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Außenpolitik
Henry Kissinger schreibt über „Staatskunst“

Der frühere US-Außenminister Henry Kissinger gilt als wacher Beobachter der internationalen Politik. In seinem neuen Buch skizziert er das Werk sechs bedeutender PolitikerInnen des 20. Jahrhunderts. Und er erinnert daran, dass sie Erfolg hatten, weil sie nicht mit dem Kopf durch die Wand wollten.

Von Michael Kuhlmann | 04.07.2022
Henry Kissinger: „Staatskunst. Sechs Lektionen für das 21. Jahrhundert“
Zu sehen ist das Buchcover, auf dem Henry Kissinger abgebildet ist. Im Hintergrund die Flagge der USA.
Henry Kissinger: „Staatskunst. Sechs Lektionen für das 21. Jahrhundert“ (Buchcover: C.Bertelsmann Verlag / Foto: imago / Shotshop)
Wohl selten legt ein knapp Hundertjähriger ein Buch vor, das so aktuell ausfällt. Um Sechs Lektionen für das 21. Jahrhundert geht es laut Untertitel; und Henry Kissinger portraitiert sechs Vorbilder. Wie bewältigten sie die kaum lösbaren Probleme, denen sie gegenüberstanden: mitten im Kalten Krieg, angesichts tiefer Wirtschafts- und Währungskrisen? Kissinger wird da ganz grundsätzlich:
„Die wichtigsten Eigenschaften bei diesen Aufgaben sind Mut und Charakter – Mut, um unter komplexen und schwierigen Optionen eine Richtung zu wählen und damit das Althergebrachte hinter sich zu lassen; und Charakterstärke, um einen Kurs beizubehalten, dessen Nutzen und Risiken im Moment der Entscheidung nur unvollständig abgeschätzt werden können. “

Sechs wegweisende Köpfe

Konrad Adenauer habe einen Teil des diskreditierten Deutschland in die internationale Politik zurückgeführt. Margaret Thatcher, Charles de Gaulle und auch der singapurische Premier Lee Kuan Yew hätten ihre Länder aus moralischen und sozioökonomischen Tiefen wieder emporgebracht. Anwar el-Sadat habe Ägypten aus einer strategischen Sackgasse befreit und mutig Frieden mit Israel geschlossen. Bei US-Präsident Richard Nixon wiederum schlägt das Buch den Bogen zur Gegenwart:
„Erneut stehen heute die Vereinigten Staaten in fast allen Regionen der Welt vor großen, miteinander verflochtenen Problemen, die sowohl ihre Strategien als auch ihre Werte in Frage stellen. Die amerikanische Außenpolitik braucht eine flexiblere Einstellung gemäß Nixons Beispiel, die zugleich realistisch und kreativ ist. Drei vertraute Maximen seiner Staatskunst würden den Vereinigten Staaten auch weiterhin zum Vorteil gereichen: die zentrale Bedeutung des nationalen Interesses, das Bewahren des globalen Gleichgewichts und das Initiieren anhaltender und intensiver Gespräche zwischen den gewichtigen Ländern.“

Plädoyer für den Neorealismus

Kissinger liegt also wie gewohnt ganz auf der Linie des Neorealismus: einer Denkweise in der internationalen Politik, die idealistischen Hoffnungen auf Friedensdividenden von jeher skeptisch gegenüberstand – die aber zugleich akzeptiert, dass man nicht mit dem Kopf durch die Wand kommt. Schon gar nicht in Verhandlungen mit Moskau. Margaret Thatcher brachte das schon 1983 auf den Punkt, wie Kissinger zitiert:
„Wir sollten uns nicht über den wahren Charakter der Sowjetunion täuschen – aber wir müssen mit den Sowjets auf demselben Planeten leben. Deshalb ist es die Schlüsselfrage, wie unsere künftigen Beziehungen aussehen werden.“
Gerade die Kapitel über Margaret Thatcher und Richard Nixon erinnern daran, wie Polit-Profis und ihre Berater – bei all ihren Schwächen und Fehlern – brisante internationale Krisen zu entschärfen vermochten. Thatcher und Nixon mussten dabei an zwei internen Fronten kämpfen: gegen die Friedensbewegten, aber ebenso gegen die Falken, die nicht begreifen wollten, wie gefährlich ein besiegtes und gedemütigtes Moskau sein würde. Heute scheint das im Westen vergessen zu sein.

Der Wert eines strategischen Dialogs

Kissinger selbst hat sich unlängst Feinde gemacht mit dem Rat, den russischen Krieg gegen die Ukraine auf dem Verhandlungswege zu beenden. Aber ganz zu Recht hält er dem Westen im Buch vor, dass er vor Jahren einen – so wörtlich – strategischen Dialog mit Russland bestenfalls halbherzig geführt habe. Und heute scheint der Westen noch etwas nur halbherzig zu tun, was die Protagonisten dieses Buches hingegen beachteten: Jede politische Analyse muss auch fragen, wie die Gegenseite eine Situation überhaupt wahrnimmt. Egal wie schief oder falsch also die heutige Moskauer Wahrnehmung ist: Sie bestimmt nun einmal mit, wie Russland handelt. Kissinger befindet:
„Die russische Außenpolitik übersetzt einen mystischen Patriotismus in ein imperiales Anspruchsgehabe – das aber mit einem dauerhaften Unsicherheitsgefühl verbunden ist, welches sich letztlich aus der seit Langem empfundenen strategischen Verwundbarkeit für Invasionen über die Osteuropäische Ebene ableiten lässt.“
Jetzt noch eine Außenpolitik nach dem Gusto westlicher Hardliner zu betreiben, hält Kissinger für riskant: gegenüber Russland, und auch gegenüber China.
„Sie wird letztlich einen ähnlich verheerenden Teufelskreis gegenseitigen Misstrauens erzeugen, der seinerzeit den Ersten Weltkrieg auslöste, aber mit unvergleichlich schrecklicheren Folgen. Alle Seiten sind daher gehalten, die Leitprinzipien internationalen Verhaltens zu überprüfen und sie mit den Möglichkeiten einer Koexistenz in Einklang zu bringen.“

Die Gefahr eines gedemütigten Riesen

Denkt man die Alternative durch, nach der nur ein in der Ukraine besiegtes Russland ein gutes Russland wäre, hat Kissingers Sicht viel für sich – denn eine konventionell besiegte, aber gedemütigte atomare Supermacht wäre in der internationalen Politik ein gefährlicher Unruhefaktor. Das Buch gibt also anhand seiner positiven Beispiele Fingerzeige, wie man versuchen könnte, aus der derzeitigen Sackgasse herauszufinden. Überdies ist es mit seiner Fülle von Einblicken in Details unterschiedlichster politischer Weichenstellungen eine sehr kurzweilige Lektüre. Enttäuscht wird man allerdings, wenn man hier auf kritische Biographien der sechs Protagonisten hofft, oder auch auf Selbstkritik des Autors: Kissinger streift nur unangenehme Punkte wie die Unterstützung lateinamerikanischer Militärdiktaturen, die Offensive gegen Kambodscha im Vietnam-Krieg oder die Watergate-Affäre. Und dass man sich mit der von Margaret Thatcher forcierten Liberalisierung der Finanzmärkte auch eine Menge Probleme einhandelte, kommt mit keinem Wort zur Sprache.
Kommende Politikergenerationen sollten nach Kissingers Ansicht nach politisch-diplomatischem Können rekrutiert werden. Er spricht von einer Meritokratie. Allerdings:
„Damit die Meritokratie wiederbelebt werden kann, müsste humanistische Bildung ihre frühere Bedeutung wiedererlangen und auch Fächer wie Philosophie, Politik, Humangeografie, moderne Sprachen, Geschichte, Wirtschaftstheorie, Literatur und vielleicht sogar das Studium der klassischen Antike beinhalten – somit eben jenen Wissensfundus aufbauen, der früher zur Grundausbildung des Staatsmannes zählte.“
Eine Aufzählung, die Kissinger noch ergänzt um die Forderung nach ‚Tugenden‘: des maßvollen, vorausschauenden Handelns und der Rücksicht auf Rechte anderer. Auf den ersten Blick mag das altmodisch klingen – aber Kissingers Forderung ist nicht von der Hand zu weisen. Denn sonst landet man wohl auch künftig bei Donald Trump, Marine LePen und Boris Johnson – und damit im politischen Bankrott.
Henry Kissinger: „Staatskunst. Sechs Lektionen für das 21. Jahrhundert“, Übersetzt von Henning Dedekind, Helmut Dierlamm, Karlheinz Dürr, Anja Lerz, Karsten Petersen, Sabine Reinhardus, Karin Schuler und Thomas Stauder, Verlag C. Bertelsmann, 608 Seiten, 38 Euro.