Im Jahr 2016 kam der schwedische Film "Das Mädchen aus dem Norden" in die Kinos. Der Film behandelt die Rassismus-Erfahrungen einer 14-jährigen Schülerin aus Lappland in den 1930er-Jahren in einem schwedischen Internat. Ein ergreifender Film, für den auch eine Audiodeskription produziert wurde.
Ein Mädchen in Tracht zu einem alten Mann. (Deskription) "Ich werde nicht lange bleiben. Und dann, wie wirst Du zurückkommen?" (Film-O-Ton) Zu einer Gleichaltrigen: "Du musst Schwedisch sprechen." Das Mädchen wird vermessen. "18,0."
Um den Film in seiner ganzen Breite zu verstehen, kombinieren Blinde das, was sie hören – also Dialoge, Geräusche und Musik – mit dem, was ihnen eine Stimme zusätzlich beschreibt.
Ein Mann mit einer alten Kamera. "Zieh jetzt Deine Kleidung aus." Das nackte Mädchen vor einer weißen Stoffplane. "Elle Marja, sei ein gutes Beispiel."
Die Audiodeskription entwickelte der US-Amerikaner Gregory Frazier Anfang der 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts, 1989 stellte er das Verfahren auf den Filmfestspielen in Cannes vor. Seither erobert sie nach und nach den Europäischen Film- und Fernsehmarkt. Auf den ersten Blick ist die akustische Bildbeschreibung eine ebenso einfach wie erfolgreiche Methode, um Sehbehinderten cineastische Welten zu eröffnen. Kommunikations- und sprachwissenschaftlich ist es allerdings komplizierter.
Blinde entscheiden, ob eine Beschreibung verständlich ist
"Das Problem ist zum einen, nur der Sehende sieht natürlich, was zu beschreiben ist; nur der Hörende kann andererseits beurteilen, ob die Beschreibung hinreichend verständlich ist, ob sie hilfreich ist, ob sie zu dem Kontext, den der Hörende, sich bisher zu dem Film aufgebaut hat, passt. Deswegen ist der Hörende, in dem Fall der Blinde, auch das letzte Kriterium dafür, welche Beschreibungen letzten Endes genommen werden können."
Blinde und Sehende erarbeiten im Team Beschreibungen von Filmen – so Professor Arnulf Deppermann, Leiter der Abteilung Pragmatik am Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache, Mannheim – wobei Blinde letztlich entscheiden, ob eine Szene verständlich beschrieben wurde oder nicht. Auf den ersten Blick erscheint das paradox - nicht berücksichtigt wird dabei aber, dass Blinde zwar keine optische Wahrnehmung haben, sich aber durchaus Bilder vorstellen können.
Welche Assoziationen werden ausgelöst?
"Gerade bei meinen Untersuchungen zur Teamarbeit zwischen Blinden und Sehenden ist es erstaunlich, wie viel die Blinden über die Visualität und über die visuelle Welt wissen, und wie viel sie auch das mitbestimmen können und beschreiben können, auch sprachlich."
So Professorin Maija Hirvonen von der Fakultät für Informationstechnik und Kommunikationswissenschaft der Universität Tampere, Finnland. Praktisch müsse man sich das Erarbeiten einer Audiodeskription als Verhandlung zwischen dem Blinden und dem Sehenden vorstellen. Was ist wichtiger beim Satz "Ein Mann mit einer alten Kamera"? Die Information "alte Kamera"; oder sollte seine Kleidung im Mittelpunkt stehen, oder der Raum mit den Schülerinnen?
"Zum Beispiel der Sehende sagt, da geht es jetzt einen dunklen Gang entlang. Dann sagt der Blinde, oh, unter einem Gang stelle ich mir jetzt was ganz Enges vor, dann sagt der Sehende, na ja, so ganz eng ist es nicht, das ist dann schon eher ein Flur. Dann sagt der Blinde, dann nimm doch lieber Flur. Also das sind solche Dinge, wo der Blinde dann auch durch die Explikation deutlich macht, die und die Assoziationen, das und das Verständnis gewinne ich anhand der ersten Beschreibung und das wird dann gemeinsam weiter ausgearbeitet."
Erfahrungshorizont prägt die Interpretation
Diese Interaktion funktioniert dann besonders gut, wenn beide in etwa den gleichen Bildungshintergrund, das gleiche Alter und einen vergleichbaren Erfahrungshorizont haben. Ein Idealfall, der in der Praxis aber nicht immer auftritt. Mitunter – so Maija Hirvonen – sind Blinde sogar im Vorteil.
"Zum Beispiel kann die blinde Person mehr Fachwissen über das Thema, das gerade im Film oder im Fernsehprogramm behandelt wird, haben als die sehende Person. Ich habe auch Beispiele dafür in meine Daten, dadurch kann die blinde Person mehr darüber wissen und es auch genauer und besser beschreiben."
Schwieriger wird es bei emotionalen Szenen. Wie wird "stille Freude" beschrieben? Wie "Hass"? Wie "sexuelle Handlungen"? "Sobald man sprachliche Beschreibungen oder sprachliche Namen zu der Handlung gibt, dann hat es gewissermaßen einen anderen Stellenwert einfach."
Immer gibt es Interpretationsspielräume, die wiederum von individuellen Erfahrungen, Werten, Wünschen, Ängsten und so weiter abhängen. Blinde, die nie Wasserfälle gesehen haben, verstehen vielleicht nicht, warum die Niagarafälle als gigantisch gelten. Außerdem: Was bedeutet gigantisch? Diese Fragen rücken aber ohnehin immer mehr in den Hintergrund. Analysen von Audiodeskriptionen zeigen für Arnulf Deppermann vom Leibniz-Instituts für Deutsche Spreche einen klaren Trend.
Fokus eher auf Handlung als auf Atmosphäre
"Man sieht deutliche eine Tendenz dazu, dass handlungsbezogene Element beschrieben werden. Es werden weniger Atmosphären beschrieben oder räumliche Anmutungen oder Konfigurationen, es ist meistens ein Fokus auf die Handlung."
Was auch den Produktionsbedingungen von Audiodeskriptionen geschuldet ist. Handlungen lassen sich einfacher und vor allem kürzer beschreiben als Stimmungen, immerhin müssen die Beschreibungen in die kurzen Pausen zwischen den Dialogen passen, da geht es um wenige Sekunden. Diese Begrenzungen führen allerdings dazu, dass Sehbehinderte Filme in letzter Konsequenz reduziert wahrnehmen, so Arnulf Deppermann.
"Auf jeden Fall! Auf jeden Fall der ganze atmosphärische Aspekt oder auch der Aspekt, wie mit Farben gearbeitet wird, was ja gerade bei guten Regisseuren eine ganz entscheidende Sache ist, oder wie mit räumlichen Konstellationen gearbeitet wird, wie Symmetrie, Asymmetrie oder Kameraperspektive, ist das jetzt ein Closeup oder ist es eine Totale oder eine amerikanische Einstellung, also diese ganzen Dinge gehen tendenziell verloren."
Missen möchten Sehbehinderte Audiodeskriptionen trotzdem nicht, eröffnen sie ihnen doch den Zugang in kulturelle Bereiche, die ihnen sonst verschlossen wären. "Zum andern wird auch gerade diese Konstellation, es eben mit Blinden zu machen, diese Audiodeskription gemeinsam herzustellen, auch als ein emanzipatorisches Element verstanden, dass sie eben aktiv in die Produktion des Filmproduktes mit einbezogen werden."
"Ein zärtlicher und lyrischer Film" – Variety, "Kraftvoll" – New York Times. Das Mädchen von hinten. Andächtig dreht es sich um. In weißer Schrift "Das Mädchen aus dem Norden".