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Herkunft und Heimat
"Heimatgefühl ist konkret an Gegenden und Orte gebunden"

Für den Schriftsteller Reinhard Jirgl ist Heimat ein sehr konkreter Begriff. Darin sei einmal die biografische Herkunft eines Menschen verankert, andererseits sei Heimat der "frühest prägende Erfahrungsraum einer Person". Heimat und Herkunft bestimmten die Denk- und Handlungsweisen oftmals über ein ganzes Leben hinweg, sagte er im DLF.

Reinhard Jirgl im Gespräch mit Michael Köhler |
    Der Autor Reinhard Jirgl blickt am 07.10.2013 am Rande der Verleihung des Deutschen Buchpreises 2013 im Rathaus Römer in Frankfurt am Main (Hessen) in die Kamera. Der Preis für die beste literarische Neuerscheinung des Jahres ist mit insgesamt 37 500 Euro dotiert.
    Reinhard Jirgl (picture alliance / dpa / Arne Dedert)
    Michael Köhler: Wir setzen unsere Serie der Gespräche über Heimat heute mit Teil fünf fort. Heimat ist ein scheinbar altmodischer überkommener Begriff. Er kann was von Enge und Provinzialität haben, ist missbraucht worden und doch ist er unverzichtbar, geradezu umkämpft in Zeiten von Flüchtlings- und Europakrise. Er ist ein unüberwindbarer Sehnsuchtsbegriff. Ohne ihn kommen wir kaum aus.
    Wir haben den deutschen Schriftsteller und Büchner-Preisträger, den 1953 in Berlin geborenen Reinhard Jirgl eingeladen, der über ein Dutzend Romane veröffentlicht hat, gerade ist "Oben das Feuer, unten der Berg" erschienen. Zuerst habe ich ihn gefragt:
    Von Novalis bis Ernst Bloch, in Gottes Namen auch E.T., gehen alle immer nach Hause. Man muss kein Romantiker sein, um zu ahnen, dass Heimat kein geschlossener, sondern offen-utopischer Begriff ist?
    Reinhard Jirgl: Na ja, eigentlich für mich ist es ein sehr konkreter Begriff, muss ich sagen. Also es gibt da verschiedene Erzählweisen, über diesen Begriff zu sprechen. Wir sehen zum Beispiel im Inhalt des Heimatbegriffes einmal die biografische Herkunft, und zwar das im regionalen und sozialen Kontext einer Person, als auch natürlich in umfassenderem Sinne, Zugehörigkeit zu einer Rasse, einem Volk, einer Nation mitsamt all diesen dann spezifisch kulturellen Determinanten, die also sind zum Beispiel Sittenbräuche, Kommunikationsformen, Belange des Gemeinwesens und so weiter. Also Sie sehen schon, da wird es sehr konkret eigentlich, der Begriff Heimat. Man muss auch im Unterschied zur Herkunft vielleicht sagen – wobei Herkunft sich ja eigentlich, sagen wir mal, im Wesentlichen durch soziale Bedingtheit und den materiellen Besitzstand einer Person oder einer Familie formuliert –, hat Heimat darüber hinaus etwas anderes noch: Es ist nämlich, glaube ich, und da kommen wir auf das zurück, was Sie eingangs sagten, es ist der in meinem Sinne frühest prägende Erfahrungsraum einer Person. Und das ist nicht veräußerbar, und das ist eigentlich auch sein einzig wirkliches Eigentum. Und beides zusammen, Herkunft und Heimat, bestimmten dann des Menschen Denk- und Handlungsweisen oftmals über ein ganzes Leben hinweg.
    "Vertreibung zum Beispiel, gehört auch mit in dieses Thema"
    Köhler: Ich greife das gerne auf und versuche trotzdem mit Ihnen noch mal auch die Offenheit ein bisschen stärker zu machen. Heimat lebt einerseits von so einer, ich nenne es mal einfältigen Beschränkung, das wäre so das Denken in der Scholle, also so eine territoriale Eingrenzung, es lebt aber auch gleichzeitig von der Unbegrenztheit oder – ich werde sonntäglich – von der Erfahrung auch von Unbehaustheit. Ernst Bloch sagt in seinem berühmten Schlusswort aus "Das Prinzip Hoffnung": "Was allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war." Also es ist konkret und abstrakt zugleich?
    Jirgl: Na ja, das ist im Prinzip auch von der Haltung her formuliert, hat ja auch mit der Erfahrung von Bloch selbst zu tun, der Heimatverlust.
    Köhler: Exil.
    Jirgl: Über ein Jahr, genau. Unfreiwilliges Exil natürlich, also Vertreibung zum Beispiel, gehört auch mit in dieses Thema, Flucht eben auch. Das ist im Prinzip aber nur ein Aspekt, wie man den Heimatbegriff … man kann es machen, man kann eine Sache, allgemein kann man sie vom Verlust der Sache beschreiben, das geht. Aber ich glaube, dass dieser Begriff nicht nur eben negativ oder in der Utopie des Verlustes und des Nie-wieder-Erringbaren bestehen bleiben muss. Das, was Sie Scholle nannten, das ist die Phase, die ich vorhin meinte mit der Erarbeitung von Welt, also der Erfahrungsraum, der die Person prägt. Das ist eine unbedingte Voraussetzung. Ohne diese Arbeit, die dann in der Tat die Schollenarbeit ist, wenn Sie so wollen, ist aber die Weiterentwicklung, die Öffnung dieses Begriffs nicht möglich, oder sie wird lapidar. Zum Beispiel, was ich damit meine, ist, dass für eine Entwicklung einer ethischen oder einer anderweitig gültigen Wertvorstellung zunächst erst mal Grenzen nötig sind – Abgrenzungen des Themas, Abgrenzung der Lebenssphäre, der Einflüsse. Die müssen verarbeitet werden, was auch immer wiederum auf eine Positivität verweist. Und daraufhin erst kann ich meinetwegen universelle und andere Charaktere von mir entfalten.
    Köhler: Herr Jirgl, Sie haben in Ihren Romanen, ich will jetzt nicht sagen, dass alle Literatur letztlich Heimatliteratur ist, aber man kann diese These vertreten, besonders ist sie bei Autoren wie, was weiß ich, Siegfried Lenz oder Günter Grass oder Heinrich Böll oder Borchert, also Kriegsheimkehrer-Geschichten, Geschichten über Teilungen, Geschichten über Vertreibung, Sie haben es selber gesagt, Sie haben selber darüber auch geschrieben – da wären Romane zu nennen, "Die Unvollendeten", "Vertreibungsgeschichte", "Abschied von den Feinden". Heimat gehört einem nie allein?
    Jirgl: Man hat Anteil im besten Fall, und man kann diesen Anteil auch behalten, wenn man halt nicht in diese fürchterlichen Situationen kommt von Leuten, die Sie eben beschrieben haben, also dass man vertrieben wird, dass man die Heimat verliert, dass sie einem auch genommen wird – das geht ja auch, dass zum Beispiel ganze Länder verschwinden.
    Köhler: Ich spreche mit Reinhard Jirgl, und wenn Sie es nicht zu kitschig finden, sage ich jetzt einfach mal, der auch vielleicht ein heimatloser Dichter im eigenen Land war. Ich meine damit natürlich, dass einige Ihrer ersten Romane bis zur Wende in der DDR nicht erscheinen konnten, seit gut 20 Jahren leben Sie als freier Schriftsteller auch davon. Ihr jüngster Roman "Oben das Feuer, unten der Berg" ist auch eine Heimatgeschichte über unbequeme Heimat, DDR-Heimat?
    Jirgl: Es spielt mit hinein, obwohl es nicht so dezidiert im Vordergrund steht. In dem anderen Buch, "Die Unvollendeten", ist das Thema wesentlich ausgebreiteter und natürlich auch …
    Heimat ist oft an konkrete geografische Räume gebunden
    Köhler: 2003 über Sudetendeutschland.
    Jirgl: 2003, ja. Weil das im Prinzip in großen Stücken, also ohne dass es eine Biografie wäre, eben doch Familienverhältnisse, also meine Familienverhältnisse wiedergibt und damit auch im Grunde genommen diese Frage behandelt. Aber in dem letzten Buch ist das nun so, ja, das kann man so sehen, was die einzelnen Personen betrifft, dass ihnen Heimat genommen wurde, auch eine politische Heimat, wenn man das so bezeichnen darf, dass Mentalitäten – das ist vielleicht das treffendere Wort –, dass Mentalitäten verloren gehen beziehungsweise dass Mentalitäten, die einmal entwickelt wurden, einer sehr, sehr starken Prüfung unterzogen werden, um es freundlich zu sagen. Und dieser Mentalitätsbegriff, den habe ich bisher nicht verwendet, der spielt aber unbedingt da mit hinein, wenn man nämlich betrachtet, dass Mentalität nicht der Beginn, sondern das Ende eines Sozialisierungsprozesses darstellt. Und das ist dann ein Codesystem, wenn man so will, das dann für die Zugehörigen zu dieser Mentalität wie ein Geheimcode entschlüsselt wird. Den verstehen alle, und der ist sehr, sehr schwer nach außen zu tragen. Denken Sie an all diese, sagen wir mal, ätiologischen Bündeleien, die es gab, also nach dem Fall der Mauer im Osten, auch im Westen vielleicht, wo sich im Prinzip Leute aufgrund einer Politik verständigt haben.
    Köhler: Heimat ist kein exklusiver Begriff, kein territorialer Begriff, oder?
    Jirgl: Auch, ist es auch. Also wie gesagt, es gehören zu dieser Erarbeitung von Welt, die individuell geschieht, da sind konkrete geografische Räume und so da sehr, sehr wesentlich. Wie sehr sie einen beeinflussen, das kann man feststellen, wenn man vielleicht in dieser Gegend nicht mehr wohnt heutzutage, als Erwachsener nach vielen Jahren dann dorthin zurückkehrt, wie es auch mir passiert ist – für mich war die Salzwedeler Gegend, also die Altmark eigentlich in dem Sinne meine Heimat, also meine landschaftliche Heimat. Und wenn Sie dann nach vielen Jahren mal wieder dorthin zurückkommen, dann werden Sie feststellen, dass Sie den Eindruck haben, alles ist sehr, sehr klein, von den Dimensionen her. Das hat natürlich dann damit zu tun, dass damals diese, sei es Landschaft oder sei es Stadt, bestimmte geografische Gebilde von ihrer geometrischen Größe in psychische Größe übersetzt wurden als Kind. Und deswegen muss das, wenn man als Erwachsener dann da hinkommt, sehr, sehr winzig aussehen alles, also fast im Puppenstubenformat, was immer sehr eine große Überraschung hat, andererseits aber wiederum bedeutet, wie sehr konkret an Gegenden und an Orte dieses, was wir Heimatgefühl dann nennen, gebunden sein mag.
    "Ich wollte einfach Zeit zum Schreiben haben"
    Köhler: Menschen sind in Erbgeschichten verwickelte Wesen, Erinnerungswesen – Sie haben die Künste zu Ihrer neuen Heimat gemacht. Sie haben mal angefangen so ganz handfest als Elektromechaniker, Ingenieur, waren auch am Theater beschäftigt und haben jetzt in so einer ungewissen Erwerbstätigkeit wie dem Schriftstellerdasein, in den Künsten Ihre Heimat gefunden?
    Jirgl: Na ja, das wäre jetzt ein bisschen sehr sentimental aufgewertet. Also sagen wir so: Das Schreiben war eigentlich, solange wie ich schreiben kann, der Wille, es zu tun, und daraufhin habe ich dann, als ich mal merkte auch, dass die Berufswahl, die ich mal getroffen hatte, eigentlich nicht der richtige Weg war, kam das natürlich umso stärker wieder hervor. Und ich hab dann eigentlich alles getan und mich auch so verhalten, um nur dem Schreiben selbst Zuarbeit zu leisten. Ich bin nicht zum Theater gegangen, weil ich großes Interesse am Theater hatte, ich wollte einfach Zeit zum Schreiben haben. Ich hab den Ingenieursberuf hingeschmissen, weil er mir Zeit zum Schreiben genommen hat. Ich meine, so geht das eigentlich bis zum heutigen Tag weiter. Vielleicht wird ja eines Tages mal der Punkt kommt, wo der Literaturbetrieb mich hindert am Schreiben, das kann ja auch sein.
    Köhler: Das wäre eine Volte. Also ich kenne noch den Spruch: Junge, lern doch was Ordentliches, muss es denn Philosophie sein und die Künste. Sie haben mal was Ordentliches gelernt, jetzt haben Sie sich im Unordentlichen aber dauerhaft eingerichtet.
    Jirgl: Ja, dieses Ordentliche war aber fürchterlich, das wäre für mich die Unordnung gewesen – das Chaos, die Unterdrückung …
    Köhler: Auch das Chaos ist in Ordnung.
    Jirgl: Ja, aber das wäre ein negatives Chaos, das wäre dieses Chaos, was einen in Zustände bringt, die mit einem selbst nichts zu tun haben. Wenn man ein Leben, ums jetzt mal blöd zu sagen, betrachtet von Soll und Haben, dann will man doch ein bisschen mit einem positiven Saldo unten rauskommen, und das kann mir nur dieses, wie Sie es bezeichnet haben, dieses unordentliche Dasein liefern …
    Köhler: Als Künstler.
    Jirgl: Ja, als Schriftsteller. Und dieses ordentliche, das bürgerliche Dasein in einem festen Beruf, den ich, unter uns gesagt, heute auch nicht mehr hätte – ich wäre einer der Ersten gewesen, der nach der Wende arbeitslos geworden wäre in diesem Ingenieursberuf, weil selbst für DDR-Verhältnisse an dem Ort, wo ich damals gearbeitet habe, in den Akademiewerkstätten in Adlershof, selbst für DDR-Verhältnisse war eine Überlastung, eine Überfrachtung, Überdimensionierung an Ingenieuren dort vorhanden.
    Köhler: Herr Jirgl, ich wünsche mir von Ihnen eine Novelle, eine Heimatnovelle, und Sie kriegen jetzt einen Auftrag von mir, sie soll den Titel tragen: Der Beleuchter.
    Jirgl: Um Gottes willen, Sie stoßen mich in tiefste Finsternisse zurück, die ich hoffte, doch hinter mir gelassen zu haben.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.