Medien nennen immer öfter die Herkunft oder Staatsangehörigkeit von Verdächtigen von Gewaltdelikten, und zwar offenbar von Jahr zu Jahr mehr. Zu dem Ergebnis kommt Thomas Hestermann (*), Journalismus-Forscher an der Hochschule Macromedia, "aber fast nur dann, wenn diese Ausländer sind".
Die Nationalität von Ausländern wird in der Berichterstattung über Gewaltdelikte damit deutlich überproportional genannt, auch im Verhältnis zu den Daten der polizeilichen Kriminalstatistik. Noch 2014 spielte nach den Befunden, die Hestermann auf einer Veranstaltung des Mediendienstes Integration vorstellte, die Staatsangehörigkeit in Fernsehberichten mit unter fünf Prozent fast keine Rolle. Schon da wurden Nichtdeutsche aber deutlich öfter genannt als Deutsche.
Verzerrung vor allem im Fernsehen
2017 war die Zahl vier Mal so hoch. In diesem Jahr zählte Hestermann erneut die Nennung in Berichten großer Fernsehsender. Das Ergebnis: In den vergangenen Jahren hat sich die Angabe der Herkunft noch einmal verdoppelt. Allerdings wird nun auch die deutsche Herkunft öfter genannt als zuvor.
Die größte Verzerrung gab es demnach in der Fernsehberichterstattung 2017. Dort wurden ausländische Staatsangehörigkeiten 25 Mal so oft genannt, wie es nach der polizeilichen Kriminalstatistik plausibel wäre. 2019 war es immer noch 19 Mal so oft. Ähnlich ist die Tendenz in Berichten überregionaler Zeitungen. Hestermanns Erklärung: "Nicht Lügenpresse, nicht Lückenpresse sein, nichts beschönigen, nichts Wichtiges weglassen – dieser Anspruch lastet auf den Journalistinnen und Journalisten."
Kölner Silvesternacht als Wendepunkt
Als Wendepunkt für die Medien sieht er dabei vor allem die Kölner Silvesternacht 2015/2016 an. Danach hatte auch der Deutsche Presserat seinen Kodex geändert. Galt zuvor noch, dass die Herkunft nur genannt werden sollte, "wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht", heißt es nun, die Herkunft solle "in der Regel nicht erwähnt werden, es sei denn, es besteht ein begründetes öffentliches Interesse".
Die "Sächsische Zeitung" hat sich schon vor drei Jahren entschieden, die Nationalität von Verdächtigen - bei jeder Straftat - immer zu nennen, wenn sie bekannt ist, auch die deutsche. Heinrich Maria Löbbers, stellvertretender Chefredakteur, hält die Entscheidung immer noch für richtig:
"Es ging uns um dieses Ziel, eben kein verzerrtes Bild zu zeigen. Und im Grunde genommen gehen wir davon aus, dass wenn wir die Nationalität nicht nennen, da eher ein Freiraum geschaffen wird für Gerüchte, für Spekulationen."
Berliner Polizei orientiert sich an alter Regelung
Wobei er einschränkt, das gelte möglicherweise gerade angesichts einer Erwartungshaltung und einer Demografie wie in Sachsen. Wie schwierig die Entscheidung auch für die Behörden sein kann, machte der Sprecher der Berliner Polizei, Thilo Cablitz, deutlich. Maßstab ist für ihn am ehesten die alte Presseratsvorschrift. Das könne bedeuten, dass etwa bei einer antisemitischen Tat die Herkunft des Verdächtigen aus einem muslimischen Land bedeutsam sein könne - genauso aber auch die aus Deutschland, verbunden mit rechter oder linker Motivation.
Grund, die deutsche Staatsangehörigkeit eines Verdächtigen zu nennen, könne aber auch sein, dass eine Tat am Görlitzer Park geschehe, der immer wieder mit Drogenhändlern aus afrikanischen Staaten medial präsent ist: "Und wir als Polizei stellen uns dann natürlich die Frage: Ist es erforderlich, diesem Frame entgegen zu wirken?"
Diskussionen über Augsburger Fall
Für die Berichterstattung in Medien stellt sich noch eine andere Frage: Wird möglicherweise sogar über Taten berichtet, WEIL Ausländer verdächtig sind? Die Zahlen sprechen laut Thomas Hestermann dafür. Er verweist auf die ganz aktuelle Berichterstattung:
"Wir diskutieren gerade über den Fall von Augsburg. Jugendliche haben einen Feuerwehrmann tödlich niedergeschlagen. Zugleich passiert etwa ein Angriff auf einen Polizeibeamten in München, der mit einer solchen Wucht ausgeführt wird, dass das Messer abbricht. Die 'Bild'-Zeitung ganz aktuell: 'Das ist der Messerstecher von München!' Wir erfahren alles Mögliche, wir sehen ihn im Bild, wir erfahren seinen Namen, wir erfahren nur eines nicht: seine Nationalität. Ich frage mich, warum?"
"Was hier passiert ist, dass hier eine Kulturalisierung von Kriminalität geschieht", antwortet Konstantina Vassiliou-Enz, Geschäftsführerin der Neuen Medienmacher*innen. Sie plädiert für die Linie, die die "New York Times" neuerdings vertritt: Die Herkunft soll nur genannt werden, wenn das im Bericht auch begründet werden kann.
Medien fragen inzwischen auch nach Geburtsort
Der Berliner Pressesprecher Cablitz macht eher die gegenteilige Erfahrung: Er werde nicht nur nach der Staatsangehörigkeit, sondern auch nach Geburtsort oder Migrationshintergrund gefragt, kürzlich auch bei einem Verkehrsunfall.
"Man kommt irgendwann in die Rechtfertigungsarie zu sagen: Ja, er hat nicht mal einen Migrationshintergrund. Und dann fangen wir an, zu erläutern, dass Menschen seit Generationen in Deutschland leben und wirklich deutsch sind. Und da dürfen wir niemals wieder hin zurück."
Mit anderen Worten: Mit der Nennung der Staatsangehörigkeit sei im Zweifel nichts gewonnen. Vorurteilen und Spekulationen werde man so nicht Herr.
(*) In einer früheren Version hatten wir einen falschen Vornamen, den haben wir korrigiert.