Michael Köhler: Einen Archäologen und Präsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz nach Sinn und Notwendigkeit des Erinnerns zu befragen, scheint müßig. Unter dem Eindruck von Raubkunst- und Kolonialismus-Debatten stellen sich den Museen neue Aufgaben des Erinnerns. Das Tätigkeitsfeld und die Erwartungen haben sich erweitert. Die Geschichte des Erwerbs und die Wege von Objekten in die Sammlungen wollen auch erzählt werden.
Eines der letzten Kapitel in Ihrem Buch "Abenteuer Archäologie" heißt, "Rettung der Erinnerung durch die Archäologie". Es geht nicht nur um Skythen und Phönizier, sondern auch Zwangsarbeiterbaracken auf dem Tempelhofer Feld. Lassen sie uns über geraubte, geliehene und gerettete Erinnerung sprechen: Hermann Parzinger, was ist heute der Horizont des Erinnerns für einen Archäologen und Museumsmann wie Sie?
Hermann Parzinger: Ich meine, die Erinnerung wird komplexer, wenn man von der materiellen Kultur ausgeht, die materielle Kultur, die dazu dient, vergangene Kulturentwicklungen bis in die jüngste Gegenwart hinein aufzuzeigen, verstehbar zu machen, zu vermitteln. Da gehört auch der Weg der Objekte in die Sammlung, das gehört natürlich inzwischen auch dazu. Wir haben das gelernt durch die NS-Raubkunst-Thematik, die Kunstgegenstände, die in der NS-Zeit von Nazis jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern in Deutschland gestohlen worden sind. Das war eine lange Debatte, die uns auch noch lange beschäftigen wird. Inzwischen dehnt sich das aus, die Frage der Rechtmäßigkeit, wobei man dann schnell an Grenzen auch stößt, weil Dinge, die aus anderen Kulturen kommen, in anderen Abhängigkeitsverhältnissen gesammelt worden sind, das jetzt alles immer als Unrecht, als rückgebenswert zu betrachten, ist auch schwierig.
Ich glaube, man muss auch zu einem Verständnis kommen, dass man grundsätzlich die Dinge eigentlich nur als geliehen betrachtet, auch die Museumsverantwortlichen und Bibliotheksverantwortlichen. Wir sind im Grunde Kuratoren, die die Verantwortung haben, die Dinge zu bewahren für die Nachwelt und immer wieder auch objektiv, neutral, nicht politisch irgendwie motiviert oder ideologisiert, die Geschichten zu erzählen, die uns die Objekte über Menschen berichten.
Die Rechtmäßigkeit des Erwerbs überprüfen
Köhler: Sie nehmen fast schon das Ergebnis auch Ihres letzten Buches vorweg. Sie sprechen da von der humanen Aufgabe der Archäologie, nämlich den Respekt zwischen Kulturen zu fördern und zu vermitteln.
Parzinger: Das ist es genau. Ob man hier in Berlin Kunst aus Afrika zeigt und nicht nur sagt, das ist schön, das finden wir Europäer schön oder das stellen wir vielleicht nicht aus, weil uns das nicht gefällt, das ist die völlig falsche Herangehensweise. Es ist auch falsch, nur das auszustellen und das zu erzählen, was uns europäische Wissenschaftler besonders bemerkenswert erscheint. Gerade im Umfeld des Humboldt-Forums in der Neupräsentation der Sammlung arbeiten wir eng zusammen mit den Herkunftskulturen, mit Wissenschaftlern aus Herkunftsländern, was ist denen eigentlich wichtig, und da muss man auch noch mal unterscheiden, wenn es jetzt um Objekte aus Nigeria geht - ein Wissenschaftler aus Nigeria, der dort im Nationalmuseum sitzt, der denkt oft viel ähnlicher als wir -, oder einem Vertreter einer indigenen Gemeinschaft, deren Vorfahren die Objekte erzeugt haben. Aber auch das wollen wir. Auch diese Stimmen wollen wir im Humboldt-Forum, und ich glaube, das ist nicht begrenzt aufs Humboldt-Forum. Museen mit solchen außereuropäischen Sammlungen, völkerkundliche Museen müssen künftig sich diesen Stimmen öffnen, und das tun viele andere Kollegen in Hamburg, Stuttgart, München ja auch.
Köhler: Professor Parzinger, wir sprechen in einem Moment zufälligerweise, da die Berliner Staatsbibliothek, die in Ihren Beritt gehört, mehrere hundert Bücher aus NS-Raub entdeckt hat - das war ein Forschungsprojekt - und dem Frankfurter Institut für Sozialforschung zurückgibt. Das ist nur ein winziges Beispiel.
Worauf ich hinaus will: Wie hat sich der Blick auf die Felder in den letzten Jahren geweitet, auf die Tätigkeitsfelder? Es ist nicht mehr damit getan, die Dinge zu konservieren, zu pflegen, zu katalogisieren, zu erforschen und auszustellen?
Parzinger: Nein, auf gar keinen Fall. Es sind verschiedene Gebiete. Wenn wir als erstes mal kurz bei der Provenienz-Forschung noch bleiben: Die Tatsache des rechtmäßigen Erwerbs der Objekte ist von zentraler Bedeutung für jegliche Sammlung - ob Museum, Bibliothek oder Archiv - und wir gehen systematisch unsere Bestände auch durch - das ist zum Teil sehr aufwendig, das geht über Drittmittel, finanzierte Projekte -, um herauszufinden, welche Objekte sind wirklich gestohlen worden, sind geraubt worden, unter Druck und so weiter. Das betrifft wie gesagt NS-Raubkunst, das betrifft Bibliotheksbestände in der NS-Zeit, das betrifft außereuropäische Sammlungen, Archäologika und so weiter. Das ist ein Feld, die Rechtmäßigkeit des Erwerbs, die Rechtmäßigkeit unter den Umständen der Zeit, zum Zeitpunkt des Erwerbs. Es gab zum Beispiel den Pergamon-Altar und so weiter und anderes aus dem Osmanischen Reich, die Epoche der Fundteilungen oder Geschenke an den deutschen Kaiser, das ist was anderes.
Köhler: Stichwort Nofretete.
Parzinger: Genau. Das war eine klassische Fundteilung. Das ist was anderes. Das sind Dinge, legal dem damaligen Recht folgend. Dem muss man nachgehen.
Aber es gab damals auch schon Dinge, die nicht diesen Regelungen folgten. Das muss man zurückgeben. Rechtmäßigkeit des Erwerbs, ein großes Thema - und vielleicht vor 20, 30 Jahren noch nicht so ein großes Thema.
Zweites Thema ist: Es bringt gar nichts, die Objekte wirklich nur in den Sammlungen, in den Depots zu bewahren, nett auszustellen, mit ein paar Informationen zu versehen.
Museen müssen in die Gesellschaft hineinwirken
Köhler: Objekt und Altersangabe allein reichen nicht mehr?
Parzinger: Nein. Man muss im Grunde die Geschichten erzählen und man muss im Grunde einfach die Museen wirklich mit Leben erfüllen. Ein Museum oder eine Bibliothek oder ein Archiv verwahrt ja Objekte gleichsam im Aggregatzustand der Möglichkeiten. Aber diese Möglichkeiten, die muss man ermöglichen. Das heißt, die Objekte, die Geschichten der Objekte erzählen, den Kontext darstellen, auch immer wieder unterschiedliche Blicke. Ein Objekt erzählt nie nur eine Geschichte. Es kann sehr gegensätzlich sein.
Und der dritte große Bereich, aber das alles verknüpft, ist die digitale Transformation. Die ganzen Bestände, die Museen, Bibliotheken, Archive besitzen, wirklich digital zu erschließen, aber dann nicht nur zu erschließen, sondern dann beginnt die Arbeit eigentlich erst, das dann in Anwendungsformaten, in Anwendungsmodulen für den Interessierten - ob es der Wissenschaftler ist, der Studierende oder ein Schüler oder ein Lehrer, der sich für den Schulunterricht vorbereitet - wirklich erfassbar und erlebbar zu machen.
Köhler: Jetzt frage ich mal nicht den Archäologen allein in Ihnen, sondern vor allem den Chef der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die ja funktional eine Art Nationalstiftung ist. Sie sind Chef allein von 15 oder 16 Sammlungen. Alleine die ethnologischen Sammlungen beherbergen eine halbe Million Objekte. Seit Ihrem Amtsantritt vor zehn Jahren hat sich das Erinnern selber, die Erwartungen auch an Ihre Arbeit, auch im politischen Feld erweitert. Wir haben ein Zentrum für Kulturgut-Verluste. Wir haben - Sie haben es angesprochen - das riesige Feld der Provenienz-Forschung. Wie hat sich die Institution, Hermann Parzinger, Stiftung Preußischer Kulturbesitz verändert und wie hat es vielleicht sogar auch ihren Präsidenten selber verändert?
Parzinger: Zunächst mal ist ganz klar: Diese klassischen Aufgaben von Wissensarchiven, von Gedächtnisinstitutionen, die ja Museen und Bibliotheken sind, Sammeln, Bewahren, Erforschen und Vermitteln, dieser Vierklang, dieser klassische, der reicht heute nicht mehr aus. Museen, Bibliotheken und Archive, Kultureinrichtungen, Gedächtnisinstitutionen müssen sich viel, viel enger mit der Gesellschaft verbinden, müssen in die Gesellschaft hineinwirken. Ich glaube, das ist eine ganz zentrale Bedeutung. Dieses Hineinwirken in die Gesellschaft ist enorm wichtig, ist wichtig für die Integration. Wir haben hier Programme, wo wir Flüchtlinge zu Museumsführern ausbilden. Das ist eine ganz aktive, direkte Art oder ein Beitrag zur Integrationsarbeit.
Köhler: Tun Sie auf der Museumsinsel.
Parzinger: Genau. – Noch einmal: Die digitale Transformation, das und die Provenienz-Forschung, das sind nur drei Beispiele, die zu diesem Vierklang, den ich vorhin benannte, hinzukommen und die inzwischen nicht mehr so neu sind und die eigentlich zu den klassischen Aufgaben von Gedächtnisinstitutionen auch werden. Das heißt, das Spektrum der Aufgaben erweitert sich.
Köhler: Wir wollen nicht unterschlagen, dass es heftige Diskussionen gegeben hat und auch weiterhin gibt, ums Humboldt-Forum und so weiter. Sie werden sicherlich das eine oder andere Mal die Nase gerümpft haben oder die Stirn in Falten gelegt haben, aber Sie werden sich sicher bestimmt auch das eine oder andere kritische Wort doch zu eigen gemacht haben. Das höre ich ja jetzt schon raus. Wie sieht vor diesem Hintergrund auch der öffentlichen Debatten die Zukunft des Erinnerns aus? Und vor allem: Welche Leitfunktion kommt ja letztlich auch Ihnen zu, die Sie an der Spitze so einer riesigen Institution stehen?
Parzinger: Die Zukunft des Erinnerns muss eine ganz, ganz aktive sein. Und natürlich: Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz mit 2.000 Mitarbeitern, mit Abstand die größte Kultureinrichtung in Deutschland, von Bund und Ländern gemeinsam getragen …
Köhler: Auch eine der größten weltweit.
Parzinger: Und eine der größten weltweit, muss man sagen. Vergleichbar ist eigentlich nur noch das Smithsonian in Washington, die auch Museen, Bibliotheken, Archive und Forschungsinstitute unter einem Dach haben. Da stellt man natürlich dann auch immer besondere Herausforderungen. Adel verpflichtet, wenn man so will, und das ist uns natürlich schon auch an Anliegen. Wir wollen da schon auch vorausgehen.
Verschollene Erinnerung: Der Maji-Maji-Krieg
Erinnern kann nur noch ganz aktiv sein und ich sehe oder ich stelle mir das Museum der Zukunft auch vor, nicht als einen Tempel der Beschaulichkeit, des Betrachtens, des Genießens. Das können sie natürlich auch sein. Aber Museen müssen heute auch gesellschaftliche Labore sein, müssen Begegnung ermöglichen und ganz aktiv sich mit der Gesellschaft vernetzen, denn bei dem vielfältigen Freizeitangebot, mit dem man gerade in einer Stadt wie Berlin ja konkurriert, muss man schon mehr bieten als nur der Glaube an sich selbst und zu sagen, wir haben tolle Sammlungen, kommt in unsere Museen, sondern nein: Man muss auf die Leute, man muss in die Gesellschaft hineinwirken und auch die Zielgruppen bewusst zum Museumsbesuch motivieren.
Köhler: Und mit Diskussionen um Rückgabe allein wird man dem Thema nicht gerecht. So wichtig das Thema ist, aber das ist es nicht allein, denn zu den Erinnerungswegen gehört ja immer auch die Tauschgeschichte, die Handelsgeschichte und nicht nur die Raubgeschichte.
Parzinger: Genau! Und ich meine, das ist nur ein Teil. Wir sprechen ja nicht unbedingt immer von Provenienz-Forschung, sondern von der Geschichte der Objekte. Da ist die Provenienz, der Weg in die Sammlung eine Geschichte. Aber auch die Objekte, welche Geschichten sie in sich tragen. Man muss auch ganz klar sagen: Unsere Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern, gerade wenn es jetzt um die Kolonialzeit geht in Vorbereitung des Humboldt-Forums, ob in Ozeanien, in Afrika oder in Südamerika, wenn wir mit indigenen Gruppen zusammenarbeiten, und wir haben da viele Kooperationen inzwischen - denen ist vor allem mal wichtig, dass sie hier ihre Geschichte auch erzählen können, im Museum auch. Wir haben einen Ausstellungsbereich, den wird es im Humboldt-Forum geben; da geht es um Objekte aus Tansania, den Maji-Maji-Krieg. Das war ja ehemals deutsche Kolonie, ein sehr blutiger Krieg, vergleichbar mit dem Genozid an den Herero und Nama in ehemals Deutsch Südwestafrika. Kennt hier kein Mensch, wir haben einige Objekte davon, und es werden zwei Kuratoren aus Tansania im Humboldt-Forum anhand dieser Objekte diese Geschichte erzählen. Und dann wird dieses Ausstellungsmodul vielleicht ein, zwei Jahre im Humboldt-Forum zu sehen sein und dann sind das natürlich Objekte, die wir anschließend dann zurückgeben wollen, weil das natürlich ein ganz klarer Unrechtskontext ist. Aber zunächst einmal ist es unseren Partnern auch ein Anliegen, ihre Geschichte hier zu erzählen.
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