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Heranwachsende kommen in "Lohn und Brot"

Die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland sei mit deutlich unter zehn Prozent sehr gering, sagt der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus. Das sei für ihn entscheidender als die aktuellen Ergebnisse von Leistungstests an Grundschulen.

Josef Kraus im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann |
    Jürgen Liminski: Alle Jahre wieder kommt die OECD mit ihren Vergleichsstudien über die Leistungsstärke der Schüler und Schulen. Gestern war es wieder so weit. Demnach liegen Deutschlands Grundschüler mit ihren Leistungen im oberen Drittel. Wie vor zehn Jahren schon schneiden deutsche Viertklässler beim Lesen, in Mathe und in den Naturwissenschaften sozusagen mit einer "Drei plus" oder "Zwei minus" ab. Sind diese Vergleiche überhaupt sinnvoll? – Mein Kollege Dirk-Oliver Heckmann hat den Präsidenten des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, selber Direktor eines Gymnasiums, dazu befragt, und seine erste Frage lautete: Wenn wir die gleichen Ergebnisse erzielen wie vor zehn Jahren, treten wir dann in der Bildungspolitik nicht auf der Stelle?

    Josef Kraus: Ja gut, wir waren auch damals nicht so ganz schlecht. Dass die asiatischen Länder nicht erreicht werden, die an der Spitze sind, das sollte uns nicht unbedingt grämen, denn man muss ja auch wissen, um welchen Preis das dort erreicht wird. In Taiwan und Südkorea und in Singapur und so weiter ist es eine ausgesprochene Drillschule. Und wenn ich obendrein sehe, dass bei der Hälfte der Länder in den Ranglisten als Fußnote mit angemerkt ist, auch in der veröffentlichten Studie, dass die Ergebnisse nur bedingt repräsentativ sind, dann müssen wir jetzt nicht unbedingt in Sack und Asche gehen.

    Dirk-Oliver Heckmann: Das heißt, Sie sind ganz zufrieden mit den Ergebnissen?

    Kraus: Zufrieden bin ich mit den Ergebnissen nie, auch nicht, was die weiterführenden Schulen betrifft. Aber ich habe Zweifel, ob die Schwächen, die unser Schulsystem natürlich nach wie vor hat, mit solchen Tests aufgedeckt werden. Ich habe viel eher die Befürchtung, dass die Schwächen vielleicht sogar zugedeckt werden.

    Zum Beispiel – ich nenne mal eines nur – habe ich das Gefühl, dass diese Testerei in gewisser Weise eine normierende Wirkung auf das ganze Bildungsgeschehen auswirkt, der Gestalt, dass man so tut, als sei Bildung das, was Iglu oder Timss oder Pisa messen. Und das ist mir ein bisschen ein enges Bildungsverständnis, denn diese Tests messen nur einen minimalen Ausschnitt aus dem Bildungsgeschehen.

    Heckmann: Aber immerhin einen wichtigen Ausschnitt, denn zum Beispiel ist ja jetzt herausgekommen, dass nach wie vor jeder Sechste nicht richtig lesen oder Texte verstehen kann. Jeder Fünfte hat erhebliche Probleme beim Rechnen. In den Niederlanden – dazu dient der Test ja auch, um diese Vergleiche herstellen zu können -, da ist das ganz anders: Da ist es nur jeder Zehnte. Was machen die anders?

    Kraus: Ich weiß nicht, ob die was anders machen. Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass wir natürlich zu erheblichen Teilen eine völlig andere Schülerklientel haben als andere Länder. Nehmen wir mal den sogenannten Pisa-Sieger Finnland her. Finnland hat halt eine sehr homogene Schülerschaft mit ein oder zwei Prozent Migrantenanteil, wir haben 20, 30 Prozent. Gut, da muss man einräumen: Wir haben es nicht geschafft, diese 20, 30 Prozent voll ins Bildungssystem zu integrieren. Aber das Beispiel zeigt, dass die Vergleiche natürlich auch ein bisschen hinken.

    Aber noch mal, was die Messbarkeit von Bildung betrifft: Es ist mir ein zu enges Verständnis, wenn hier Lesefertigkeit im Sinne von Fertigkeit zur Informationsentnahme getestet wird. Es wäre mir viel wichtiger – und da leiden, glaube ich, viele unserer Grundschüler und überhaupt die Heranwachsenden darunter -, dass man das sprachliche Ausdrucksvermögen, das sprachliche Formulierungsvermögen auch testet. Das kommt zum Beispiel völlig zu kurz. Man reduziert leider mittlerweile auch in schulischen Tests, leider auch in den Currikula, alles auf dieses literacy-Konzept der Tests.

    Heckmann: Dennoch haben die beiden Studien auch wieder zu Tage gefördert, dass der Bildungserfolg weiter extrem abhängig ist von der sozialen Herkunft. Ist das nicht eine Bankrotterklärung der Bildungspolitik?

    Kraus: Meine ich nicht, denn wir haben Zusammenhänge zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg, beziehungsweise hier muss man sagen Testerfolg, nicht Bildungserfolg, natürlich auch in allen anderen Ländern. Bei uns kommt im übrigen dazu – und das wird häufig übersehen, auch von Studien der OECD und von Studien von Bertelsmann -, dass wir natürlich erst mal im schulischen Bereich hier eine gewisse Koppelung haben. Dass dieser enge Connex, den wir in Deutschland haben, aber in dem Moment aufgebrochen wird, wo man die Bildungslaufbahn unserer jungen Leute bis zum Ende verfolgt. Also nur mal ein konkretes Beispiel: Von 100 Studierberechtigten haben je nach Bundesland zwischen 43 und 52 Prozent kein Gymnasium besucht, und es sind unter diesen 43 bis 52 Prozent eben sehr viele junge Leute auch aus sogenannten bildungsfernen Schichten.

    Heckmann: Das heißt, Sie würden das in Zweifel ziehen, dass es diesen Zusammenhang gibt?

    Kraus: Den ziehe ich deshalb auch in Zweifel, denn für mich ist sozialpolitisch erst mal entscheidend, was die jungen Leute, die Heranwachsenden in Lohn und Brot bringt. Und da schaut es in Deutschland, in der Schweiz und in Österreich hervorragend aus. Wir haben Quoten an arbeitslosen Jugendlichen - zwischen 15 und 25, das ist so der internationale Vergleichsmaßstab – in der Größenordnung von sechs, sieben, acht Prozent durch die Republik, in Österreich und in der Schweiz ähnlich. Wir haben auch in vermeintlichen Iglu- und Pisa-Siegerländern, haben wir 20 und 30 und mehr Prozent. Also das ist für mich die entscheidende sozialpolitische Messlatte.

    Heckmann: Kinder von Akademikern, Herr Kraus, haben eine dreimal so große Chance, eine Gymnasialempfehlung zu bekommen wie Kinder von Nicht-Akademikern. Lassen sich die Grundschullehrer immer noch zu sehr von Vorurteilen leiten?

    Kraus: Nein! Also, da muss ich unsere Grundschulkollegen in Schutz nehmen. Wir haben natürlich auch die Situation, dass wir eine Selbstselektion vieler Familien haben, und es gibt Familien, die entweder aus Gründen der Bodenständigkeit, oder anderer gesellschaftlicher und politischer Ambitionen halt sagen, okay, warum soll mein Kind, auch wenn es das Zeug dazu hätte, auf ein Gymnasium gehen. 60 bis 65 Prozent der jungen Leute in Deutschland machen einen guten und aussichtsreichen Weg auch außerhalb des Gymnasiums.

    Heckmann: Aber es geht ja um die Empfehlungen, die durch die Lehrer ausgesprochen wurden.

    Kraus: Da möchte ich erst mal aufgelistet bekommen, was hier der Maßstab ist, zumal wir hier gar nicht alle 16 Bundesländer in einen Topf werfen können. Es gibt Bundesländer, in denen wir eine verbindliche Laufbahnempfehlung durch die Schulen haben, es gibt Bundesländer, da haben wir eine unverbindliche Empfehlung, und ich erinnere mich an eine Studie, die kommt aus der Universität Mannheim, die ist nun gerade eben ein Jahr alt: Da hat sich gezeigt, dass der Wegfall der verbindlichen Laufbahnempfehlung sozialpolitisch überhaupt nichts bringt.

    Heckmann: Ab kommendem Jahr, Herr Kraus, wird es das Betreuungsgeld geben. Die einen oder anderen Eltern werden das Geld nehmen, statt ihr Kind in die Kita zu bringen. Ist das nicht absolut kontraproduktiv?

    Kraus: Also gut, das ist eine kontroverse Diskussion, da möchte ich mich als Lehrer nicht mit einmischen. Mir wäre etwas anderes viel wichtiger, nämlich dass unsere Vorschulerziehung stärker als bislang einen Bildungspart übernimmt - sie hat jahre- und jahrzehntelang vielleicht zu sehr nur den Betreuungspart, der auch wichtig ist, übernommen -, stärker einen Bildungspart übernimmt. Da spreche ich auch als Psychologe. Und da liegt mir in der Vorschulerziehung zu viel brach. Das hat zunächst mit Betreuungsgeld hin oder her überhaupt nichts zu tun. Also ein bisschen mehr prägen, was sprachliche Dinge betrifft, gerade auch für Kinder aus bildungsfernen Schichten.

    Heckmann: Aber das nützt den Kindern ja nichts, die nicht dann in die Kita geschickt werden.

    Kraus: Gut, dann kann man da unter Umständen auch ein bisschen anderen Druck dahinter setzen, dass man zum Beispiel sagt – und manche Bundesländer tun das ja auch -, die Einschulung wird davon abhängig gemacht, ob ein Kind einen Sprachstandstest besteht oder nicht.

    Liminski: …, sagt hier im Deutschlandfunk der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, im Gespräch mit meinem Kollegen Dirk-Oliver Heckmann.


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