Archiv

Henryk Grynberg: "Flüchtlinge"
Als Künstler auf der Flucht im Kalten Krieg

Eigentlich lieben sie Polen, das Land und die Sprache - doch Kommunismus und Nationalismus treiben sie oftmals ins Exil: Der Schriftsteller Henryk Grynberg beschreibt das Schicksal polnischer Juden nach 1945. Und damit auch sein eigenes.

Von Martin Sander |
    Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
    Der in den USA lebende polnische Schriftsteller Henryk Grynberg (imago / Reinhard )
    Drei Millionen Juden lebten in Polen zwischen den Weltkriegen. Nur ein Zehntel überlebte den Holocaust. Für viele von ihnen brachte der Sieg über die Deutschen noch keinen Frieden. Zwar besaßen Juden nun, anders als vor dem Krieg, gleiche Bürgerrechte wie die christlich-polnische Mehrheitsgesellschaft. Einige gelangten in hohe Staatsämter. Doch die Lage der meisten Juden in der Volksrepublik Polen war prekär. Unter ihren christlichen Nachbarn stießen sie überwiegend auf Ablehnung. Es kam zu Ausschreitungen. Das Pogrom von Kielce 1946 forderte 40 Todesopfer. Auch die Parteiführung spielte bei Gelegenheit mit antijüdischen Ressentiments. So fühlten sich Juden im kommunistischen Polen nie sicher. In seinem jetzt auf Deutsch vorliegenden Prosaband "Flüchtlinge" balanciert Henryk Grynberg zwischen Essay und vielstimmiger Reportage. Auf einer Auslandsreise Anfang der 1960er Jahre trifft er in Montreal ein paar Nachbarn aus seinem Geburtsort Dobre. Sie sind bereits bald nach Kriegsende ausgereist – nicht weil sie gegen den Kommunismus waren, sondern weil sie sich als Juden fehl am Platz fühlten.
    "‚Wie ist es mit dem Antisemitismus in Polen?‘ fragten sie, als wäre von einem guten Bekannten die Rede.
    ‚Die Jungen sind anders‘, erwiderte ich.
    ‚Habe ich es nicht gesagt!‘ freute sich Herr Fryd, der nicht aufgehört hatte, an Gott und den Kommunismus zu glauben.
    ‚Aber solche Wohnungen wie hier haben sie dort nicht, oder?‘
    ‚Solche Wohnungen haben dort nicht mal die Minister.‘ (…)
    ‚Nu, da wirst du wohl nicht mehr zurückwollen, oder?‘
    ‚Das weiß ich noch nicht.‘
    ‚Wie… das weißt du noch nicht? Was hast du denn dort?‘
    ‚Mein jiddisches Theater und meine polnische Sprache.‘"
    Nachkriegspolen ist trotz aller Schwierigkeiten für Grynberg Heimat. Dort hat er Journalismus studiert und sich danach aufs literarische Schreiben verlegt. Einige Bücher von ihm wurden veröffentlicht. Das ist bemerkenswert, denn Grynberg schrieb nicht nur über die deutsche Vernichtungspolitik im Krieg, sondern auch über Polen, die seine Angehörigen töteten. Damit berührte er ein Tabu. Über eine Mitwirkung von Polen am Holocaust sollte damals nicht gesprochen werden. Auch heute wird das Thema staatsoffiziell gemieden.
    Polen, ein weißer Fleck auf der Landkarte
    In der jungen nachkriegspolnischen Szene fühlte sich Grynberg wohl. Er arbeitete nicht nur als Autor, sondern spielte auch am Warschauer Jüdischen Theater, das die Kulturbehörden in den 60er Jahren gerade so tolerierten. Als Pole schmerzte ihn die Ignoranz, mit der man seinem Land jenseits des Eisernen Vorhangs begegnete – zum Beispiel als er auf einer frühen Auslandsreise sein Gepäck von einem italienischen Bahnhof nach Warschau schicken wollte.
    Heimat als weißer Fleck auf der Landkarte
    "‘Varsovia?‘ fragte der Mann am Gepäckschalter ratlos.
    ‘Polonia.’
    ‘A, Bologna!’
    ‘No Bologna, Po-lonia.’
    Der Mann tippte sich mit den Fingern an die Stirn und rief seinen Vorgesetzten.
    Der schüttelte den Kopf:
    ‚Varsovia? Pologna?... Die Bahnhöfe gibt es nicht.‘
    ‚Was soll das heißen? Gibt es nicht … Schaut mal auf die Landkarte… Wien, Berlin… und rechts davon: Warschau.‘
    Sie brachten einen Atlas. Zeigten mir Wien und Berlin. Und rechts davon … nichts mehr, terra incognita.
    ‚Na bitte! Che Varsovia, che Pologna, Signore?‘ trumpfte der Mann vom Gepäckschalter auf."
    In den 1960er Jahren reiste Grynberg mehrmals in den Westen und kehrte stets zurück. Doch 1967, zu Beginn einer antijüdischen Kampagne der polnischen Kommunisten, die bald Tausende von jüdischen Polen ins Exil trieb, kehrte er seiner Heimat für immer den Rücken. Er setzte sich bei einem Gastspiel des Warschauer Jüdischen Theaters in die USA ab.
    Grynbergs neues Leben in den USA ist ein wichtiges Thema des Prosabands "Flüchtlinge": Vom Gelegenheitsarbeiter bringt er es zum Redakteur von "Voice of America" und schreibt weiter Prosa und Lyrik über das jüdische Polen – und das auf Polnisch.
    Zwischen Roman Polański und Billy Wilder
    In "Flüchtlinge" zeichnet Grynberg ein Gruppenbild des polnischen Exils im Kalten Krieg. Nicht nur Juden gehören dazu. Eine wichtige Rolle spielt der vom Autor bewunderte Marek Hłasko, der große Halbstarke der polnischen Nachkriegsliteratur. Die polnischen Machthaber warfen ihn nicht als Juden, sondern als antikommunistischen Krawallmacher aus dem Land. Saufend und prügelnd suchte Hlasko zunächst Halt in Israel, dann in den USA und Westdeutschland, wo er 1969 unter mysteriösen Umständen ums Leben kam. Auch den polnisch-jüdischen Filmemacher Roman Polański, der 1963 emigrierte, hat Grynberg im Blick. Um ein Haar wäre er dabei gewesen, als der Verbrecher Charles Manson Polańskis schwangere Frau Sharon Tate und Polańskis Freunde aus Polen in einem kalifornischen Ferienhaus niedermetzelte.
    Juden aus Polen und Mitteleuropa, die bereits in der der Kriegs- und Vorkriegszeit emigriert waren, sprechen ungern über ihr Flüchtlingsschicksal. In einem Restaurant von Hollywood lernte Grynberg Billy Wilder kennen, der 1906 in einer jüdischen Familie im polnischen Sucha Beskidska zur Welt kam. Grynberg schreibt:
    "Billy Wilder kam an unseren Tisch, rundlich, gut gelaunt, im schwarzen Polohemd, das für ein Hummeressen geeigneter war als meine Seidenkrawatte. Kaper stellte uns vor, sagte, daß wir aus Polen kämen, doch weder damals noch zu einer anderen Gelegenheit erwähnte er, daß dieser Wiener Flüchtling (Wilder) ein Galizianer aus dem Beskidenstädtchen Sucha war. Sie waren Künstler, für die das keine Bedeutung hatte. Leute von Welt, die über diesen Dingen standen. Amerikaner, die es nicht wissen wollten. Gehörnte, die nicht über Hörner reden wollten."
    Vertrackte Seelenlage und authentische Weltsicht
    Freiheitslust und Zerrissenheit, Zorn, Verdrängung oder Depression. Henryk Grynberg bringt die oft vertrackte Seelenlage der "Flüchtlinge" meisterhaft auf den Punkt – auch seine eigene. Dabei scheint seine Weltsicht von damals auf, die nicht unbedingt die Meinung des reifen Autors widerspiegelt, wie er im Vorwort schreibt. Sarkastische Bemerkungen über protestierende Studenten und Vietnamkriegsgegner im Westen, denen ein Polizeiknüppel nicht unbedingt schaden würde, mag man zu diesen überholten Urteilen rechnen. Authentisch wirken sie allemal. In seinem Band "Flüchtlinge", kongenial übertragen von Lothar Quinkenstein, ist Henryk Grynberg ein spannendes Gruppenbild des polnisch-jüdischen Exils im Kalten Krieg geglückt.
    Henryk Grynberg: "Flüchtlinge"
    Arco Verlag, Wuppertal, 347 Seiten, 20,00 Euro.