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Henry Kissinger
Doch ein Idealist?

Henry A. Kissinger gilt als Paradebeispiel eines Realpolitikers ohne Skrupel. Dem will Niall Fergusons mit einer Biografie "Kissinger. Der Idealist" entgegen treten - genau das ist aber die größte Schwäche des Buches, dieser Versuch wirkt sehr bemüht.

Von Marcus Pindur |
    Henry A. Kisinger, ehemaliger Nationaler Sicherheitsberater
    Henry A. Kissinger, ehemaliger Nationaler Sicherheitsberater (dpa / picture alliance / Ron Sachs)
    An Henry A. Kissinger haben sich schon viele Geister geschieden. Als Macchiavellist, als Realpolitiker der skrupellosesten Sorte haben ihn akademische und journalistische Kritiker seit Jahrzehnten gebrandmarkt.
    Die monumentale Biografie Niall Fergusons will dem explizit entgegentreten. Das macht schon der Titel deutlich: "Kissinger: Der Idealist." Damit soll ein Kontrapunkt gesetzt werden zur verbreiteten Beschreibung des Akademikers und Politikers Kissinger als machtverliebt, rücksichtslos und amoralisch, allein dem Machtgleichgewicht auf dem global-strategischen Schachbrett verpflichtet.
    Ferguson beschreibt den intellektuellen Werdegang Kissingers. Und diese Geschichte, verknüpft mit der Weltpolitik der 30er- bis 60er-Jahre, erzählt Ferguson ganz hervorragend und mit großer Liebe zum Detail. Er schildert einen ehrgeizigen und überaus talentierten jungen Mann, der aus seinem Leben im Lande des Exils, den USA, eine Erfolgsgeschichte macht. Der junge Kissinger begriff die Chancen seiner neuen Heimat stets als Chancen der Freiheit und der Selbstbestimmung. Kissinger sei ein Anti-Materialist gewesen, so Ferguson.
    "Kissinger lehnte den Marxismus-Leninismus, die materialistische Ideologie der Sowjetunion ab. Er lehnte aber auch die kapitalistische Version des Materialismus ab. Er lehnte den Glauben seiner Freunde in Harvard in den 50er-Jahren ab, man müsse die Sowjetunion lediglich wirtschaftlich überflügeln. Kissinger war der Ansicht, der Kalte Krieg müsse gewonnen werden, weil Freiheit als ein Grundwert dem Kommunismus überlegen sei. Und damit hat er Recht behalten."
    Ferguson gelingt es in seinem quellengesättigten Werk ohne Zweifel, den Blick auf Kissinger als reinen Machtfetischisten zu widerlegen, und dennoch ist die Festschreibung Kissingers auf den Begriff eines Idealisten die wohl größte Schwäche seines Buches.
    Der Begriff des Idealismus ist in der Außenpolitik der USA mit Präsident Woodrow Wilson verbunden, der nach dem Ersten Weltkrieg, der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, glaubte, die USA und den Rest der Welt unter das Prinzip des internationalen Rechtes stellen zu können, ohne dies durch eine robuste Machtpolitik zu unterfüttern. In diesem Sinne ist Kissinger ganz bestimmt kein Idealist. Ferguson verweist immer wieder auf den Idealismus Immanuel Kants, dessen Studium besonders die erste Phase des akademischen Lebens Kissingers geprägt habe.
    Konstruktion eines Idealisten wirkt sehr bemüht
    Es gelingt Ferguson jedoch nicht, zu belegen, was dies konkret bedeuten soll. Ferguson lässt dabei auch außer Acht, dass die amerikanische realistische Schule der internationalen Beziehungen – verkörpert von Hans Morgenthau und George F. Kennan - ursprünglich sowohl eine Anerkennung machtpolitischer Realitäten als auch ein Wertefundament in der westlichen Demokratie beinhaltete. Die Konstruktion eines Idealisten Kissinger durch Ferguson ist insofern wenig aussagekräftig, sehr bemüht und geht am Kern seiner eigenen Biografie vorbei.
    Denn das Werk Fergusons beschreibt die Evolution Henry Kissingers insgesamt sehr überzeugend.
    "Der Kerngedanke Kissingers ist, dass es einer internationalen Ordnung bedarf, sonst herrschen Chaos und Konflikt. Revolutionäre Mächte sind die große Bedrohung der internationalen Ordnung. Napoleon und Hitler waren solche Bedrohungen. Als junger Akademiker beschäftigte sich Kissinger viel mit der Frage, ob die Sowjetunion immer noch eine revolutionäre Macht war. Und im Laufe der Zeit wurde ihm klar, dass das nicht länger der Fall sein mochte. Und somit müsse es möglich sein, die Sowjetunion in eine von den USA entworfene Weltordnung hineinzuziehen."
    Anders als viele Zeitgenossen habe Kissinger erkannt, dass innerhalb dieser Ordnung unterschiedliche Mächte auch unterschiedliche, historisch gewachsene Eigenschaften haben könnten. Kissinger gehörte nicht zu denjenigen amerikanischen Strategen, die die Welt als Ebenbild der USA neu erschaffen wollten. Das besondere an Kissingers Denken ist es, die internationale Ordnung nicht nur systemisch zu betrachten - wozu Politikwissenschaftler neigen -, sondern ihre historische Tiefendimension als entscheidend zu erkennen. Geschichte ist für Staaten, so Kissinger, was der Charakter für Menschen ist.
    "Wer sich nicht mit der Geschichte befasst, kann das Verhalten anderer Staaten nicht verstehen. Man kann Putins Verhalten nicht ohne Kenntnis der russischen Geschichte verstehen. Und er nimmt ständig auf diese Geschichte Bezug. Auch die Chinesen tun das. Kissingers Argument war und ist, dass Amerikaner darin schlecht sind. Die meisten amerikanischen Politikmacher denken nicht historisch. Kissingers Verdienst ist es, geschichtliche Tiefe mit internationaler Ordnung und internationalen Beziehungen zu verbinden. In diesem Sinne ist dies ein Buch über angewandte Geschichtswissenschaft."
    Seine Recherchereise nach Vietnam 1965 sei der Wendepunkt gewesen, an dem sich Kissinger von Idealisten zu einem Machtpolitiker, einem Realisten gewandelt habe. Einer der Hauptvorwürfe an Kissinger ist es bis heute, er habe den Krieg in Vietnam unnötig durch seinen Verhandlungspoker verlängert. Das sei eine unhistorische Bewertung, weil sie den damaligen Handlungsspielraum unterschlage, so Ferguson.
    "Eine der Fragestellungen in meinem zweiten Band wird sein, ob es einfache Ausstiegsszenarien aus dem Vietnamkrieg gegeben hat. Es ist ziemlich klar, dass es die 1969, als Kissinger Sicherheitsberater wurde, nicht mehr gab. Wir müssen uns deshalb immer eine typische Kissinger-Frage stellen: Was waren die realistischen Alternativen zur damaligen Zeit? Nicht: Was ist rückblickend wünschenswert und ideal?"
    Auf der Linken machte man Kissinger das Paktieren mit Militärregimen zum Beispiel in Chile und in Argentinien zum Vorwurf. Konservative betrachteten seine Öffnungspolitik gegenüber China und der Sowjetunion als zu weich und wertevergessen – dies war übrigens ein Grund, warum Kissinger in der Reagan-Administration keine Rolle mehr spielte. Man darf gespannt sein, wie Ferguson im zweiten Band seiner Biografie mit dem Machtpolitiker Kissinger umgeht.
    Niall Ferguson: "Kissinger. Der Idealist. 1923-1968"
    Band 1, Propyläen Verlag, 1119 Seiten, 49 Euro