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Henry Leide
"Auschwitz und Staatssicherheit"

Die DDR zog aus dem Antifaschismus ihre Existenzberechtigung. Laut Propaganda waren alle NS-Täter in den Westen geflüchtet, der Osten aber hatte aufgeräumt. Henry Leide widerlegt diesen Mythos und zeigt, wie die Stasi die Verfolgung von Auschwitz-Mördern hintertrieb, um im Ost-West-Konflikt zu punkten.

Von Jens Rosbach |
Auf dem Buchcover von Henry Leide: "Auschwitz und Staatssicherheit" ist der ehemalige stellvertretende SS-Standort und Lagerarzt Dr. Horst Fischer während seines Prozesses vor dem Obersten Gericht der DDR im März 1966 abgebildet. Im Hintergrund Berliner Mauer mit Stacheldraht am Potsdamer Platz am 30. September 1961 in schwarz weiß.
Henry Leide widerlegt in seinem Buch den Mythos vom antifaschistischen Musterstaat DDR. (Umschlagabbildung: bstu/ MfS/ Hintergrund: imago/Sabine Gudath)
In der DDR-Fernsehsendung "Der Schwarze Kanal" schwang Karl-Eduard von Schnitzler gern die Moralkeule. So wetterte der Chefpropagandist 1978, die Bundesrepublik habe keinen einzigen Nazi-Richter verurteilt und außerdem viele NS-"Mordgehilfen" wie auch Schreibtischtäter verschont.
"Wie sollte das auch, wenn Schreibtischtäter Staatssekretäre, Mordgehilfen Ministerpräsidenten und Hitlers Blutrichter in der freiheitlich-demokratischen Grundordnung wiederum Richter werden konnten und können. Aber das ist doch die Gesellschaft, die kapitalistische! Das ist doch der Staat!"
Tatsächlich sah es im sogenannten Arbeiter- und Bauernstaat nicht viel besser aus: In den 50er Jahren waren 27 Prozent aller SED-Genossen einst Mitglied einer NSDAP-Gliederung, weiß die Forschung heute. Was hingegen bis dato kaum bekannt ist: In der DDR konnten selbst ehemalige KZ-Aufseher unbehelligt leben. Wie die SS-Männer Paul Riedel, August Bielesch und Oskar Siebeneicher, die in Auschwitz bei der Selektion und Bewachung von tausenden Juden mitgewirkt haben. Nach dem Krieg arbeitete Riedel als Bergarbeiter in Sachsen, Bielesch als LKW-Fahrer in Vorpommern und Siebeneicher als Schmuckhersteller in Thüringen. Zwar durchleuchtete die Stasi die einstigen Mörder - verzichtete aber auf eine Strafverfolgung.
"Das Ziel der Staatssicherheit war weniger NS-Verbrechen zu ahnden, als vielmehr mittels dieser Akten die Auseinandersetzung mit der Bundesrepublik zu suchen."
Neue Gerichtsverfahren schlecht für Staatspropaganda
Henry Leide arbeitet in der Rostocker Außenstelle des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen und hat das Buch "Auschwitz und Staatssicherheit" verfasst. Darin zieht er eine bittere Bilanz: In dem NS-Vernichtungslager arbeiteten einst rund 8000 SS-Leute, von denen bis zu 6500 den Krieg überlebten. Von deutschen Gerichten wurden in der sowjetischen Besatzungszone - und anschließend in der DDR - aber lediglich 35 Auschwitz-Täter verurteilt. Der Hauptgrund: Jedes neue Gerichtsverfahren hätte die Staatspropaganda widerlegt, dass das braune Kapitel im sozialistischen Deutschland abgeschlossen sei.
"Bis auf wenige Ausnahmen ist nie systematisch nach NS-Tätern, auch nicht nach Auschwitz-Tätern in der DDR gesucht worden."
Dabei verfügte die DDR über ausreichend Recherchematerial. So hortete die Stasi-Hauptabteilung IX bis zu elf Kilometer Original-NS-Akten. Doch die Unterlagen waren streng geheim.
"Außerhalb des MfS wusste niemand von der Existenz dieses Aktenbestandes. Und dementsprechend stand er weder der Forschung noch der Justiz noch sonst irgendjemandem zur Verfügung."
Genutzt wurden die NS-Akten hingegen im Kampf gegen die Bundesrepublik. Leides Buch führt etwa ein Strategiepapier des SED-Politbüros von 1963 auf. Darin wird eine Kampagne gefordert zur Enthüllung einstiger Naziverbrecher im Westen.
"In jedem Fall muß sich jede Kampagne ... auf die Entlarvung und Anprangerung des gesamten Bonner Systems [...] richten. Jede Enthüllung muß dazu beitragen, den Charakter des imperialistischen westdeutschen Staates klar herauszustellen und demgegenüber die Rolle der DDR als des einzig rechtmäßigen deutschen Friedensstaates deutlich sichtbar machen."
Viele NS-Täter blieben unbehelligt
Das MfS nutzte vor allem die Auschwitz-Prozesse, die in den 60er Jahren in Frankfurt am Main liefen. Dort standen insgesamt fast drei Dutzend ehemalige KZ-Täter vor Gericht. Das Politbüro der SED beauftragte zu diesem Zweck eine Propaganda-Kommission. Geleitet wurde sie ausgerechnet von Gerhard Dengler, einem ehemaligen NSDAP- und SA-Mitglied, das später zum SED-Funktionär wurde. Die Kommission wollte den Kapitalismus als einzige Ursache des Faschismus darstellen und - laut einem "Maßnahmeplan" - den Frankfurter Auschwitz-Prozess zu einem Prozess gegen westdeutsche Konzerne machen.
"Insbesondere muß die maßgebliche Rolle des IG-Farben-Kriegsverbrecher-Konzerns bei den Verbrechen in Auschwitz enthüllt und zum Gegenstand des Prozesses und der Berichterstattung gemacht werden."
Gleichzeitig ließ die DDR viele KZ-Täter unbehelligt - auch um sie für eigene, klandestine Zwecke einzusetzen. Wie Josef Settnik, der in Auschwitz offenbar Häftlinge misshandelt und gefoltert hatte. Settnik wurde nicht vor Gericht gestellt, sondern 1964 von der Stasi als Inoffizieller Mitarbeiter "Erwin Mohr" angeworben. Er spionierte seine katholische Heimatgemeinde in Sachsen aus.
"Die Anwerbung von SS-Männern aus Auschwitz ist natürlich moralisch äußerst fragwürdig gewesen und kaum mit dem antifaschistischen Anspruch der DDR auf einen Nenner zu bringen."
Der Autor weist darauf hin, dass auch die Bundesrepublik KZ- und andere Nazi-Täter ungestraft davonkommen ließ. Allerdings habe sich der Westen auch nie damit gebrüstet, die braune Vergangenheit vorbildhaft aufzuarbeiten - im Gegensatz zur DDR.
"Es geht einfach darum, mittels der MfS-Akten die Propaganda vom besseren antifaschistischen deutschen Staat als Mythos zu überführen."
Henry Leide hatte bereits 2005 eine Studie über die Vergangenheitspolitik der DDR vorgelegt. Sein neues Werk "Auschwitz und Staatssicherheit" konzentriert sich ganz auf die Aufseher der größten NS-Todesfabrik. Anschaulich beschreibt der Experte, wie die Stasi aus rein taktischen, tagespolitischen Gründen selbst die brutalsten KZ-Mörder verschonte. Und kam es mal zu einer Verurteilung, dann handelte es sich um eine regelrechte, ideologische Inszenierung. Leides Untersuchung wartet mit einer Fülle von Personen, Daten und Akten auf - und ist dennoch flüssig geschrieben. Das Buch würde jeden Geschichtsunterricht bereichern, weil es auf besonders eindrückliche Weise die Verlogenheit des DDR-Staates aufzeigt.
Henry Leide: "Auschwitz und Staatssicherheit. Strafverfolgung, Propaganda und Geheimhaltung in der DDR",
Reihe: "BF informiert", 325 Seiten, 5 Euro oder kostenlos herunterladbar: https://www.bstu.de/informationen-zur-stasi/publikationen/publikation