Es ist still in der Schulzestraße 1 in Berlin-Pankow. Corona-still. Agatha Koch führt durch die hellen, von Regalen gesäumten Räume ihres Sprachcafés. Das weiße Klavier in der Ecke hat seit Wochen niemand aufgeklappt, die Kisten mit Bastelutensilien und polnischen Kinderbüchern stehen unberührt in den Regalen, die Kaffeemaschine hinter der Holztheke: außer Betrieb.
"Es ist so traurig. Wir haben ein Video mit Fotos aus dem letzten Jahr gemacht, um zu sagen, wir vermissen euch und noch mal zu zeigen, wie war es denn hier. Das wirkt wirklich wie im vorigen Leben."
"Es ist so traurig. Wir haben ein Video mit Fotos aus dem letzten Jahr gemacht, um zu sagen, wir vermissen euch und noch mal zu zeigen, wie war es denn hier. Das wirkt wirklich wie im vorigen Leben."
Sprachcafé Polnisch - eine Institution
Agatha Koch öffnet ihren Laptop, führt das von polnischer Musik unterlegte Video vor. Die Fotos auf dem Bildschirm zeigen gut besuchte Lese- und Kulturabende, krabbelnde, bastelnde, tanzende Kinder, lachende Jugendliche… Das Berliner "Sprachcafé Polnisch" – seit bald zehn Jahren eine Institution in der multilingualen Szene der Stadt – ist Agatha Kochs Lebenswerk.
"Ich hatte keinen Plan damals, das so groß aufzuziehen. Ich hatte, glaube ich, das Bewusstsein, dass es wichtig ist, die Wurzeln leben zu lassen, auch wenn ich persönlich begeistert bin von der deutschen Sprache und Kultur und sehr gerne in Deutschland lebe. Für mich gehört beides dazu und deswegen wollte ich das andere Teil auch bewusst leben."
"Ich hatte keinen Plan damals, das so groß aufzuziehen. Ich hatte, glaube ich, das Bewusstsein, dass es wichtig ist, die Wurzeln leben zu lassen, auch wenn ich persönlich begeistert bin von der deutschen Sprache und Kultur und sehr gerne in Deutschland lebe. Für mich gehört beides dazu und deswegen wollte ich das andere Teil auch bewusst leben."
Das aber war leichter gesagt als getan. Bestehende Strukturen gab es in Berlin-Pankow weder für Agatha Koch noch für ihre polnisch-deutsch aufwachsenden Kinder. Die junge Mutter merkte schnell: Ganz allein würde sie Sprache und Kultur nicht weitergeben können.
Spielerische Förderung der Zwei- und Mehrsprachigkeit
"Natürlich ist es schwer. Wenn man nur den ganz einfachen Alltag betrachtet: Wie viel Zeit verbringen Eltern und Kinder zusammen? Wenn Eltern arbeitstätig sind und wenn Kinder in der Kita oder in der Schule sind. Wie viel Zeit bleibt wirklich füreinander? Und dann auch, wenn die Kinder ein bisschen größer sind, in das Pubertätsalter kommen, dann kommt die zweite Trotzphase oder die Phase der Distanzierung und der Ablehnung: "Ach, was soll ich denn mit Mama?" Da habe ich andere Pläne, andere Wünsche, andere Vorstellungen."
Auch wenn das Vorurteil oft anders aussieht: Studien bestätigen längst, was Agatha Koch damals befürchtete: Auch Kinder türkisch- oder arabischstämmiger Familien sprechen die Sprache ihrer Eltern oder Großeltern oft nur noch gebrochen, können sich höchstens über Alltagsthemen unterhalten. Agatha Koch wollte, dass es anders kommt. Aus der Email-Liste wurde ein stetig wachsendes Elternnetzwerk, ein Sprachcafé mit eigenen Räumen, ein Verein. Eine kleine polnischsprachige Welt mitten in Berlin, in deren Zentrum die spielende Förderung der Zwei- und Mehrsprachigkeit steht.
"Wir sind keine Schule, aber wir versuchen eine positive Einstellung dazu aufzubauen, zum Land ihrer Großmütter, Großväter, Eltern usw. Dass es doch auch wichtig ist, diese Kultur mitzutragen, mitzuerleben und sich nicht dafür zu schämen."
Auch wenn das Vorurteil oft anders aussieht: Studien bestätigen längst, was Agatha Koch damals befürchtete: Auch Kinder türkisch- oder arabischstämmiger Familien sprechen die Sprache ihrer Eltern oder Großeltern oft nur noch gebrochen, können sich höchstens über Alltagsthemen unterhalten. Agatha Koch wollte, dass es anders kommt. Aus der Email-Liste wurde ein stetig wachsendes Elternnetzwerk, ein Sprachcafé mit eigenen Räumen, ein Verein. Eine kleine polnischsprachige Welt mitten in Berlin, in deren Zentrum die spielende Förderung der Zwei- und Mehrsprachigkeit steht.
"Wir sind keine Schule, aber wir versuchen eine positive Einstellung dazu aufzubauen, zum Land ihrer Großmütter, Großväter, Eltern usw. Dass es doch auch wichtig ist, diese Kultur mitzutragen, mitzuerleben und sich nicht dafür zu schämen."
Auch die Sprache der Eltern gut beherrschen
Dass das keine Selbstverständlichkeit ist, weiß auch Mirvat Adwan, Gründerin der kleinen Arabischschule "Kalamon" in Berlin-Kreuzberg. Auch sie trifft immer wieder auf Kinder, Jugendliche und Eltern, die ihre Zweisprachigkeit in Deutschland nicht etwa als Bereicherung, sondern als Makel erleben. Als Verdachtsmoment dafür, dass sie sich nicht integrieren wollten. Die syrische Journalistin Adwan lebt und arbeitet seit zwölf Jahren in Berlin. Ihre beiden Kinder sind hier geboren, gehen hier zur Schule, sprechen akzentfrei Deutsch. Arabisch, so wünschen es sich die Eltern, sollen sie genauso selbstverständlich beherrschen. Und wenn möglich auch eines Tages flüssig lesen und schreiben.
"Mein Sohn liest wie eine Maus, aber nur deutsche Bücher. Und ich möchte so gerne, dass er auch unsere Bibliothek, also die zuhause ist, unser Bücherregal auch nutzt. Ich habe versucht, zuhause ihm die Sprache beizubringen. Nach zwei Minuten: Ach Mama, mir ist langweilig."
Insgesamt gebe es immer weniger Kinder in Berlin, die noch wirklich fließend das Arabisch ihrer Eltern oder Großeltern sprächen, so Adwan. Sprachkurse am Wochenende, wie sie bei "Kalamon" für alle Altersstufen angeboten werden oder auch freiwillige AGs an Schulen können da nicht viel ausrichten.
"Das Ziel ist, dass die arabische Sprache auch in normalen Schulen unterrichtet wird. Also, viele träumen davon, auch in normalen Schulen Arabischunterricht zu bekommen."
Wichtig: eine umfänglich ausgebildete Referenzsprache
Ein Traum, den auch Wissenschaftler zunehmend unterstützen. Der Sprachwissenschaftler Heiner Böttger von der Katholischen Universität Eichstätt etwa betont bereits seit zwanzig Jahren:
"…dass wir beim Erwerb von Sprachen so ganz alte lieb gewordene Denkweisen über den Haufen werfen müssen. Dazu gehört auch, dass man zum Beispiel in Deutschland möglichst viel Deutsch lernen muss, Deutsch sprechen muss, in den Familien und in den Schulen und in der Umgebung, um auch wirklich dann Deutsch zu erwerben. Das ist nicht so. Die Rechnung, dass ein Mehr an Deutschstunden zum Beispiel auch in der Schule zu besseren Deutschnoten führen würde, die ist von Wissenschaften, mittlerweile ab adsurdum geführt worden."
"…dass wir beim Erwerb von Sprachen so ganz alte lieb gewordene Denkweisen über den Haufen werfen müssen. Dazu gehört auch, dass man zum Beispiel in Deutschland möglichst viel Deutsch lernen muss, Deutsch sprechen muss, in den Familien und in den Schulen und in der Umgebung, um auch wirklich dann Deutsch zu erwerben. Das ist nicht so. Die Rechnung, dass ein Mehr an Deutschstunden zum Beispiel auch in der Schule zu besseren Deutschnoten führen würde, die ist von Wissenschaften, mittlerweile ab adsurdum geführt worden."
Was dagegen beim Erlernen der deutschen Sprache hilft, ist eine möglichst umfänglich ausgebildete Erst- oder auch Referenzsprache. Auch Agatha Koch, Gründerin des polnischen Sprachcafés, setzt sich deswegen dafür ein, dass Polnisch an Berliner Schulen als Wahlfach eingeführt wird.
"Kann sein, dass es demotivierend wirkt, noch mehr Lernen. Aber wenn ein Ziel vor den Augen ist, wenn ich noch eine Stunde oder fünf Stunden, wie viele auch immer, in der Woche noch in Polnisch investiere, dann habe ich das wirklich schwarz auf weiß und damit kann ich weitergehen, dafür werde ich anerkannt, dafür werde ich wertgeschätzt, das ist was... Das ist nicht etwas, was wirklich nur zuhause in geschlossenen Räumen passiert, sondern damit kann ich in die Öffentlichkeit gehen. Damit gewinne ich was als Mensch."
"Kann sein, dass es demotivierend wirkt, noch mehr Lernen. Aber wenn ein Ziel vor den Augen ist, wenn ich noch eine Stunde oder fünf Stunden, wie viele auch immer, in der Woche noch in Polnisch investiere, dann habe ich das wirklich schwarz auf weiß und damit kann ich weitergehen, dafür werde ich anerkannt, dafür werde ich wertgeschätzt, das ist was... Das ist nicht etwas, was wirklich nur zuhause in geschlossenen Räumen passiert, sondern damit kann ich in die Öffentlichkeit gehen. Damit gewinne ich was als Mensch."
Schulische Angebot bilden multikulturelle Herkunft zuwenig ab
Was Agatha Koch formuliert, hört man so auch von Vertretern russischer, vietnamesischer, iranischer oder italienischer Vereine in Berlin. Die Realität im Bildungssystem der multikulturellen Hauptstadt aber sieht anders aus. Gerade einmal drei Sprachen können Berliner Schüler im Rahmen des so genannten Herkunftssprachenunterrichts aktuell belegen: Einzelne über das Stadtgebiet verteilte Schulen bieten Türkisch, Arabisch und seit Kurzem auch Kurdisch an. Allerdings ist die Teilnahme freiwillig, nicht versetzungs- oder prüfungsrelevant und bisher nur von der 1. bis zur 6. Klasse vorgesehen.
Sprachpolitik fokussiert auf Französisch, Spanisch und Latein
"Das aktuelle System ist ausschließlich auf einsprachig deutsch aufgewachsene Kinder eingestellt." Resümiert Dr. Dita Vogel, Senior Researcher im Arbeitsbereich Interkulturelle Bildung an der Universität Bremen, die den Umgang von Schule und Gesellschaft mit Migration erforscht.
"Die sollen dann gemäß den Zielen der europäischen Sprachenpolitik und der Kultusministerkonferenz zwei weitere Sprachen bis zu einem gewissen Grad beherrschen können. Aber wenn man jetzt guckt, wie das rechtlich umgesetzt wird, dann gilt das nur für ganz wenige Sprachen, nämlich die, die auch seit langer Zeit gelehrt werden, die Kolonialsprachen Französisch und Spanisch, die historisch wichtige Sprache Latein. Und für andere Sprachen gilt das allenfalls mal im Ausnahmefall in Großstädten. Und die Mehrheit der mehrsprachig Aufwachsenden in Deutschland hat nicht die Möglichkeit, die eigenen Sprachen weiterzuentwickeln."
"Die sollen dann gemäß den Zielen der europäischen Sprachenpolitik und der Kultusministerkonferenz zwei weitere Sprachen bis zu einem gewissen Grad beherrschen können. Aber wenn man jetzt guckt, wie das rechtlich umgesetzt wird, dann gilt das nur für ganz wenige Sprachen, nämlich die, die auch seit langer Zeit gelehrt werden, die Kolonialsprachen Französisch und Spanisch, die historisch wichtige Sprache Latein. Und für andere Sprachen gilt das allenfalls mal im Ausnahmefall in Großstädten. Und die Mehrheit der mehrsprachig Aufwachsenden in Deutschland hat nicht die Möglichkeit, die eigenen Sprachen weiterzuentwickeln."
Bildungsforscherin: Einwanderersprachen als zweite Fremdsprache anerkennen
Welch große Potenziale die deutsche Gesellschaft durch dieses Nichtanerkennen von Herkunftssprachen im Bildungssystem womöglich verschenkt, werde kaum öffentlich diskutiert, geschweige denn in Frage gestellt.
"Na, wir sind halt alle mit einem anderen System aufgewachsen: Ich bin einsprachig deutsch aufgewachsen, hab dann eine erste, zweite, dritte Fremdsprache gelernt, und das war für mich selbstverständlich. Das ist sozusagen Teil der Grammatik der Schulen. Und ich muss ihnen sagen, ich habe schon vorher allerlei gelesen dazu, dass es ungerecht ist, nicht alle Sprachen gleich anerkannt sind, dass es gut wäre, häufiger Türkisch, Polnisch und andere Einwanderersprachen als zweite Fremdsprache anzuerkennen. Aber im Grunde ist mir auch erst in diesem Projekt deutlich geworden, wie unlogisch unser System ist."
"Na, wir sind halt alle mit einem anderen System aufgewachsen: Ich bin einsprachig deutsch aufgewachsen, hab dann eine erste, zweite, dritte Fremdsprache gelernt, und das war für mich selbstverständlich. Das ist sozusagen Teil der Grammatik der Schulen. Und ich muss ihnen sagen, ich habe schon vorher allerlei gelesen dazu, dass es ungerecht ist, nicht alle Sprachen gleich anerkannt sind, dass es gut wäre, häufiger Türkisch, Polnisch und andere Einwanderersprachen als zweite Fremdsprache anzuerkennen. Aber im Grunde ist mir auch erst in diesem Projekt deutlich geworden, wie unlogisch unser System ist."
Berliner Integrationsbeauftrage unterstützt Forderungen nach Mehrsprachigkeit
Vogel verweist auf Beispiele von Jugendlichen, die zwar neben Deutsch fließend Chinesisch oder Türkisch sprechen, wegen fehlender Französisch- oder Lateinkenntnisse aber dennoch am Gymnasium scheitern. Was dagegen ein die Mehrsprachigkeit anerkennendes System für einzelne bedeuten kann, zeigt das Beispiel von Katharina Niewiedzial. Die gebürtige Polin kam mit zwölf Jahren ohne jegliche Deutschkenntnisse nach Deutschland und landete zunächst in der 7. Klasse einer Bremer Realschule.
"Und es war klar: Ich musste Deutsch lernen und Englisch lernen und mir fehlte die zweite Fremdsprache, um tatsächlich in der Schule weiterzugehen. Ich hätte eigentlich nach der Zehnten dann abgehen müssen. In Bremen gab es aber die Regelung schon damals, also vor 30 Jahren, dass meine Muttersprache oder die Herkunftssprache als Zweitsprache anerkannt werden kann. Und die brauche ich, wenn ich zum Abitur, also in die Oberschule gehe. Und ich habe tatsächlich dann eine Prüfung abgelegt und habe sie bestanden. Und dann tauchte diese Sprache in meinem Zeugnis auf. Und nur damit konnte ich dann in der Schule weitergehen, habe Abitur gemacht, konnte dann auch studieren und ja, im Prinzip meinen gesamten Bildungsweg dann auch weitergehen."
"Und es war klar: Ich musste Deutsch lernen und Englisch lernen und mir fehlte die zweite Fremdsprache, um tatsächlich in der Schule weiterzugehen. Ich hätte eigentlich nach der Zehnten dann abgehen müssen. In Bremen gab es aber die Regelung schon damals, also vor 30 Jahren, dass meine Muttersprache oder die Herkunftssprache als Zweitsprache anerkannt werden kann. Und die brauche ich, wenn ich zum Abitur, also in die Oberschule gehe. Und ich habe tatsächlich dann eine Prüfung abgelegt und habe sie bestanden. Und dann tauchte diese Sprache in meinem Zeugnis auf. Und nur damit konnte ich dann in der Schule weitergehen, habe Abitur gemacht, konnte dann auch studieren und ja, im Prinzip meinen gesamten Bildungsweg dann auch weitergehen."
Niewiedzial: Kein reines Bildungsthema, sondern integrationspolitisch wichtig
Katharina Niewiedzial studierte Politikwissenschaften. Heute ist sie die Integrationsbeauftrage des Senats von Berlin. Als solche unterstützt sie die Forderungen nach Mehrsprachigkeit im deutschen Schulsystem ausdrücklich.
"Für mich ist das kein reines Bildungsthema, sondern es ist tatsächlich auch ein Thema, was ich integrationspolitisch wichtig finde, nämlich: Wir haben in unseren Bildungsstatistiken immer diesen Hinweis NdH, Nichtdeutscher Herkunftssprache. Und dieses Wort oder dieser Begriff zeigt ja auch, dass wir defizitär an dieses Thema herangehen. Wir könnten auch fragen, welche Sprachen spricht dieses Kind und die in der Statistik abbilden. Und das ist, glaube ich, ein Kernproblem. Diese defizitorientierte Perspektive. Man kann aber wissenschaftlich und auch ökonomisch und aber auch sozial ganz viele Argumente finden, die zeigen, dass die Mehrsprachigkeit einen wahnsinnigen Vorteil bietet, sowohl für die Gesellschaft wie auch für den Einzelnen."
"Für mich ist das kein reines Bildungsthema, sondern es ist tatsächlich auch ein Thema, was ich integrationspolitisch wichtig finde, nämlich: Wir haben in unseren Bildungsstatistiken immer diesen Hinweis NdH, Nichtdeutscher Herkunftssprache. Und dieses Wort oder dieser Begriff zeigt ja auch, dass wir defizitär an dieses Thema herangehen. Wir könnten auch fragen, welche Sprachen spricht dieses Kind und die in der Statistik abbilden. Und das ist, glaube ich, ein Kernproblem. Diese defizitorientierte Perspektive. Man kann aber wissenschaftlich und auch ökonomisch und aber auch sozial ganz viele Argumente finden, die zeigen, dass die Mehrsprachigkeit einen wahnsinnigen Vorteil bietet, sowohl für die Gesellschaft wie auch für den Einzelnen."
Kritiker wie Josef Kraus sehen das anders. Der pensionierte Lehrer und ehemalige Vorsitzende des deutschen Lehrerverbandes betonte bereits mehrfach, er halte herkunftssprachlichen Unterricht für ‚anti-integrativ‘. 2016 erklärte er in einem Interview gegenüber der Tageszeitung die Welt, unsere Kinder seien ‚keine Automaten, die man mit immer mehr Sprachen füttern‘ könne. Auch Torsten Heil, Pressesprecher der Kultusministerkonferenz, machte damals klar: Integration bedeute ‚in erster Linie, dass diejenigen, die in unser Land kommen, unsere Sprache lernen.‘
Thema Sprache - ideologisch aufgeladen
Dass aber niemand ernsthaft fordert, Arabisch, Türkisch, Farsi, Chinesisch oder Italienisch anstatt Deutsch zu unterrichten, sondern dass sie lediglich zusätzlich zur unumstrittenen Landessprache angeboten werden sollen, wird bei solchen Kritiken außer Acht gelassen. Ebenso bleiben sprachwissenschaftliche Erkenntnisse unerwähnt, die belegen, dass eine Förderung der Erstsprache, also zum Beispiel Arabisch, eben keine schlechteren Ergebnisse im Deutschunterricht bewirkt, sondern bessere.
"Ich glaube, dass Sprache wirklich auch ein ideologisches Thema ist." So die Berliner Integrationsbeauftragte Katharina Niewiedizial. "Dass es natürlich auch immer diese Gefühle des Rückzugs und aber auch Ängste gibt. Und das spiegelt sich dann irgendwo auch in kleinen Politiken wider. Viele Regelungen wurden dann auch wieder nivelliert oder weggenommen, die eigentlich schon da waren."
So geschehen zum Beispiel in Bayern, wo der herkunftssprachliche Unterricht vor zehn Jahren ‚zugunsten einer Intensivierung der Deutschförderung‘, wie es wörtlich hieß, abgeschafft wurde. Tatsachlich dürfte das weit verbreitete Gefühl, das Deutsche könne von anderen Sprachen bedroht oder verdrängt werden, eine Erklärung dafür sein, dass sich bei diesem Thema entgegen aller wissenschaftlichen Empfehlungen nur wenig tut. In Einwanderungsländern wie Schweden oder Kanada gilt die Mehrsprachigkeit in der Migrationsgesellschaft dagegen längst als Potenzial anstatt als Bedrohung.
So geschehen zum Beispiel in Bayern, wo der herkunftssprachliche Unterricht vor zehn Jahren ‚zugunsten einer Intensivierung der Deutschförderung‘, wie es wörtlich hieß, abgeschafft wurde. Tatsachlich dürfte das weit verbreitete Gefühl, das Deutsche könne von anderen Sprachen bedroht oder verdrängt werden, eine Erklärung dafür sein, dass sich bei diesem Thema entgegen aller wissenschaftlichen Empfehlungen nur wenig tut. In Einwanderungsländern wie Schweden oder Kanada gilt die Mehrsprachigkeit in der Migrationsgesellschaft dagegen längst als Potenzial anstatt als Bedrohung.
Thorsten Klute (Awo): Herkunftssprache kann ein Schatz sein
Ebenso wichtig dürfte bei alldem die Tatsache sein, dass Bildung in Deutschland Ländersache ist. So ist man etwa in Berlin gerade dabei, ein Konzept für den Ausbau des Herkunftssprachenunterrichts zu entwickeln, während Schüler in Hamburg bereits an ausgewählten Schulen Arabisch, Albanisch, Bosnisch, Dari, Farsi, Polnisch, Russisch und Türkisch belegen können. In Nordrhein-Westfalen, wo knapp 100.000 Schüler am Angebot des herkunftssprachlichen Unterrichts teilnehmen, sind es gar schon 23 Sprachen. In Paragraph 2, Absatz 10 des Schulgesetzes heißt es dort: Die Schule (…) achtet und fördert die ethnische, kulturelle und sprachliche Identität (Muttersprache) der Schülerinnen und Schüler." Schon bei der Schulanmeldung wird deswegen der mögliche Bedarf an Sprachenunterricht abgefragt.
"Heute geht es darum, auch politisch zu erkennen, dass die Herkunftssprache, wenn sie gefördert wird, kein Klotz am Bein ist, sondern ein Schatz, den man pflegen muss, weil er wertvoll für die Gesellschaft insgesamt ist und natürlich auch für jedes einzelne Kind." Betont Thorsten Klute, Vorstandsvorsitzender der Arbeiterwohlfahrt Ostwestfalen-Lippe, der sich seit vielen Jahren mit der politischen Förderung des Herkunftssprachlichen Unterrichts in Nordrheinwestfalen beschäftigt.
"Und wenn man dieses Bewusstsein irgendwann geschaffen hat und weiß, dass es auch besser ist für den Staat selbst, wenn Lehrpläne in Deutschland, in deutschen Ministerien entwickelt werden, dann schafft man es auch auf die Dauer genug Lehrer*innen zu finden mit entsprechenden Qualifikationen, die integriert ins staatliche Schulsystem Unterricht leisten können. Vor allem bedarf es eines Bewusstseins dafür."
"Und wenn man dieses Bewusstsein irgendwann geschaffen hat und weiß, dass es auch besser ist für den Staat selbst, wenn Lehrpläne in Deutschland, in deutschen Ministerien entwickelt werden, dann schafft man es auch auf die Dauer genug Lehrer*innen zu finden mit entsprechenden Qualifikationen, die integriert ins staatliche Schulsystem Unterricht leisten können. Vor allem bedarf es eines Bewusstseins dafür."
Wenn schulische Angebote fehlen, greifen Eltern auf Kurse in Moscheen zurück
Ganz anders sieht man das in Bundesländern wie Bayern, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein, in denen aktuell kein staatlich finanzierter und organisierter herkunftssprachlicher Unterricht stattfindet. Eltern, die hier zum Beispiel das Arabisch oder Türkisch ihrer Kinder fördern wollen, haben dafür oft keine andere Wahl als auf von Moscheen oder dem türkischen Konsulat angebotene Kurse zurückzugreifen – auch, wenn sie davon nicht unbedingt ideologisch oder religiös überzeugt sind.
Rechtsanspruch auf Prüfungen in allen Sprachen gefordert
Der Zugang zum herkunftssprachlichen Unterricht hängt für Kinder in Deutschland also stark vom Wohnort ab. Damit sich das ändert, fordert die Wissenschaftlerin Dita Vogel nun in einem viel beachteten Debattenbeitrag einen ganz neuen Ansatz "für den Abbau der Diskriminierung von mehrsprachig Aufwachsenden bei Schulabschlüssen": Schüler in Deutschland, so die Bremer Wissenschaftlerin, sollten in Zukunft einen Rechtsanspruch auf Prüfungen in allen Sprachen haben, für die schriftliches Material vorliegt. Statt zum Beispiel verpflichtend am Französisch- oder Lateinunterricht teilnehmen zu müssen, sollten sie dann parallel und gegebenenfalls digital in so genanntem Mehrsprachenunterricht auf Prüfungen in ihrer Herkunftssprache vorbereitet werden, die sie sich dadurch als zweite Fremdsprache anerkennen lassen können.
"Es gibt auch jetzt schon die Möglichkeit für Zugewanderte, dass sie eine Prüfung ablegen können in einer der Sprachen, die sie besser sprechen. Sie haben aber keinen Rechtsanspruch darauf, sondern es gibt den Vorbehalt, dass entsprechende Prüfer zu finden sind und dass die Bundesländer bestimmte Prüfungskapazitäten vorhalten. Gibt’s einen Rechtsanspruch, dann kehrt sich die Logik um: Dann sind die Bundesländer aufgefordert für diejenigen, die einen Rechtsanspruch haben, Prüfungsmodalitäten zu schaffen und Prüfende einzustellen."
"Es gibt auch jetzt schon die Möglichkeit für Zugewanderte, dass sie eine Prüfung ablegen können in einer der Sprachen, die sie besser sprechen. Sie haben aber keinen Rechtsanspruch darauf, sondern es gibt den Vorbehalt, dass entsprechende Prüfer zu finden sind und dass die Bundesländer bestimmte Prüfungskapazitäten vorhalten. Gibt’s einen Rechtsanspruch, dann kehrt sich die Logik um: Dann sind die Bundesländer aufgefordert für diejenigen, die einen Rechtsanspruch haben, Prüfungsmodalitäten zu schaffen und Prüfende einzustellen."
Mehrsprachig aufwachsende Kinder berücksichtigen
Das Problem fehlender Lehr- und Prüfkräfte, das Skeptiker meist anbringen, wenn es um solche Forderungen nach flächendeckendem Herkunftssprachenunterricht geht, sieht Wissenschaftlerin Vogel in Zeiten von fortschreitender Digitalisierung nicht. Für fast alle Sprachen gebe es an deutschen Universitäten Institute, die schon jetzt Prüfungen auch digital abnehmen könnten. Hilfe könnte auch von zugewanderten Pädagoginnen kommen, so die Berliner Integrationsbeauftragte Katharina Niewiedzial, die den Vorschlag unterstützt.
"Es gibt wahnsinnig viele gut qualifizierte, hochqualifizierte Menschen, die zu uns nach Deutschland kommen, hier einwandern und auch sehr gerne in Schulen arbeiten würden. Wir haben nur das Problem, dass wir auch dort bei der Anerkennung von Qualifikation sehr restriktiv sind und nicht alle Lehrkräfte aus dem Ausland hier sofort auch in Schulen beginnen können. Aber ich glaube, das könnte man auch anders regeln. Wir sehen auch jetzt mit dem Quereinstieg in den Bildungsbereich in Berlin, dass es klappt. Ich würde mir wünschen, dass man genau bei diesem Quereinstieg jetzt auch einen Schwerpunkt auf die verschiedenen Sprachen legt."
Dita Vogels Vorschlag wird in der Fachwelt zurzeit diskutiert und dabei weiter konkretisiert. Der Grundtenor scheint positiv. Denn langfristig, da ist man sich in der Wissenschaft einig, kann sich ein Land wie Deutschland ein auf einsprachig aufwachsende Kinder ausgerichtetes Schulsystem eigentlich nicht mehr leisten.
"Es gibt wahnsinnig viele gut qualifizierte, hochqualifizierte Menschen, die zu uns nach Deutschland kommen, hier einwandern und auch sehr gerne in Schulen arbeiten würden. Wir haben nur das Problem, dass wir auch dort bei der Anerkennung von Qualifikation sehr restriktiv sind und nicht alle Lehrkräfte aus dem Ausland hier sofort auch in Schulen beginnen können. Aber ich glaube, das könnte man auch anders regeln. Wir sehen auch jetzt mit dem Quereinstieg in den Bildungsbereich in Berlin, dass es klappt. Ich würde mir wünschen, dass man genau bei diesem Quereinstieg jetzt auch einen Schwerpunkt auf die verschiedenen Sprachen legt."
Dita Vogels Vorschlag wird in der Fachwelt zurzeit diskutiert und dabei weiter konkretisiert. Der Grundtenor scheint positiv. Denn langfristig, da ist man sich in der Wissenschaft einig, kann sich ein Land wie Deutschland ein auf einsprachig aufwachsende Kinder ausgerichtetes Schulsystem eigentlich nicht mehr leisten.