Zunächst ist Puntila in Sebastian Baumgartens commedia dell’ arte-haft bewegter Inszenierung ein monströser Fleischklotz, ausgestopft und wuchtig, der ruhelos über die Bühne wippt und tänzelt, sich an seine "Opfer" anschleicht und wieder davonprescht. Kein Moment der Ruhe. Auch nicht für all die wechselweise herbeizitierten und wieder zurückgestoßenen Trabanten und Diener, Subjekte und Freunde, Domestiken, Umworbenen und Verachteten. Die sind ihrerseits nicht nur als eigenständige, sondern auch als durchaus widerständige Wesen erkennbar: Sie werden nicht nur zurückgestoßen, sie stoßen sich selbst mit mindesten so großer Energie ab. Keineswegs nur Geschlagene, sondern höchst agil und mit Witz Zurückschlagende, eher gleichwertige Gegenspieler Puntilas. Mehr einsichtige Kumpane als Malträtierte.
"Fräulein Eva, Ihr Vater hat Ihr Bestes im Auge. Er hat’s mir selber angedeutet. Wenn er, sagen wir mal, ein Glas zuviel getrunken hat, dann kann er nicht wissen, was das Beste für Sie ist, sondern geht nach dem Gefühl. Aber wenn er nüchtern ist, dann kauft er Ihnen einen Attaché, der sein Geld wert ist, und dann werden Sie Ministerin in Paris oder in Estland und können tun und lassen, was Sie wollen, das ist doch schlau von dem... und Sie haben nicht die finanzielle Grundlage Ihrem Vater Schmerzen zu bereiten."
Ein Stück zwischen Suff und Sause
Der Preis - und Lohn - für diese tänzerisch-geschmeidige Choreographie um den speckprallen Kraftbolzen Puntila: alle klassenkämpferischen Momente, die in diesem Stück entlang der üblichen Kampflinie von Herr und Knecht, Ausbeutern und Ausgebeuteten üblicherweise zu erwarten sind, erscheinen in neuem Licht: Im Gestöber komödiantischer Spiellaune und im Sturmlauf der Einfälle zwischen Suff und Sause, anbiedernder Menschlichkeit und in Maßen ausgenüchterter Strenge. Robert Hunger-Bühler balanciert als Puntila auf dem schmalen Grat zwischen Popanz, Monstrum und neugierigem Clown. Wenn er volltrunken bei halsbrecherischen Autofahrten durch die finnischen Wälder einen Unfall baut, sind – natürlich - die Bäume schuld, die ihm im Wege stehen. Also beschimpft er sie unflätig. Und wenn ihm danach ist, "verlobt" er sich innerhalb weniger Minuten gleich dreimal mit Zufallsbegegnungen.
Sebastian Baumgarten ist mit dieser Entdämonisierung, ja Vermenschlichung des "Ausbeuters" ein großes Risiko eingegangen. Doch die Vorteile überwiegen: Lachen statt Belehrung. In diesem rasanten Ballett der Emotionen gehen bei Puntila Momente trunkener aber leiser Überflutung seiner Umwelt mit Gesten der Verbrüderung rapide und bruchlos in dominante Herrschaftsbekundungen über. Dabei stellt sich letztlich ein - ja: fast anrührendes Gefühl der Hilflosigkeit ein. Und es entsteht so etwas wie ein durchdringendes Mit-Leiden (so unbrechtianisch und deplatziert der Begriff hier anmuten mag) – ein Mit-erleiden von Labilität und Ohnmacht, wie wir es nur allzu gut kennen.
Ein Brecht-Abend ohne Belehrungsgestus
Da ist Puntilas Tochter Eva, die aus einer Art Liebe zum Arbeiterkind Matti sogar ein mögliches Leben im proletarischen Plattenbau probt. Oder der Marxist, der mit drei zusätzlichen Monatsgehältern in der Tasche nur mehr eine matte Klassenkampfparole herauswürgt. Alle geben zu erkennen, dass sie mehr oder weniger verstanden haben, dass das Dilemma Herr - Knecht sich nicht durch schlichte Kritik an einzelnen Individuen auflösen lässt. So wenig es Puntila gelingen kann, seiner Rolle zu entkommen, auch wenn er noch so viel trinkt; so wenig wird es seiner renitenten Entourage gelingen, sich aus dem Bannkreis seiner halb-verächtlichen Zuwendung zu befreien. Allenfalls kann man den Padrone im Zustand sozialverträglicher Halbtrunkenheit dezent beiseite führen.
Schnell ist ein Hausberg aus ein paar übereinander gestellten Bänken und Stühlen errichtet. Und unter nicht völlig liebloser Assistenz seines Umfeldes wird ihn ein alt, schwach und ein wenig wacklig gewordener Puntila ein letztes Mal erklimmen, bevor er auf dem Gipfel dieses finnischen Chimborazzo mit einem Kissen unter dem Kopf zur Ruhe gebettet wird. Endlich ein Brecht-Abend ohne bilderstürmerisches Gehabe, ohne Belehrungsgestus. Immer deutlicher wird sinnenfällig, dass es kein richtiges Leben im falschen System geben kann. Noch deutlicher ist zu spüren, dass es nicht ganz leicht sein wird, ein solch "richtiges System" zu finden. Dass man sich mit Kompromissen begnügen und auf Halbherzigkeit einrichten muss. Auch eine Art von Botschaft.