Während draußen Inflation und Rekordarbeitslosigkeit tobten, schildert Kessel den zivilisatorisch verschleierten Kampf um die nackte Existenz innerhalb eines Berliner Großunternehmens namens UVAG, Universale Vermittlungs-Aktien-Gesellschaft. Der Romantitel "Herrn Brechers Fiasko" bezieht sich zwar auf die Entlassung des Helden Max Brecher in die Arbeitslosigkeit, in Wahrheit handelt es sich aber um einen Kollektivroman, den ersten und umfangreichsten Büroroman der deutschen Literatur. Ihm folgten als späte Nachfahren in den siebziger Jahren Walter E. Richartz' "Büroroman" sowie die "Abschaffel"-Trilogie von Wilhelm Genazino. Die vorherrschende sozialkritische Strömung nach '68 hatte zwar den Arbeiter als Protagonisten und Rezipienten für sich wiederentdeckt - Stichwort "Literatur der Arbeitswelt" -, der Typus des Angestellten und seiner Kultur harrte jedoch seit Siegfried Kracauers Studie von 1929 einer aktuellen Überprüfung. Viele Thesen aus "Die Angestellten" haben ihre Gültigkeit bewahrt:
"Die im bürgerlichen Deutschland ausgeprägte Sucht, sich durch irgendeinen Rang von der Menge abzuheben, auch wenn er nur eingebildet ist, erschwert den Zusammenhalt unter den Angestellten selber. Sie sind aufeinander angewiesen und möchten sich voneinander sondern."
Anhand ebenso scharfsinniger wie burlesker Charaktere hatte sich Kessel das ehrgeizige Ziel gesetzt, das - Zitat - "minutiöse Nagewerk der Alltäglichkeit" darzustellen. Zwei Wochen vor Weihnachten 1932 erschien "Herrn Brechers Fiasko" bei der Deutschen Verlagsanstalt, sechs Wochen vor Hitlers Regierungsantritt. Dieser Umstand brachte das Buch auf fatale Weise um seine Wirkung. Die Neuedition bei Suhrkamp im Jahre 1956 erzielte allenfalls einen Achtungserfolg. Nicht anders erging es der Taschenbuchausgabe von 1978. Martin Kessel fühlte sich von seiner Zielgruppe der "Wohlstandsproletarier", wie er sie abschätzig nannte, nicht verstanden.
Ist jetzt, fast siebzig Jahre nach der Erstveröffentlichung, die Zeit für die Neuentdeckung von "Herrn Brechers Fiasko" gekommen? Hat man sich durch die ersten zwei Drittel des 560-Seiten-Textes gelesen, ohne sich von dessen überbordenden Hang zur wörtlichen Rede, auch zum bloßen Geschwätz, irritieren zu lassen, erkennt man durchaus eine Reihe von aktuellen Bezügen. Mit funkelndem Sarkasmus beschreibt Kessel beispielsweise das Imperium der UVAG: Unangreifbar thront der mächtige Gebäudekörper in der Berliner Friedrichstadt. Die Firma begreift sich als die "Behilflichkeit selbst". Ihr Gewerbe der Suggestion von Bedürfnissen kommt einem prophetischen Vorgriff auf die heutige Dienstleistungsgesellschaft gleich. Den Leuten werden materielle Wünsche eingeredet, die sie gar nicht haben.
Trotz allem, was vorfällt, trotz der Opfer an Nerven und Kraft, trotz Misshelligkeit und Erfolg, gewiß, auch dem Erfolg zum Trotz, da steht sie, wächst sie herauf im Kegel der Scheinwerfer, ein epochales Prinzip, eine Lebensarbeit UVAG, UVAG.
Die Universale-Vermittlungs-Aktien-Gesellschaft, wie die Firma handelsgerichtlich zeichnete, hatte ursprünglich nichts anderes zu als zu vermitteln. Wenn einer ein Haus kaufen wollte, sagte sie ihm, wo er es finden könne; wenn einer sich verheiraten wollte, schaffte sie ihm gegen Barzahlung Raum, seine Wünsche vor aller Welt auseinanderzusetzen; wenn einer nicht wußte bei einer plötzlich zugefallenen Erbschaft: wohin damit? - die UVAG begriff diese Notlage und sorgte für deren Beseitigung. Man sieht, sie war die Behilflichkeit selbst, und es ist ihr nicht zu verdenken, daß sie eines schönen Tages den Wunsch aufbrachte, noch besser helfen zu können, in einer Sekunde gleichsam, was am besten dadurch geschah, daß man alles Verlangte selber besaß.
Die weltläufige Modernität der UVAG, ihre Gewohnheit, das Mechanische mit dem Exakten gleichzusetzen und als Leitgedanken zu verkünden, verbindet sich mit Scheinwerferlicht und brausendem Verkehr zu einem geistigen wie synästhetischen Gesamteindruck von Berlin. Die sogenannte große Politik dringt nur als gedämpfter Straßenlärm zu den Protagonisten vor. Anders als in Erik Regers Wirtschaftsroman "Union der festen Hand" von 1931, der ausdrücklich Revolution und Inflation thematisiert, ist bei Kessel die Schilderung eines Streiks schon das Äußerste an Politisierung. Zwar spricht der Autor einmal von einem Abgrund, vor dem das Volk stehe, vielmehr interessiert den Rationalisten Kessel aber der Großstadtverkehr. Er verkörpert für ihn die Moderne, den transitorischen Charakter der Metropole. Martin Kessel, 1901 in Plauen geboren, macht stellvertretend für andere Beobachter aus der Provinz große Augen und Ohren, wenn es um seine Wahlheimat Berlin geht, die Hauptstadt der "Asphaltdemokratie":
Unaufhörlich rollte es unten auf den Straßen. Der Verkehr war ein Orchester, für welches die Stadt die Musik schrieb. [...] Aller Verkehr bewegte sich wieder, die Schutzleute machten ihre eingespielten Freiübungen auf den Inseln, Maschinen rotierten, und die Berufstätigen liefen aneinander vorbei, ohne Verdacht. Daß dies immer noch stand! Dass dies wieder von vorn begann!
Hier klingt eine emphatische, ja komische Begeisterung für den Straßenverkehr an, die an Ufa-Schlager jener Zeit wie "Die Polizei, die regelt den Verkehr" erinnert. Für einige der Figuren aus Kessels Ensemble sind die Verkehrslinien gleichbedeutend mit den Schicksalslinien der Hand. Ein ununterbrochenes Streitgespräch über passende oder unpassende Straßennamen mäandert neben anderen Paralleldiskursen durch das Buch. Der Verkehr ist ein Massenphänomen, und die Masse wird im Roman als Elementarereignis jener Epoche begriffen. Auf der anderen Seite schätzt auch der erklärte Individualist Max Brecher den "Fluchtcharakter" Berlins, die - Zitat - "graue Gleichgültigkeitserklärung der Straßen".
Sie müssen bedenken, ich bin allein. Inkognito bewege ich mich über die Linden, und niemand zuckt deshalb mit der Wimper. Ich fürchte, man wäre bereit oder so lässig, mir einen Groschen zu schenken, wenn ich mich hinstellte, mitsamt meiner erlauchten Gesellschaft, und bettelte. Aber Millionen sind es. Millionen sind allein. Millionen tanzen auf dem Parkett ihres Bewußtseins. In den Bahnen sieht man sie sitzen, die Zeitung als unaufhörliches Panorama vor Augen, ein Panorama, aus dem die Figuren herüberwechseln in die eigene Misere.
Es ist an der Zeit, Max Brecher vorzustellen. Mit seinem Jugendfreund Dr. Geist kam er aus einer Kleinstadt nach Berlin. Nun findet er sich eher zufällig als Angestellter der Abteilung Propaganda, also der Werbeabteilung, wieder. Scharf schält der Autor aus dem genormten "Bestiarium der Angestellten" seine Hauptpersonen heraus: die Seele der Abteilung Gudula Öften, die umschwärmte Geheimratstochter Mucki als erotische "Girl"-Phantasie der zwanziger Jahre und als Gegensatz zu ihr Lisa Frieske, Proletariertochter aus Lichtenberg. Betont witzige Nebengestalten wie der Buchhalter Tadewaldt, der sich auf die Kunst versteht, im Schlaf zu addieren, oder der parfümierte Bürokavalier Coty kommen hinzu. Im Zentrum aber steht das dissonante Freundespaar Brecher und Dr. Geist. Ihr Zerwürfnis besiegelt am Ende Brechers berufliches Schicksal. Die beiden gehören zu den wenigen Glücklichen, die es aus der Heerschar arbeitsloser Akademiker ins Berufsleben geschafft haben. Sie gerieren als "Protegé ihres Intellekts", immer im Bestreben, "sachlicher als eine Türklinke zu sein". Sie verkörpern unterschiedliche Ideenkomplexe: Während der wendige Dr. Geist die vollkommene Anpassung vollzieht und in der Hierarchie aufrückt, bleibt Max Brecher, der Mann ohne Biographie, sich treu. Ähnlich wie der Werbetexter Fabian aus Erich Kästners gleichnamiger "Geschichte eines Moralisten" von 1931 muss er an der Kompromisslosigkeit seines Charakters scheitern. Brecher entbehrt die "moralisch-rosa Hautfarbe", von der Siegfried Kracauer sprach. Auch heute noch ist sie bei den Oberen gern gesehen. Ohne Zweifel hegte der Verfasser persönliche Sympathien für die Haltung seines Helden.
Ja, es ist etwas Sinnloses aufgebrochen im Wesen Max Brechers, und es nahm sich wunderlich aus neben all seinem Scharfsinn. Bei Licht besehen, mochte es nicht ganz frei sein von Mutwillen und Herausforderung, von einem Drang, die Dinge zuzuspitzen, bis auch die Spitze abbrach. Aber es ist nicht gesagt, daß es bewußt geschah, und möglicherweise hätte Herr Brecher mit einigem Recht behaupten können, es handle sich gar nicht darum. Dasitzen nämlich, tagaus tagein, ohne zu wissen, wie lang noch; Propaganda treiben und nicht wissen, wofür; angestellt sein, aber monatlich kündbar; es ist nicht ausgeschlossen, daß Herr Brecher in dieser Zwangslage etwas zu spüren vermeint, das menschenunwürdig ist.
Brecher wird als typischer Vertreter der sitzenden Lebensweise dargestellt, zugleich ist seinem Wesen etwas Renitentes beigegeben. Das Fiasko des Helden deutet sich bereits auf den ersten Seiten in einem Streitgespräch mit Dr. Geist an. Dieser macht sich als Erfinder der "Glückspropaganda" unentbehrlich. Er identifiziert sich vollkommen mit seinem Dasein als "Arbeiter, Abteilung Sitzfleisch", während der Jugendfreund Brecher innerhalb der Abteilung Propaganda immer stärker marginalisiert wird, bis hin zu einer Gespensterexistenz. Im heutigen Sprachgebrauch würde man das Mobbing nennen.
Mit einer Pünktlichkeit daher, die der Komik nicht entbehrte, saß die ganze Abteilung Propaganda frühmorgens an den Plätzen, die Köpfe über die Arbeit gebeugt und bestrebt, mit dem Gang der Minuten Schritt zu halten. Es herrschte eine vorbildliche Eintracht und Zurückhaltung. Ein reisender Idealist, hätte er heut das Bürowesen studiert, wäre ohne Umschweife von der besten aller möglichen Welten überzeugt, wenn nicht gerührt gewesen. Er hätte ein Buch darüber geschrieben, hätte diese Form der Arbeitsbehandlung als typisch deutsch hingestellt, mit der Nebenbemerkung, alles Deutsche bestünde darin, eine Sache um ihrer selbst willen zu tun, und dann wäre er weitergereist, zutiefst befriedigt.
Die Aktivitäten der Abteilung Propaganda bestehen offenkundig aus einem einzigen großen Palaver. Es ist vom Chef über die Abteilungsleiter bis zum Lehrling hierarchisch strukturiert und erinnert an das Gebrüll auf einem Affenfelsen. "Ua Ua" wird der Direktor hinter seinem Rücken genannt, was nicht zufällig an Orang Utan erinnert. Gudula Öften, die Seele des Betriebs, gilt zugleich als Hyäne der Menschlichkeit. Kessel geht es darum, hinter dem Dienstgebaren das Zoologische des Menschen in der Gruppe aufscheinen zu lassen. Als missglückter running gag grassiert eine interne Bürosprache, die aus lauter "Üs" besteht. Mit absurder Konsequenz wird fast jeder Passus der nicht enden wollenden Dialoge mit einem "- ü" versehen.
Ja, man hatte begriffen, daß vor der Öde eines leeren Stuhles nichts angebrachter sei als eine Zäsur, ein glücklicher Hiatus, und so hatte sich diese Sprache herausgebildet. "Ü?" pflegten sie nun zu sagen. Es war ein Laut, wie ihn Hühner hervorbringen, und er wurde gut nachgeahmt.
Die Menschen leiden an ihrer Funktionalisierung, an ihrem "eingeschränkten Repertoire", wie Kessel sagt. Die Albernheit der Ü-Sprache bietet hier einen kleinen Fluchtweg. Den Sekretärinnen wird die Schreibmaschinentastatur zum Symbolfeld des Lebens. In den parallelgeschalteten privaten Tragikomödien - alles Private ist ja eigentlich tabu - wimmelt es von Scheintoten, geretteten und nicht geretteten Selbstmördern. Stilistisch an Gogols Roman "Die toten Seelen" angelehnt, wird Max Brecher nach seiner Entlassung zum personifizierten schlechten Gewissen der UVAG. Fortan geht er als Gespenst um. Wie sein stilistisches Vorbild Gogol neigt Kessel dazu, das Lebendige reduziert und verdinglicht darzustellen, um das Seelenlose, Verkümmerte der menschlichen Beziehungen satirisch zu betonen.
Der Roman erweitert sich zum Pandämonium konkurrierender Diskurse, Rankünen und Sinneseindrücke. Beinahe droht er sich in Licht- und Verkehrsmetaphern zu verlieren. Es herrscht eine untergründige Sehnsucht nach Stille. Zugleich kommt der Sonne eine besondere Rolle zu: Sie ist in diesem System der Zwänge die einzige Freigängerin, sie strahlt an, was sie will. Kessel schildert Menschen am Sonntag, Sekretärinnen auf dem Nachhauseweg. Die eine wohnt im feinen Grunewald, die andere im handfesten Arbeiterbezirk Lichtenberg. In diesen Passagen entsteht eine atmosphärisch dichte Topographie der Stadt. Außerdem ertönt eine Art symphonischer Klang:
Hinter ihr aber, jenseits ihres Privatbezirks, ragte das zerklüftete Massiv der Friedrichstadt auf, ein großer, steinerner, dunstgeschwängerter Schatten, über den hin, mit dem Äther als Reflex, ein ewiger Staub rieselte, ein millionenfältiger Widerschein jener Energie, die Licht bedeutet und die immer wieder hervorgelockt wird durch Maschinen und Menschenhand. Die Bahnen klingelten, überfüllte erleuchtete Särge; sie räumten für den Sonntag auf, sie entvölkerten die Geschäftshäuser, und von Unzähligen ein jeder, der seine Hausnummer erreicht hatte, hielt inne, ergriff die Klinke der Tür und verschwand.
Das Buch jedoch zum bedeutendsten Berlin-Roman des 20. Jahrhunderts neben Döblins "Berlin Alexanderplatz" auszurufen, wie es der Klappentext tut, ist nicht zu rechtfertigen. Eher erinnert "Herrn Brechers Fiasko" in seiner Aufgeregtheit an Döblins frühen Roman "Wadzeks Kampf mit der Dampfturbine", in dem eine überdrehte, ja lebensbedrohliche Konkurrenz zwischen zwei Fabrikantenfamilien ausgetragen wird. Auch Kessel verleiht der Hysterie vielfach Stimme: Es entsteht ein über weite Strecken strapaziöses Konglomerat der wörtlichen Rede, wenn nicht des Geschwätzes.
"Ein Gespenst geht um" ist der dritte Teil von "Herrn Brechers Fiasko" überschrieben, im Anklang an das "Kommunistische Manifest". Was sich ursprünglich auf das Schicksal des Titelhelden bezog, hat sich fast siebzig Jahre nach Erscheinen des Buches als prophetisch erwiesen: Der Roman selbst geht als Gespenst um, er geistert als Gerücht durch die Literaturgeschichte. Jahrelang war Martin Kessel als "der Mann mit dem Roman" durch Berlin gelaufen. Nach seiner Promotion über die Novellentechnik Alfred Döblins hatte er sich mit 22 Jahren zum freien Schriftsteller erklärt. Es erschienen je zwei Bände mit Gedichten und mit Berliner Novellen, darunter "Betriebsamkeit", ein charakteristischer Titel für die Roaring Twenties. Fortan trug der junge Mann zwar kaum Geld, dafür aber eine große Idee mit sich herum. Der Geist des Pflasters, wie er es nannte, hatte ihn angezogen, die Berliner Geistesfauna. Von nun an stellte er den Beruf des Schriftstellers über alles.
Es mag dieser gehörige Vorschuss an Eigensinn gewesen sein, der Martin Kessel auch nach dem Zweiten Weltkrieg in der Isolation verharren ließ. Daran änderte selbst der Büchner-Preis, den er 1954 erhielt, wenig. Vom "Elan eines Dichters auf verlorenem Posten" sprach der Literaturkritiker Wilfried F. Schoeller in einer Lobrede, die er auf den 86-jährigen Autor hielt. Distanz, so Schoeller, sei das konstitutive Moment von Kessels Vergessenheit und zugleich das seiner Bücher. Der befreundete Hans Erich Nossack prägte die Formulierung von der "Lichtenbergschen Existenz" Kessels. 1965 erschien mit dem Roman "Lydia Faude" das weibliche Gegenstück zum traumwandlerischen Individualisten Max Brecher, außerdem Essay- und Aphorismensammlungen.
Am 14. April 1990, seinem 89. Geburtstag, starb Martin Kessel in Berlin. Der große Hauptstadtroman, falls ihn jemand in absehbarer Zeit noch lesen will, bleibt weiterhin eine Herausforderung.