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Herr Lehmann

Ein Buch, das sich von selber liest/Ein Vogel, der ein Schlaflied singt/Ein Freund, der dich gewinnen lässt/Und ein Fest, auf dem dich jeder/Freundlich grüßt" Ein Buch, das sich von selber liest - das war die erste Zeile des Songs "Verraten" von der deutschen Band Element of Crime. Sven Regener, ihr vierzigjähriger Sänger, Texter und Trompeter, hat jetzt einen Roman geschrieben, der sich fast von selber liest, und so stellt sich auch die begeisterte deutsche Literaturkritik für Regener derzeit als Fest dar, wo ihn jeder freundlich grüßt - um noch einmal das Lied zu zitieren.

Wolfgang Schneider | 21.09.2001
    Herr Lehmann heißt der Roman. Er schildert die Erlebnisse eines gerade noch jungen Mannes aus Berlin-Kreuzberg. Er jobbt hinterm Tresen einer Szene-Kneipe und wird von seinen Freunden dort scherzhaft "Herr Lehmann" genannt, seit der dreißigste Geburtstag bedrohlich nahe rückt. Eigentlich ist es, bei aller Komik, eine traurige Geschichte: denn am Ende verliert Herr Lehmann seine neue Liebe und muss seinen besten Freund Karl, einen gescheiterten Künstler, in die Psychiatrie bringen.

    Element of Crime:
    Ein Freund, der nicht zu sprechen ist/Ein fremder Blick, der etwas weiß/Ein kalter Finger im Genick/Und ein Kind, das aus deiner Hand/Nichts mehr frisst

    Der "definitive Kreuzberg-Roman" wurde das Buch schon genannt. Es entwirft ein ungewohntes Bild des Stadtteils SO 36. Wer, wie Herr Lehmann, in den achtziger Jahren aus der westdeutschen Provinz dorthin kam, für den war Kreuzberg die Gegenwelt, ein utopischer Ort geradezu, in dem es sich scheinbar ganz anders leben ließ als in der Enge der Kleinstädte. Im Rückblick dieses Romans erscheint Kreuzberg dagegen als merkwürdig geschlossenes Biotop. Man hat sich im eingemauerten Winkel eingerichtet, hält die Lebensverhältnisse so überschaubar wie möglich, vermeidet es tunlichst, nach Neukölln, Charlottenburg oder auch nur Kreuzberg 61 zu fahren, definiert sich durch die Ablehnung von Schultheiss und Kristallweizen und trinkt stattdessen das Becks aus der Flasche. Fast scheint es, als wäre das rebellische Kreuzberg eine Lebensform des alternativen Biedermeier gewesen. Sven Regener verwahrt sich allerdings dagegen, ein gültiges Kreuzberg-Bild gegeben zu haben. Er kann sich über die Bezeichnung Kreuzberg-Roman regelrecht aufregen. Regener:

    Es gibt viele Bilder über Kreuzberg, und die sind alle falsch. Alle, grundsätzlich. Und ich habe diesen Bildern eigentlich auch keins hinzufügen wollen. Ich wollte auch keinen Roman über Kreuzberg schreiben, und ich glaube auch nach wie vor, daß ich eigentlich keinen Roman über Kreuzberg geschrieben habe. Ich bin eh der Meinung, man kann keinen Roman über Städte schreiben, auch nicht über Berlin. Man kann nur Romane schreiben, die von Menschen handeln, und natürlich werden sie dann auch irgendwo handeln müssen, denn irgendwo muß der Mensch sich ja aufhalten.

    Ich kann mit kollektiven Identitäten nichts anfangen. Buchstäblich nichts. Absolut null. Mir sagt der Begriff "die Kreuzberger" oder "die Leute in Kreuzberg" oder "das Leben in Kreuzberg", was ja kollektive Identitäten heraufbeschwört, nichts. Ich kann nur versuchen, diesen einen Mann und seine Freunde, seine Umgebung, diesen Ausschnitt aus seinem Leben zu beschreiben, und da haben für ihn bestimmte Sachen bestimmte Bedeutungen. Das hat aber nichts Gültiges, nichts Allgemeingültiges oder Endgültiges.

    Also ist Herr Lehmann kein Repräsentant eines bestimmten Lebensstils?

    Herr Lehmann ist kein Repräsentant eines bestimmten Lebensstils, denn Herr Lehmann ist kein Pappkamerad. Ich hab ihn nicht hingeschoben als Symbol für etwas. Er steht nicht für eine Generation oder so einen Kram, was ich eben als kollektive Identitäten zusammengefasst habe. Herr Lehmanns Geschichte ist die Geschichte von Herrn Lehmann, und das ist mir wichtig. Dass die natürlich in diesen spezifischen Ausprägungen so vielleicht nur in Kreuzberg hätte stattfinden können - vielleicht aber auch woanders, wer weiß, das mag ich gar nicht beurteilen... Aber das ist sicher geprägt von der Umgebung, in der er lebt. Wer ist das nicht? Aber sagen wir mal so: wenn diese Leute das jetzt so in Bielefeld gelebt hätten und man würde das beschreiben, würde auch niemand sagen: das ist ein Bielefeld-Roman und eine schlüssige Aussage über Bielefeld. Bei Kreuzberg denkt man das. Weil man denkt, Kreuzberg hätte irgend etwas Homogenes. Dabei ist natürlich genau das Gegenteil der Fall. Kreuzberg ist genauso unhomogen wie jeder andere Ort mit 150.000 Einwohnern unhomogen sein muss.

    Hier wird deutlich, dass Sven Regener zumindest eines mit Herrn Lehmann gemeinsam hat: die entschiedene Lust am Streit über Begriffe. Denn wenn Herr Lehmann nicht gerade in tätliche Auseinandersetzungen oder schleppende Liebeshändel verstrickt ist, dann in verbale Gefechte. Mit der neuen Freundin streitet er sich - zum Vergnügen des Lesers - ein ganzes Kapitel lang über Sinn oder Unsinn des Wortes "Lebensinhalt"; auch sonst werden an Herrn Lehmanns Tresen Worte ausgiebig hin und her gewendet.

    Ein Begriff, den Sven Regener für Unsinn hält, ist "Popliteratur", ein Etikett, das in den letzten Jahren groß in Mode war. Über einen Autor wie Benjamin von Stuckradt-Barre möchte er nichts Schlechtes sagen - schließlich hat der früher mal für "Element of crime" gearbeitet. Aber ein bißchen merkwürdig findet er es schon, daß junge Schriftsteller sich ihrer Buchstabenexistenz zu schämen scheinen und mit Titeln wie "Livealbum" demonstrieren, daß sie viel lieber Popstars wären. Regener ist einer, und vielleicht gerade deshalb hat sein Roman keinerlei popliterarische Ambitionen. Er hastet keinen Trends hinterher, nervt nicht mit Aufzählungen von Markennamen, sondern erzählt in aller Ruhe seine eigenwillige Geschichte. Der eher unmusikalische Herr Lehmann ist das Gegenteil von einem Popstar - ein unauffälliger, beinahe schüchterner junger Mann, der seine Grenzen akzeptiert, mit dem bescheidenen Kneipenjob eigentlich zufrieden ist und sich gerne zwischendurch mal ein bißchen "hinlegt". Ein "ganz unglamouröser Mensch", sagt Regener. Mit autobiografischen Bekenntnissen hat dieser Autor nichts im Sinn; im Schreiben probiert er fremde Rollen aus:

    Ich bin nicht derjenige, der das alles macht, um von sich selbst zu erzählen. Das ist nicht mein Ansatz. Ich hab nie das Bedürfnis gehabt, von mir selbst zu erzählen und mich selbst irgendwo auszudrücken. Dieser Begriff des Sichausdrückens in der Kunst...das hat mich persönlich...dagegen ist nichts zu sagen, das ist auch ohne Wertung, was ich sage...aber mich persönlich hat das nicht interessiert... Ich bin dafür nicht der Typ. Ich halte mich selber eigentlich eher ganz gern zurück. Ich stelle auch fest, daß man in den Songtexten, wenn man Songs singt, in eine Rolle schlüpft. Sonst könnte man ja auch nicht Songtexte singen, die ganz andere geschrieben haben. Das darf man ja nicht vergessen.

    In einigen Rezensionen ist schon vom ehemaligen Popmusiker die Rede gewesen. Darüber kann Regener nur lachen: die neue CD von "Element of crime" erscheint in Kürze, und er denkt noch lange nicht daran, die Trompete an die Wand zu hängen. Aber auch ein weiteres Werk über die jungen Jahre des Herrn Lehmann hat Sven Regener schon in Aussicht gestellt. Worin unterscheidet sich die Textarbeit des Songschreibers von der des Romanautors?

    Songtexte mach ich immer zur Musik. Wir haben immer erst die Musik, die Melodie auch schon, alles da, und dann mach ich dazu einen Text. Das sind natürlich ganz andere Voraussetzungen. Und natürlich sind Songtexte sehr viel konzentrierter. Es sind meist doch nur relativ kurze Bilder, kleine Bilder, ganz kleine Ausschnitte aus Geschichten oft nur - sonst wären sie ja auch viel zu lang. Das sind schon eher ganz normale Popsongs, die wir machen, das heißt, die sind recht kurz, sehr viel Text ist da nicht drin, und es sind eher Stimmungsbilder oder auch Monologe und solche Geschichten. Aber das ist natürlich etwas ganz anderes als ein Buch, in dem man in aller Breite und Ausführlichkeit erzählen kann und wo man auch in den Perspektiven springen kann. Das macht man bei Songs eigentlich sehr wenig.

    Element of Crime:

    heute nacht wird dir klar dass der liebe gott dich nicht liebt daß sich der tag der erlösung noch etwas verschiebt zehn biere im sturzflug und die eingangstür fest im visier die rettende kavallerie die kommt heut nicht mehr