"Beratungsstelle – Manevich, was kann ich für Sie tun?"
In einem Seitenflügel des Nürnberger Bundesamts für Migration und Flüchtlinge liegt das Büro von Alexey Manevich. Zwei Schreibtische voller Unterlagen stehen an der Wand im langgezogenen Raum, Computer und das wichtigste – die Telefone. In der Beratungsstelle Radikalisierung rufen Sozialarbeiter an, Lehrer, Freunde, Geschwister, Väter – und Mütter:
"Sie wollen über Ihren Sohn reden? Dann erzählen Sie mal drüber, was Sie bei ihm beobachten…"
Durch viele Nachfragen macht sich Berater Manevich ein Bild. Es sind Anrufe wie diese, die ihn und seine Kollegen mehrmals wöchentlich erreichen. Ein typischer Fall:
Eine deutsche Mutter ruft an. Sie ist verunsichert – denn ihr Sohn hat sein Verhalten plötzlich und umfassend geändert. Er richtet seine Ernährung nach islamischen Vorschriften aus und will mit christlichen Ritualen nichts mehr zu tun haben. Aber lebt ihr Sohn seine neue Religion einfach nur streng – oder hat er sich radikalisiert? Alexey Manevich, ausgebildeter Sozialarbeiter und Psychologe, versucht, mehr herauszufinden.
"Es ist immer wichtig zu sehen, was für Bedürfnisse einen Menschen in die Szene führen. Hier war ganz klar, dass auch bevor er sich zunehmend mit Religion befasst hat ein schulischer Leistungsabfall zu beobachten war. Man weiß zumindest: Das war ein Punkt im Leben, wo der Jugendliche zunehmend auf der Suche nach Halt war."
Viele Hinweise kommen aus Schulen
Solche Anhaltspunkte helfen den Beratern dabei, eine erste Einschätzung zu treffen. War ein junger Mensch vor seiner Beschäftigung mit Religion aggressiv oder gar vorbestraft? Dann ist ein Gefährdungspotential da. Aber auch andere Anzeichen können darauf hindeuten. Manevichs Bürokollegin, die gern anonym bleiben will, erzählt, dass es oftmals auch Lehrkräfte sind, die in der Beratungsstelle anrufen.
Beratung: "Sind Ihnen bestimmte Äußerungen im Unterricht aufgefallen?"
"Das war eine Klassenlehrerin, der aufgefallen ist, dass der Schüler sehr stark religiös geworden ist, viel betet und sich auch mit anderen Jugendlichen trifft, die ähnlich stark religiös sind. Wenn‘s natürlich dahingehend ist, dass Jugendliche sich negativ über Andersgläubige äußern oder viel davon reden – ihr kommt alle in die Hölle; oder versuchen, auch andere zu missionieren: Das können schon Anzeichen für eine Radikalisierung sein."
Wer hier anruft, muss wissen: In schwerwiegenden Fällen geben die Berater ihre Erkenntnisse an die Polizei weiter. Wenn die Schülerin zum Beispiel konkrete Ausreisepläne hat oder der Sohn extremistische Videos postet. Um solche Hinweise zu erkennen, müssen die Berater immer auf dem neuesten Stand sein. Auf den Schreibtischen von Manevich und seiner Kollegin liegt zum Beispiel der aktuelle Verfassungsschutzbericht mit Informationen über islamistische Gruppen in Deutschland. Daneben Fachbücher zum Salafismus und aktuelle Medienberichte. In der Beratungsstelle des Bundesamts spüren die sechs Mitarbeiter und ihr Chef Florian Endres: Die Anrufe häufen sich.
"Schon seit 2013 – mit Beginn dieser Syrien-Ausreisewelle und seit das Thema medial stark präsent wurde, haben sich viele an uns gewandt. Und dann hatten wir letztes Jahr nach Würzburg, Ansbach die absoluten Rekordzahlen mit mehr als 150 Anrufen im Monat."
Berater vor Ort helfen Angehörigen und Betroffenen
Insgesamt 3.400 Telefonate haben Berater wie Alexey Manevich und seine Kollegin geführt, seit die Hotline 2012 freigeschaltet wurde. Das bedeutet für jeden Berater bis zu drei Gespräche pro Tag. Aber zum Glück sind sie nicht allein. Alexey Manevich hat der Mutter am anderen Ende der Leitung viele Fragen gestellt – seine Einschätzung: Ihr Sohn könnte tatsächlich auf dem Weg in die Radikalisierung sein. Deswegen empfiehlt er eine Beratung vor Ort.
"Wenn Sie mir jetzt sagen, aus welchem Bundesland und welchem Ort Sie uns anrufen, würde ich nachschauen, was die nächste Anlaufstelle für Sie ist."
Auf einer Deutschlandkarte an der Bürowand kleben gelbe Notizzettel. "Violence Prevention Network" steht auf dem im Bereich Hessen und "Hayat" auf Höhe Berlins. Mit acht externen Stellen arbeitet das Bundesamt deutschlandweit zusammen. Die Berater vor Ort gehen in die Familien, sprechen mit Freunden und am besten auch mit der gefährdeten Person selbst.
Zur Verabschiedung versichert Alexey Manevich der besorgten Mutter: Das wichtigste ist, dass sie den Kontakt zu ihrem Sohn hält, ihn nicht abdriften lässt und immer das Gespräch sucht.