Archiv

Herfried Münkler
Panorama der "Urkatastrophe des Jahrhunderts"

Herfried Münklers "Der große Krieg" wird wohl über lange Zeit das Standardwerk über den Ersten Weltkrieg bleiben. Er warnt darin vor der Illusion, wegen wirtschaftlicher Verflechtungen seien heute Kriege zwischen Großmächten undenkbar.

Von Martin Ebel |
    Wer sich Anfang November irgendwo in England aufhält, dem wird auffallen, dass viele Menschen eine kleine rote Papierblume am Revers tragen. Nachrichtensprecher, Professoren, Männer und Frauen auf der Straße. Es sind "poppies", blutrote Mohnblüten, und sie stehen symbolisch für die Schlachtfelder in Flandern, auf denen zwischen 1914 und 1918 die Blüte der englischen Jugend verblutete. Die Poppies werden auch in dem berühmten Gedicht "In Flanders fields" von John McCrae beschworen. Jeder Engländer kennt es:
    In Flanders fields the poppies blow
    Between the crosses, row on row,
    That mark our place; and in the sky
    The larks, still bravely singing, fly
    Scarce heard amid the guns below.
    So lautet die erste Strophe. Mit den Papier-Poppies gedenken die Engländer der Opfer aller Kriege, besonders aber des Ersten Weltkrieges. Er war für sie "The Great War". Noch viel mehr gilt das für die Franzosen, die 1,3 Millionen Tote zu beklagen hatten und deren Norden vier Jahre verheert wurde. In Deutschland dagegen steht der Zweite Weltkrieg wie eine den Blick versperrende Mauer vor dem Ersten. Er beherrscht mit seinen bis dahin unvorstellbaren Menschheitsverbrechen, aber auch den politischen Folgen - deutsche Teilung, Eiserner Vorhang, Kalter Krieg - die Erinnerungskultur vollständig. Auch medial ist Hitlers Krieg ein unverändert sicherer Quotenbringer. Unendlich weit weg erscheint dagegen sein Vorgänger, quasi ein Vorläufer und weniger interessant.
    Erster Weltkrieg als Werkstatt für Technologien, Strategien und Ideologien
    Das galt sogar für die Historiker, denn mit der Fischer-Kontroverse schien seit den 60er-Jahren alles klar: Die Deutschen waren auch am Ersten Weltkrieg schuld, hatte Fritz Fischer erklärt und sich mit seiner Meinung durchgesetzt: Mit ihrem Militarismus und dem Drang, eine Weltmacht zu werden, hatten sie gezielt auf den Krieg hingearbeitet, der ihnen endlich den "Platz an der Sonne" verschaffen sollte. Der australische Historiker Christopher Clark hat dieser These in seiner kürzlich erschienenen Darstellung "Die Schlafwandler" energisch widersprochen; alle Großmächte seien in gleichem Ausmaß verantwortlich für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges, schrieb er und konnte das in seinem multiperspektivischen Ansatz überzeugend belegen. Clarks Buch wurde und wird intensiv diskutiert - und gelesen: Wochenlang stand es auf Platz eins der Spiegel-Bestsellerliste. Gute Verkäufe sind auch Herfried Münklers Buch "Der große Krieg" zu wünschen, das den angelsächsisch-französischen Begriff im Titel aufnimmt und dem Ersten Weltkrieg wieder die angemessene Aufmerksamkeit verschaffen will. Es ist die erste deutschsprachige Gesamtdarstellung seit Jahrzehnten, und es wird voraussichtlich auf lange Zeit das Standardwerk sein:
    "Der Erste Weltkrieg war die Werkstatt, in der fast all jene Technologien, Strategien und Ideologien entstanden, die seitdem zum selbstverständlichen Instrumentarium politischer Akteure gehören. Er war das Laboratorium, in dem fast alles entwickelt worden ist, was in den Konflikten der folgenden Jahrzehnte noch eine Rolle spielen sollte: vom strategischen Luftkrieg, der nicht zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten unterschied, bis zur Vertreibung und Ermordung ganzer Bevölkerungsgruppen, von der Idee eines Kreuzzugs zur Durchsetzung demokratischer Ideale, mit der die US-Regierung ihr Eingreifen in den europäischen Krieg rechtfertigte, bis zu einer Politik der revolutionären Infektion, bei der sich die Kriegsparteien nationalistischer und religiöser Weltanschauungen bedienten, um Unruhe und Streit in das Lager der Gegenseite zu tragen."
    Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
    Cover: Herfried Münkler "Der grosse Krieg" (Rowohlt Verlag)
    Panorama der "Urkatastrophe des Jahrhunderts"
    Beschäftigt sich Christopher Clark in seinen "Schlafwandlern" allein mit der Vorgeschichte, so Herfried Münkler mit dem Verlauf des "Großen Krieges", und zwar unter allen wichtigen Aspekten: den militärischen wie den politischen und ökonomischen, den technischen wie den psychologischen; der intellektuellen Verarbeitung, der medialen Beeinflussung, den Lebensbedingungen an der Front und im Hinterland. Er kann wie vom Feldherrnhügel aus den Verlauf von Schlachten nachzeichnen, aber auch die Leiden des einfachen Soldaten im wasserüberfluteten, von Ratten bevölkerten Schützengraben nachvollziehbar machen. Er vergisst weder die überseeischen Kriegsschauplätze noch den sogenannten "Steckrübenwinter" und die Spanische Grippe, nennt sinkende Kalorien- und ins Unermessliche steigende Gefallenenzahlen. Es ist ein so beeindruckendes wie furchterregendes Panorama dieser "Urkatastrophe des Jahrhunderts".
    Von Haus aus Politikwissenschaftler, hat sich der Ordinarius der Berliner Humboldt-Universität seit vielen Jahren mit Erscheinungsformen des Krieges beschäftigt, unter anderem mit den neuen, asymmetrischen Kriegen der Gegenwart. Ein Opus-Magnum-Stipendium der VW-Stiftung hat ihm jetzt erlaubt, sich ein ganzes Jahr der Niederschrift dieses Buches zu widmen. Die Ergebnisse der jüngeren Forschung finden sich darin unaufdringlich eingearbeitet oder in den Fußnotenteil hinten im Buch geschoben, sodass sich eine unangestrengte Lektüre ergibt. Ein Vergnügen kann sie bei diesem Thema nicht sein, schließlich geht es um Millionen Tote, aber auch um Leichtfertigkeit, Ignoranz, Großmannssucht und schreckliches Versagen. Aber man gibt das Buch, hat man es einmal begonnen, nur schwer wieder aus der Hand.
    These der Alleinschuld relativiert
    Anders als beim multiperspektivischen Clark liegt Münklers Fokus auf dem Deutschen Reich, seinen erstaunlichen Erfolgen und seinen schweren Fehlern. Auch für ihn ist die These von der Alleinschuld längst relativiert, wenn nicht widerlegt; seine geostrategische Position als große Macht mitten in Europa erlegte Deutschland aber eine besondere Verantwortung auf, der es nicht nachgekommen sei. Neben vielen kleineren wiegen für Münkler zwei Kardinalfehler schwer: der Schlieffen-Plan und der uneingeschränkte U-Boot-Krieg (sie gehören übrigens zu den "Sieben Todsünden des deutschen Reichs", die Sebastian Haffner schon in den 60er-Jahren in seinem gleichnamigen Buch aufgelistet hat). Beide Fehler wurden gemacht, weil die Militärs den Politikern die Richtung vorgaben - und nicht umgekehrt, wie dies in Frankreich und England der Fall war.
    Der Schlieffen-Plan ergab sich aus dem zu erwartenden Zweifrontenkrieg; man wollte Frankreich, den Gegner im Westen, schnell niederwerfen, um sich dann gegen die langsamer anlaufende "russische Dampfwalze" wenden zu können. Der Plan setzte aber die völkerrechtswidrige Durchquerung Belgiens voraus und hatte den Kriegseintritt Englands zur Folge. Der uneingeschränkte U-Boot-Krieg wiederum sollte England von der Waren- und Waffenzufuhr abschneiden, führte aber dazu, dass die USA auf der Seite der Alliierten in den Krieg eingriffen. In beiden Fällen gelang es den Militärs, Regierung und Parlament von der "Alternativlosigkeit" ihrer Pläne zu überzeugen; sie erwiesen sich in beiden Fällen als militärisch erfolglos und politisch als Desaster. In Frankreich versandete der Angriffsschwung im Stellungskrieg; und die Engländer fanden in der Konvoibildung schnell ein Mittel gegen die U-Boote. In beiden Fällen bekam Deutschland einen weiteren Kriegsgegner.
    "Fachlich inkompetente Geisteswissenschaftler"
    Eine gewichtige Rolle bei der Entscheidungsfindung spielen für Münkler zwei neue Mitspieler: Zeitungen und Intellektuelle. Es ist eine meistens fatale Rolle. So sorgte eine "Eingabe" von mehreren Hundert Gelehrten für die öffentliche Formulierung maximaler, also annexionistischer Kriegsziele, und auch der uneingeschränkte U-Boot-Krieg, also das Torpedieren und Versenken von Handelsschiffen ohne Vorwarnung, wurde von Professoren der unterschiedlichsten Fakultäten offensiv gefordert.
    "Während die Kritiker - Hans Delbrück und Max Weber sind hier zu nennen - mit Kapazitätsberechnungen und politischen Risiken argumentierten, sahen die Befürworter des U-Boot-Krieges dessen Eröffnung als eine Charakterfrage: Wer dafür war, hatte Mut und vertraute auf Deutschlands Kraft; wer dagegen war, hatte Furcht und war ein "Flaumacher". Damit war eine komplexe Sachfrage, die nicht ohne umfassende Expertise zu beantworten war, in ein Problem verwandelt, das sich auch von den fachlich inkompetenten Geisteswissenschaftlern trefflich behandeln ließ."
    Diese Geisteshelden, dazu mancher Dichter, hatten sich schon bei Kriegsausbruch unrühmlich hervorgetan. Weil es, wie Münkler hervorhebt, für Deutschland keinen objektiven Kriegsgrund gab, suchte man mit umso mehr Mühe nach einer Sinngebung des Krieges. Für alles Mögliche sollte er herhalten: aus der divergierenden Gesellschaft wieder eine homogene Gemeinschaft machen, den Einzelnen läutern, dem "geistlosen Materialismus" des kapitalistischen Englands eine bessere, "eigentlichere" Lebensweise entgegenhalten. Der Krieg wurde zum Sinn an sich, das Opfer zur Krönung eines erfüllten Daseins. Theologen, Philosophen, Philologen und Schriftsteller überboten sich in sinnstiftenden Tiraden, während ihre Landsleute einen sinnlosen Tod starben. "Wir treten in die Zeit der Opferfreudigkeit", hatte der Theologe Adolf von Harnack bei Kriegsausbruch gejubelt, und auch Thomas Mann steuerte das Seine bei:
    "Es ist wahr, der deutschen Seele eignet etwas Tiefes und Irrationales, was sie dem Gefühl und Urteil anderer, flacherer Völker störend, beunruhigend, fremd, ja widerwärtig und wild erscheinen lässt. Es ist ihr Militarismus, ihr sittlicher Konservatismus, ihre soldatische Moralität, - ein Element des Dämonischen und Heroischen, das sich sträubt, den zivilen Geist als letztes und menschenwürdigstes Ideal anzuerkennen."
    Keine kontroverse These
    Der Soziologe Max Weber, obwohl auch er ein glühender Nationalist, erscheint bei Münkler immer wieder als Gegenbeispiel und Vorbild; früh erkannte er die Aussichtslosigkeit des Krieges und drängte auf einen Verständigungsfrieden. Dazu hätte man aber den Reichstag und die Öffentlichkeit über die wahre Lage an den Fronten informieren müssen, was niemand wagte. Ebenso wie niemand sich traute, zu erklären, dass die ungeheuren Opfer nicht durch irgendwelche Gebietsgewinne oder finanzielle Kompensationen belohnt werden würden, sondern sinnlos waren.
    Ganz neue Erkenntnisse, gar eine steile, kontroverse These hat Münkler nicht zu bieten; die wird auch niemand bei der spannenden Lektüre vermissen. Was "Der große Krieg" aber enthält, implizit wie explizit, ist ein starkes Stück Geschichtsphilosophie. Zwei Faktoren, meint Münkler, hätten die Handelnden beider Seiten, vor allem aber die Deutschen, sträflich vernachlässigt: die Rolle des Zufalls und die Macht des Paradoxes.
    "Die Vorstellung von der Wirkmacht des Zufalls hat etwas ebenso Verführerisches wie Entsetzliches. Es hätte dann weder die zehn Millionen Gefallenen gegeben, noch die Millionen Toten, die infolge des Krieges an Hungerkatastrophen und Pandemien gestorben sind, ebenso wenig die Opfer des russischen Bürgerkriegs als indirekter Kriegsfolge oder die Opfer des Stalinismus, weiterhin nicht die Opfer von Faschismus und Nationalsozialismus und auch keinen Zweiten Weltkrieg. Intuitiv wehren wir uns dagegen, dem Zufall einen solchen Einfluss zuzubilligen, würde dies doch heißen, dass der Lauf der Geschichte völlig unberechenbar und unkontrollierbar ist. In der Kriegsursachendebatte spielte dies immer eine wichtige Rolle - man könnte meinen, die Sicht, wonach das Attentat bloß der Anlass eines ohnehin ablaufenden Ereignisses war, habe sich aus psychotherapeutischen und nicht aus wissenschaftlichen Gründen durchgesetzt. Die Vorstellung von der Zwangsläufigkeit des Krieges erschien erträglicher als die von der furchtbaren Macht des Zufalls."
    Begabung zu pointierten Formulierungen
    Die deutsche Kriegsführung krankte auch daran, dass sie an die absolute Planbarkeit glaubte - als sei ein Feldzug so zu organisieren wie der Fahrplan der Deutschen Reichsbahn.
    "Dass Unvorhergesehenes eintrat, war nicht vorgesehen."
    ...schreibt Herfried Münkler mit der ihm eigenen Neigung und Begabung zur pointierten Formulierung. Allerdings zeigten sich die Deutschen dann erstaunlich lernfähig. Immer wieder passten sie ihre Angriffs- und Verteidigungstaktik an. Mit unterlegenen Kräften errangen sie erstaunliche Erfolge und fügten den Alliierten schwere Verluste zu. In der "Tötungseffizienz", wie das der britische Historiker Niall Ferguson genannt hat, waren sie ihren Gegnern bis zum Schluss überlegen. Nur so haben sie den Krieg überhaupt so lange durchhalten können. Dass sie nicht sogar siegten, lag für Münkler daran, dass sich ihre Lernfähigkeit auf die Taktik beschränkte. Strategisch und politisch begingen sie immer wieder schwere Fehler.
    Deutsche Truppen werden während des ersten Weltkriegs auf dem Weg zur Front von der begeisterten Bevölkerung gefeiert. (Undatiertes Archivbild aufgenommen zwischen 1914 und 1918)
    Deutsche Truppen werden während des ersten Weltkriegs auf dem Weg zur Front von der begeisterten Bevölkerung gefeiert. (picture alliance / dpa )
    Wer nicht an der Herrschaft des Zufalls verzweifeln will, kann sich mit Münkler für ein übergeordnetes Prinzip entscheiden: das Paradox. Das bedeutet, dass bestimmte Absichten zu einem Ergebnis führen, das diesen Absichten komplett zuwiderläuft. So wie die Deutschen sich mit dem U-Boot-Krieg von der Strangulierung durch die englische Seeblockade befreien und ihrerseits England einschnüren wollten - und das Gegenteil erreichten: Der Kriegseintritt der USA machte die Blockade erst richtig dicht. Auch aufs Ganze gesehen brachte der Erste Weltkrieg eine Fülle an paradoxen Ergebnissen zustande.
    "Die größte Paradoxie dieses Krieges besteht darin, dass die militärischen Sieger auf längere Sicht zu den eigentlichen Verlierern geworden sind: Frankreich hat, wiewohl es Elsass-Lothringen zurückerhielt, den Niedergang seiner politischen Stellung in Europa nicht aufhalten können; Italien ist trotz territorialer Gewinne im Norden und Nordosten nicht zu einer europäischen Großmacht aufgestiegen; und Großbritanniens Niedergang von seiner weltbeherrschenden Stellung wurde durch den Krieg eher beschleunigt als aufgehalten. Unbestreitbar ist, dass die Briten als die Gläubiger der Welt in den Krieg hineingingen und als Schuldner der USA aus ihm herauskamen. Auch der Zugewinn an Macht und Reichtum, den Großbritannien aus den Trümmern des Osmanischen Reichs bezogen hat, erwies sich schon in den 1920er-Jahren infolge von Rebellionen und Aufständen als ausgesprochen kräftezehrend und kostenintensiv und trug eher zur imperialen Überdehnung des Großreichs als zu seiner Konsolidierung bei."
    USA gingen als Weltmacht aus dem Krieg hervor
    Paradox, oder vielmehr katastrophal waren die Kriegsfolgen natürlich für die eigentlichen Verlierer. Die Vielvölkerimperien Österreich-Ungarn, Russland und das Osmanische Reich zerfielen, zum Teil mit Folgen, die bis heute nicht bewältigt sind: Der Nahostkonflikt ist die unmittelbare Konsequenz unter anderem von Verträgen, in denen England und Frankreich 1916 heimlich die Gebiete zwischen der Türkei und dem Persischen Golf aufteilten. Deutschland stürzte in die Inflation, dann in den Revanchismus und den Zweiten Weltkrieg, sein Bürgertum, das in patriotischer Begeisterung seine Ersparnisse in Kriegsanleihen gesteckt hatte, verarmte. Ein Land entging der fatalen Paradoxie der Geschichte: die Vereinigten Staaten. Weil sie so spät in den Krieg eingriffen, profitierten sie am meisten davon und gingen als Weltmacht daraus hervor.
    "Die USA sind dadurch der Vorstellung verfallen, es seien die moralische Dignität ihrer Ziele und die Aufrichtigkeit ihres Wollens, die in ihrem Fall Garant einer Linearität des Geschichtsverlaufs, also des Zusammenfallens von Absicht und Wirkung seien. Diese Vorstellung verdichtete sich im naiven Gebrauch des Kreuzzugsbegriffs, den die USA in beiden Weltkriegen als Bezeichnung für ihr Eingreifen und die Art ihrer Kriegsführung gebrauchten. Kreuzzug steht hier nicht für Eroberungslust und Machtgier, sondern für das Eingreifen einer "anreisenden Macht" in einen Krieg, in den sich nicht aus Gründen der Verteidigung ihres Territoriums oder ihrer Interessen involviert ist, sondern allein aus moralischen Gründen und zum Wohl der gesamten Menschheit."
    In den Vietnam- und in den Irak-Krieg sind die Amerikaner mit dieser Vorstellung gezogen, und die Gleichsetzung der eigenen Ziele mit dem Guten und der naive Glaube an die Linearität der Geschichte hat sich schrecklich gerächt. Die Macht des Paradoxen haben auch die mächtige USA zu spüren bekommen.
    Analogien zur heutigen Zeit
    Damit sind wir in der unmittelbaren Gegenwart angekommen, die ein Politikwissenschaftler nie aus den Augen verliert. Aus dem Ersten Weltkrieg gibt es auch etwas zu lernen für die Deutschen, was über allgemeine geschichtsphilosophische Erkenntnisse hinausgeht. Ihre heutige Position als bedeutende Macht in der Mitte Europas ähnelt auf merkwürdige Weise der von 1914. Wieder ist Deutschland zu schwach, um Europa seine Vorstellung aufzuzwingen, aber zu stark, um sich vor der Verantwortung für den Kontinent zu drücken. Die Europäische Union verhindert, dass sich das Einkreisungsszenario von vor einem Jahrhundert wiederholt. Aber dass Krisen an der Peripherie Europas, wie auf dem Balkan, aufflackern und ausbreiten, das muss aktiv verhindert werden. Diese Verantwortung hat Deutschland, aber sie muss sie, meint Münkler, in enger Zusammenarbeit mit seinen Nachbarn Frankreich und Polen ausüben.
    Die andere Analogie ist überraschender. Die Situation Deutschlands 1914 findet er im heutigen China gespiegelt. Eine aufstrebende Macht, wirtschaftlich in rasanter Entwicklung, mit riesigem Rohstoffhunger, den sie durch Landkäufe in Afrika zu stillen sucht, im Aufbau einer mächtigen Flotte begriffen, um den Nachschub zu sichern, was tendenziell zu Konflikten mit der großen Seemacht unserer Zeit führen kann, den USA. Eine Macht, die die Nachbarn in Sorge versetzt, sie zu Bündnissen gegen diese Macht veranlasst, was bei dieser Einkreisungsgefühle heraufbeschwören könnte. Eine Analogie, die man nicht zu weit treiben sollte. Münkler nutzt sie als Warnung: vor der Illusion, wegen wirtschaftlicher Verflechtungen seien heute Kriege zwischen Großmächten undenkbar. Auch heute können Konflikte aus nichtigen Anlässen entstehen und auflodern, wenn nationale Gefühle, Prestige oder Abstiegsängste als Brandbeschleuniger wirken.
    Herfried Münkler: Der große Krieg. Die Welt 1914-1918.
    Rowohlt, Berlin 2013. 928 S., zahlr. Abb., 29,95 Euro