Es gibt Autoren, denen man als Leser gerne aus vollem Herzen zustimmt, weil man ihre Persönlichkeit so schätzt. Und dann gibt es Autoren, denen man eher zähneknirschend Recht gibt, da man ihnen diesen Triumph eigentlich nicht gönnen mag. Zu dieser Gattung gehört für viele Menschen Henry Kissinger, Harvard-Professor, außenpolitischer Vordenker zahlreicher US-Präsidenten, Friedensnobelpreisträger - aber auch Mit-Architekt des Vietnamkrieges und einer Form von Außenpolitik, der viele Zynismus und fehlende Moral vorhalten.
Doch Kissinger beweist in seinem neuen Buch wieder einmal eine ungewöhnliche Fähigkeit - nämlich abstrakte Gedanken über die Grundlagen von Außenpolitik mit einzigartiger praktischer Erfahrung in einer Weise zu kombinieren, die dem Leser buchstäblich erklärt, was die Welt im Innersten zusammenhält. Oder eben nicht zusammenhält, denn der große Realist Kissinger mag ob der weltpolitischen Realität im Jahr 2015 schlicht verzweifeln, wie er im US-Sender C-Span erläuterte:
"Es gibt heute keine Weltordnung, das hat mich angetrieben, mein Buch zu schreiben. Ich aß mit einem Freund zu Abend, einem Professor in Yale, und wir diskutierten verschiedene Buchideen, von denen die meisten um historische Ereignisse kreisten. Und mein Freund sagte: Darüber hast du viele Bücher geschrieben, warum schreibst du nicht eins über deine größte Sorge im Moment? Und meine größte Sorge ist derzeit dieses Fehlen einer Weltordnung."
Weshalb es an dieser Ordnung mangelt, erklärt Kissinger dem Leser in brillanten Kapiteln zur Rolle des Staates an sich, der Entwicklung in Europa, der arabischen Welt, den USA sowie Asien. Der Autor, der sich schon als junger Forscher leidenschaftlich mit Metternich, Bismarck und deren System des Machtausgleichs befasst hat, sieht genau diesen Ausgleich durch die Veränderungen der modernen Welt bedroht - in der zwar jeder mit jedem kommunizieren könne und alle auf alle Informationen weltweit Zugriff hätten, es aber dennoch an Verständnis füreinander fehle, wie Kissinger schreibt:
"Neue Methoden der Verfügbarkeit und der Weitergabe von Informationen verbinden und einen die Regionen dieser Welt wie nie zuvor und projizieren jedes Ereignis auf eine globale Ebene. Doch das geschieht auf eine Art und Weise, die jede Reflexion behindert und die politischen Führer zwingt, ihre Reaktionen unverzüglich kundzutun, und das in der möglichst schlichten Form von Schlagzeilen."
Europa braucht Zukunftsvisionen
Kissinger beruft sich in seinem Buch immer wieder auf jene Ordnung, die der Westfälische Friede im Jahr 1648 schuf - also ein Machtgleichgewicht unter starken Parteien. Heute, da ähnliche Herausforderungen lauerten, sei vom "alten Kontinent" Europa hingegen kein ähnlich konstruktiver Beitrag zu erwarten, hadert Kissinger:
"Europa, das vor knapp einem Jahrhundert noch ein Quasi-Monopol auf die Gestaltung der globalen Ordnung hatte, läuft Gefahr, sich von der gegenwärtigen Suche nach einer gemeinsamen Struktur abzukoppeln, wenn es seinen inneren Aufbau letztendlich mit seinem geopolitischen Ziel gleichsetzt. Europa wendet sich just in einem Augenblick nach innen, da die Weltordnung, die es in bedeutendem Maße mit geschaffen hat, von zerstörerischen Entwicklungen bedroht wird, die alle Regionen, die ihre Mitgestaltung versäumen, am Ende in den Abgrund reißen könnte. So befindet sich Europa in einer Schwebe zwischen einer Vergangenheit, die es überwinden will, und einer Zukunft, für die es noch keine Vision entwickelt hat."
Doch woher soll der Impuls für eine neue Weltordnung kommen? Aus Asien, wo China sich weiterhin vor allem auf wirtschaftliches Wachstum konzentriert, oder aus der zerstrittenen arabischen Welt? Von beiden erwartet Kissinger wenig. Und die Vereinigten Staaten von Amerika, in vielerlei Hinsicht weiterhin die "unersetzliche Nation", wie einst Kissingers Nachfolgerin Madeleine Albright formulierte? Eine ambivalente Weltmacht sei das Land, schreibt Kissinger, stetig schwankend zwischen idealistischen und isolationistischen Tendenzen:
"In nur einem der fünf Kriege, die Amerika seit dem Zweiten Weltkrieg geführt hat – Korea, Vietnam, erster und zweiter Irakkrieg und Afghanistan - hat Amerika unter Präsident George H. W. Bush die Ziele, die er sich gesetzt hatte, erreichen können, ohne in den USA tiefe innergesellschaftliche Risse zu verursachen. Ein Land, das bei der Suche nach einer Weltordnung eine unverzichtbare Rolle spielen muss, sollte sich zuerst einmal die Aufgabe stellen, mit dieser Rolle und mit sich selbst ins Reine zu kommen."
Dass der Rückzug von der Weltbühne keine Option für die USA darstelle, daran lässt Kissinger keinen Zweifel - gerade in einer Zeit, in der ein archaischer Krieg "aller gegen alle" angesichts der weltweiten Krisen wieder möglich scheine.
Natürlich ist seine Botschaft in den USA und auch in Europa dennoch nicht nur auf offene Ohren gestoßen. Heftig kritisierten manche Rezensenten etwa, dass Kissinger seine Verantwortung für die Eskalation des Vietnam-Konflikts weiter herunterspiele - und nach wie vor nicht schlüssig erläutern könne, warum er als Realist die ideologischen Irak-Invasionsträume der Neokonservativen um George W. Bush unterstützte. Und doch zieht sich durch sein Buch eine feine Analyse der Psychologie der Macht, die Kissinger wie kaum ein zweiter versteht - wurde ihm doch selbst in seiner Karriere rücksichtsloses Machtstreben nachgesagt. Und so lohnt sich dieses Buch für jeden Leser, der die moderne Welt verstehen will, schon wegen Schlussfolgerungen, die das ewige Dilemma zwischen außenpolitischem Idealismus und Realismus klar in Worte fassen:
"Mit trügerischen Kalkülen angesichts wechselnder Machtkonstellationen stürzen sich Staaten ins Abenteuer. Andererseits führen moralische Imperative ohne das Streben nach Ausgewogenheit tendenziell zu Kreuzzügen oder zu einer Politik der Ohnmacht, die skrupellose Handlungen von Widersachern provoziert. Beide Extreme bergen das Risiko, den Erhalt der internationalen Ordnung zu gefährden."
Henry Kissinger: "Weltordnung"
Übersetzt von Karlheinz Dürr und Enrico Heinemann
C. Bertelsmann Verlag, 480 Seiten, 24,99 Euro
Übersetzt von Karlheinz Dürr und Enrico Heinemann
C. Bertelsmann Verlag, 480 Seiten, 24,99 Euro