vom Charakter her literarisches Zeugnis, wenngleich auf dürftigem Niveau. Es ist ein eigentümliches Dokument der Zeitgeschichte, eine Quelle, der wir mit größter Skepsis begegnen sollten, aber an keiner Stelle eine interpretatorische, analytische Leistung. Doch bei aller notwendiger Kritik: Die beiden Herausgeber haben richtig gehandelt und ihren schillernden Archivfund publiziert. Solche Dokumente dürfen nicht weggeschlossen werden, so dass sie im schlimmsten Fall noch irgendwelchen Mythisierungen Vorschub leisten. Vielmehr gehören sie in die Öffentlichkeit, wo sie gelesen und gewogen – und in diesem Fall für zu leicht befunden werden.
Tillmann Bendikowski über "Das Buch Hitler". Geheimdossier des NKWD für J.W. Stalin. Veröffentlicht im Lübbe Verlag Bergisch Gladbach, das Buch umfasst 672 Seiten und kostet 24 Euro und 90 Cent.