Der Handelsgehilfe August Esch wird wegen eines angeblichen Buchungsfehlers im Streit entlassen. Fortan will sich Esch an seinem Vorgesetzten rächen. Hermann Brochs Roman "Esch oder die Anarchie" beginnt in Köln an einem Märztag des Jahres 1903 wie ein klassischer Büroroman. In seiner epochemachenden Darstellung "Die Angestellten" von 1930 konstatierte Siegfried Kracauer, das Problem der Angestellten bestehe darin, sich voneinander absondern zu wollen, obwohl sie aufeinander angewiesen seien. Doch der gebürtige Luxemburger Esch, der Wein, Fleischgerichte und amouröse Abwechslung liebt, taugt nicht zum soziologischen Exempel. Denn sein Schöpfer Hermann Broch hat mit dem aufbegehrenden Kleinbürger Höheres vor: "Zorn" lautet August Eschs Lieblingsvokabel, ist er doch der Meinung, dieser schärfe die Sinne und verändere das Bewusstsein.
"Zorn gegen das Geschäftswesen erwachte wieder in ihm, Zorn gegen eine Organisation, die unter dem Schein schöner Ordnung, glatter Gänge, schöner glatter Buchungen alle Infamien verbirgt. Und das nennt sich Solidität. Ob es nun Prokurist oder Präsident heißt, es gibt keinen Unterschied zwischen Kaufmann und Kaufmann."
Als Sohn eines jüdischen Textilfabrikanten wusste Hermann Broch, worüber er schrieb. Der gebürtige Wiener hatte ein Ingenieurstudium absolviert und eine Zeitlang in einer Textilfabrik im elsässischen Mulhouse gearbeitet, das damals als Mühlhausen zum Deutschen Kaiserreich gehörte. So kam es, dass er mit "Esch oder die Anarchie" den Mittelteil seiner Romantrilogie "Die Schlafwandler" am Rhein ansiedelte – in Köln und Mannheim sowie mit einer fesselnden erzählerischen Klimax im südbadischen Kurort Badenweiler. Dort trachtet August Esch dem mystifizierten homosexuellen Industriellen Bertrand nach dem Leben, der wie ein Phantom durch den Text schwebt. Auf der Zugfahrt nach Badenweiler erweisen sich Esch und seine Mitreisenden als prächtige nihilistische Vorläufer der sogenannten Wutbürger.
"Die Reisenden haben ihr Gepäck mit großer Sorgfalt in den Netzen geordnet, sie führen zornige und kritische Gespräche über die politischen Einrichtungen des Reiches, über die öffentliche Ordnung und über das Rechtswesen, sie bekritteln die Dinge und Einrichtungen in scharfer Form, wenngleich mit Worten, an deren Gemäßheit sie nicht mehr recht glauben können. Und in dem schlechten Gewissen ihrer Freiheit fürchten sie den schrecklichen Krach des Eisenbahnunglücks, bei dem ihnen das eiserne Gestänge spießend durch den Leib fährt. Dergleichen hat man schon oft in der Zeitung gelesen."
Mord als Ausgleich
Denn obwohl Esch durch die Vermittlung eines befreundeten Sozialisten eine Stelle als Lagerbuchhalter bei der Mittelrheinischen Schifffahrtsgesellschaft in Mannheim bekommen hat und einer patenten Wirtin den Hof macht, ist er nach wie vor der Meinung, in der Welt herrsche ein gewaltiger Buchungsfehler. Dieser könne nur durch einen Mord ausgeglichen werden.
"Jeder muss seinen Traum erfüllen, böse und heilig zugleich, dann wird er der Freiheit teilhaftig."
Es ist diese Mischung aus Satire, Abstraktion und Übertreibung, die Hermann Brochs Roman von 1932 weiterhin oder erst recht wieder lesenswert macht. Mit August Esch erschafft der Autor einen Freigeist, der den gängigen Theorien seiner Zeit misstraut. Ob er sich über sozialistische Agitatoren amüsiert, die im Gefängnis landen, über einen vegetarischen Tabakhändler oder über die naiven Damen der Heilsarmee: Broch, der sich intensiv mit Massenpsychologie auseinandersetzte, karikiert trefflich die Gedankenströmungen Anfang des 20. Jahrhunderts. Bei der Zeichnung des Vegetariers Lohberg, den Esch auf hochkomische Weise mit der Schwester seines Mannheimer Vermieters verkuppelt, legt sich bereits der Schatten des heraufziehenden Nationalsozialsozialismus über die Zeilen:
"Nicht nur, dass er im Tabak die Volksvergiftung und die Vergeudung des Nationalwohlstands sah, (…) er trat überhaupt für ein großes, naturgemäßes, echt deutsches Leben und Wesen ein, und ein großer Schmerz war es ihm, nicht mit gewaltiger Brust und in gewaltiger Blondheit leben zu können."
In jedem der drei stilistisch unterschiedlichen Teile seines Romans "Die Schlafwandler" nahm sich Hermann Broch einen Epochenquerschnitt zwischen 1888 und 1918 vor. Der Buchhalter Esch steht als literarischer Repräsentant für das Jahr 1903, dem Broch einen Dämmerzustand kurz vor dem Zerfall aller Werte attestierte. Eschs Bestreben, im eigenen Leben Ordnung zu schaffen, mache ihn zu einer tragikomischen Don-Quijote-Figur, schreibt der Herausgeber Bernhard Fetz im Nachwort.
Buchhalter als selbsternannter Erlöser
Diese Tendenz erlangt vollends groteske Züge, als sich der Buchhalter zum selbsternannten Erlöser aufschwingt. Durch die Begegnung mit einem Varieté-Besitzer, dessen Fundus im Mannheimer Hafen verzollt werden soll, lernt August Esch die Ungarin Ilona kennen. Sie tritt in eben diesem Varieté als Assistentin eines Messerwerfers auf. Während er weiterhin die Kölner Wirtin mit dem Spitznamen Mutter Hentjen durch seine Liebe erlösen und zur Auswanderung nach Amerika überreden will, wünscht Esch zugleich Ilona von ihrem Schicksal freizukaufen. Dazu gibt er seine Stelle auf und richtet fortan Damenringkämpfe aus. All diese phantastischen Unternehmungen scheitern kläglich, doch am Schluss haben sich am Rhein immerhin drei Paare gefunden.
"Freilich war’s ins Leere geredet, denn Ilona begriff offenbar immer noch nichts von der deutschen Sprache, durfte wohl auch nie etwas davon begreifen, sowenig sie von den Opfern wissen durfte, die für sie gebracht worden waren. Keiner Sprache mächtig, war sie kaum mehr Gast zu nennen am Tische der Fleischgebundenen, eher ein Besuch im Gefängnis der Irdischen oder eine freiwillig Gefangene."
Die Bibliothek des Österreichischen Eigensinns will laut Bernhard Fetz zentrale Texte der österreichischen Literatur wieder ins Bewusstsein rücken. Der dreizehnte Band der Reihe lädt zu der Entdeckung ein, dass der erzählerisch so kraftvolle wie ideensprühende Esch-Roman hervorragend für sich alleine stehen kann. Der vielgelobte, aber bereits vor seinem Tod im Jahr 1951 leider wenig gelesene Hermann Broch erweist sich darin als glänzender Satiriker und ironischer Apologet des Zorns. Diese den gesamten Roman grundierende Empfindung kommt mit einigen Nüssen ins Spiel, auf denen Mutter Hentjen beim Betreten ihrer Speisekammer ausrutscht. So beweist die Neuausgabe von "Esch oder die Anarchie" ganz nebenbei, dass die Lektüre von Hermann Broch weit mehr als das Knacken theoretischer Nüsse bereithält.
Hermann Broch: "Esch oder die Anarchie", Roman, in der Reihe "Österreichs Eigensinn" herausgegeben und mit einem Nachwort von Bernhard Fetz,
Jung & Jung Verlag, Salzburg und Wien, 304 Seiten, 24 Euro
Jung & Jung Verlag, Salzburg und Wien, 304 Seiten, 24 Euro