Mit kurzen blonden Haaren, in beiger Jacke und weißer Jeans steigt Kerstin Kluth im Dörfchen Belitz, knapp 40 Kilometer südöstlich von Rostock, aus ihrem Auto. Über die Schultern hat sie locker einen rosa Seidenschal geschwungen, in der Hand hält sie ein Klemmbrett mit Notizen. "Schlossverführung", so wirbt sie auf ihrer Internetseite für unterschiedlichste Touren in die feudalistische Vergangenheit Mecklenburg-Vorpommerns. Denn dort hat der Landadel in den vergangenen zwölf Jahrhunderten mehr als 2200 Guts- und Herrenhäuser mit prachtvollen Parkanlagen hinterlassen. Heute hat sie eine Gruppe von neun Gästen vor sich, Besucher aus Thüringen, Sachsen-Anhalt und Nordfriesland, die zum Teil schon mehrfach mit ihr auf Achse waren.
"Ja, dann begrüß ich Euch ganz herzlich. Wir stehen hier in Belitz auf dem Gutsgelände, das Gutshaus ist 1906 erbaut, es ist von einem kleinen offenen Landschaftsgarten umgeben..."
...und es ist vielen bekannt aus dem Fernsehen. Vor zehn Jahren drehten die ARD in dem leuchtend gelben Jugendstilbau ihre Doku-Serie "Abenteuer 1900", in der Menschen monatelang versuchten, absolut detailgetreu wie anno dazumal zu leben.
"Wer möchte klopfen? Poch, Poch Poch, Gelächter. Halloho, guten Taag!"
Gutsherrin Barber Bongardt hat Erdbeertorte gebacken. In der Empfangshalle leuchten die Kerzen. Hinten im Wintergarten ist die Kaffeetafel gedeckt.
"Also nicht, dass Sie denken, dass es immer so ausgesehen hat. Wie wir '92 kamen, war's doch sehr runtergekommen, aber es war noch alles da. Und das war ein Wunder."
Für's Fernsehen aufgemöbelt
Kommunisten hatten die Bongardts nach dem Zweiten Weltkrieg enteignet und vertrieben - das klassische Schicksal fast aller Gutsbesitzer jener Zeit. Nach der Wende zogen sie aus ihrem Zufluchtsort in Ostfriesland schnell wieder in Deutschlands Osten, um den angestammten Grund und Boden zurückzukaufen. Die Hausherrin lächelt verschmitzt unter ihrem schneeweißen Kurzhaarputz hervor.
"Wir haben sechs Kinder, da kann man ja nicht einfach rumdrömeln, wenn so eine außergewöhnlich politische Geschichte passiert."
Der alte Familienbesitz hatte allerdings in der DDR-Zeit arg gelitten. Die obere Etage war zu fünf Wohnungen umgebaut worden, das Erdgeschoss hatte bis zur Wende als Dorftreff und Diskothek herhalten müssen. Weil kein Geld für Reparaturen da war, durfte der Zahn der Zeit in aller Ruhe an dem Bau nagen. Die Filmproduktion war da ein Glücksfall für die Bongardts.
"Das erste Mal wurde das Haus hier sehr verschönert mit Hausanstrich, mit neuer Treppe und für die zweite Staffel wurde die ganze Nebenzeile äußerlich wieder hergerichtet."
Strom, Licht, fließendes Wasser - all das ließ Regisseur Volker Heise für seine Doku entfernen. Er besorgte detailverliebt Möbel, Meißner Porzellan, Leinenwäsche... drehte in dem Gutshaus alle Uhren zurück aufs Jahr 1900. Barber Bongardt kaufte ihm nach den Dreharbeiten einen Großteil der Requisiten ab, ließ alles wie es war und vermietet nun einzelne Räume oder auch das ganze Haus an Urlauber und Festgesellschaften. Der Gast kann wählen, ob er im Gesindekeller auf Strohsäcken, im Art-Déco-Schlafzimmer der gnädigen Frau oder in der Kammer des Hufschmieds schlafen möchte. Gekocht wird auf einer historischen mit Holz befeuerten Kochmaschine. Und die Hausherrin führt immer wieder gerne vor, wie Speis' und Trank mit uralter Technik zu den Herrschaften nach oben befördert werden.
"Ich hol mal kurz den Essensaufzug runter. Da ist er."
Originalgetreu residieren
Ob man etwas weiter oben oder unten in der Hierarchie seinen Platz hatte, das sei damals noch deutlich wichtiger gewesen als heutzutage. Und für alles gab es klare Regeln.
"Ja. Der Diener hatte sehr auf diese Glocke zu achten. (klingelt) Das war die gnädige Frau, für das Hausmädchen (klingelt), das war Besuch (klingelt) und das waren die jungen Herren. (klingelt)."
Die Vorlieben der Gäste dafür, wie originalgetreu sie in Belitz residieren möchten, ob sie zum Beispiel die alten Pinkelpötte benutzen oder doch lieber die nachgerüstete Toilette aufsuchen möchten, sind sehr verschieden. Demnächst zum Beispiel haben sich zwei Damen angekündigt -
"- die komplett in Kostümen des 19. Jahrhunderts hier leben wollen und flanieren und mit dem Auto nach Teterow fahren und dort wieder über den Markt flanieren. Mit dem Auto? Ja klar. Die fahren mit dem Auto, aber nähen das ganze Jahr sich wieder neue Kostüme für Belitz."
Kerstin Kluth drängt ihre Gruppe zum Aufbruch. Während der Tagestour durch das Mecklenburger Parkland im Südosten Rostocks will sie ihnen noch viel zeigen. Die nächste Station: Schwiessel.
"Ich würde gerne nach Schwiessel reinfahren, da gibt’s wie in vielen Orten ein ganz altes Gutshaus und man hat dann ja immer noch mal ne Generation oder zwei Generationen später sich ein neueres Haus gebaut. Irgendwann gab's dann die Zeit, da war das nicht nur funktional, da musste das auch repräsentativ sein. Und so gibt’s in einigen Dörfern zwei Gutshäuser, ein altes und n neues."
In ein Gutshaus verliebt
Wenn die Schlossverführerin in Mecklenburg-Vorpommern mit dem Auto unterwegs ist, dann findet sie fast immer einen Anlass, noch mal schnell rechts und links des Weges abzubiegen - überall dort, wo eine alte Allee oder der Rest eines Tores vielleicht auf ein ehemaliges Gutshaus verweisen. Geweckt wurde ihre Leidenschaft durch ein schmuddeliges, fast schon verrottetes Schloss. Als sie vor Jahren mit ihrem Mann ins Peenetal bei Usedom zog, verliebte sie sich in den nahegelegenen Bau, gründete einen Verein, um ihn zu retten und nutzte von da an jede Gelegenheit, um auch Gutshäuser in anderen Dörfern anzusteuern, mit den Besitzern zu reden, Erfahrungen auszutauschen.
"Es war einfach spannend, in der Zeit der 90er Jahre zu gucken, wie weit sind andere, die Herrenhäuser übernehmen. Was haben die für Konzepte, wo kriegen die Fördergelder her - einfach mit Gleichgesinnten ins Gespräch zu kommen."
Einmal im Jahr organisierte sie für den Verein gemeinsame Ausflüge dieser Art - und als die Nachfrage immer größer wurde, wagte sie schließlich den Versuch, sich mit Rundtouren von Herrensitz zu Herrensitz selbstständig zu machen. Ein Nebenerwerb, für den sie seitdem so manches Wochenende, so manchen Feiertag opfert. "Schlossverführerin", so hat ein Teilnehmer sie einmal genannt. Ihr gefiel das gut, wobei sie betont:
"In die Häuser, wo wir reinkommen, da möchte ich nicht selbst führen. Da finde ich es immer wunderschön, wenn ich jemanden finde, der eine Beziehung zu dem Haus hat, ob's jetzt der Eigentümer ist oder jemand, der sich engagiert."
Barocke Möbel, üppige Kronleuchter, Geweihe und ausgestopfte Greifvögel
Von ihren unzähligen Streifzügen durchs Land kennt sie viele solche Leute. Den Kaufmann Knut Splett-Henning beispielsweise, der mit seiner Frau, der dänischen Gräfin Christina von Ahlefeld-Laurvig im 75-Einwohner-Nest Rensow lebt. In Gummistiefeln und Schlabber-Hosen empfangen die beiden ihre Gäste, erzählen von dem Gut, das sie in den vergangenen zehn Jahren liebevoll in eine Pension verwandelt haben.
"Also unser Haus - wie man sehen kann - ist eigentlich eine alte wendische Anlage aus dem frühen neunten Jahrhundert. Und das Haus ist auf mittelalterlichen Gewölbekellern errichtet, also quasi frühes 16. Jahrhundert. Und das Haus, wie es jetzt halt steht, ist 1690 und von seinem äußeren Erscheinungsbild wenig verändert, man hat die Fassade mal ein wenig verändert - das war ursprünglich mal ein Fachwerkbau rundherum, aber der ist dann halt mal so 1860 umgebaut worden und dann hat man halt hier mal neu hochgemauert. Können ja mal reingehen."
Barocke Möbel, üppige Kronleuchter, Geweihe und ausgestopfte Greifvögel prägen das Innere des betagten Gemäuers. Herz des Hauses ist eine riesige Wohnküche mit einem Kamin und einem vier Meter langen Tisch, den der Hausherr persönlich aus einem alten Schrank gezimmert hat. Welche Art von Gästen sich hierher verirrt? Knut Splett-Henning spricht von internationaler Kundschaft, von Menschen aus Berlin und Hamburg, aber auch aus Frankreich, China, Japan oder Afrika.
"Christina und meine Wenigkeit, wir haben ein paar Jahre in London verbracht, in Paris und Strasbourg, ein paar Jahre im Mittleren Osten und in Kopenhagen. Und da ist es dann schon so'n bisschen anders, wenn man dann hier in Rensow ist und da ist es sehr nett, wenn man eine bunte und teilweise internationale Klientel hat."
Deplatziert wie eine venezianische Gondel
Mecklenburg-Vorpommern ist das am dünnsten besiedelte deutsche Bundesland. Die Gemeinde Prebberede, zu der Rensow gehört, zählt noch dazu zu den einsamsten Gegenden Mecklenburgs. Gerade das macht für viele Urlauber ihren Reiz aus. Durch leicht hügelige Landschaft, vorbei an weiten Feldern und ein paar Seen fährt die Reisegruppe auf immer schmaleren, kaum mehr befahrenen Wegen schließlich nach Rossewitz, einem Ort irgendwo im Nirgendwo. Siegrid Freiheit, eine kleine, grauhaarige Frau, steht dort an den Treppenstufen zu einem mächtigen Bauwerk, das deplatziert wie eine venezianische Gondel in der menschenleeren Landschaft steht. Sie kennt die verwunderten Gesichter derer, die zufällig oder nach langer Suche hier eintreffen.
"Es ist ein bisschen verwunschen, schlecht zu finden, aber es lohnt sich doch herzukommen. Das ist hier Mecklenburgs erstes Barockschloss, der erste Bau nach dem 30-jährigen Krieg. Und es ist eigentlich gar kein Schloss, es ist ein Palast. Und zwar ein italienischer Stadtpalast und das ist für Mecklenburg oder ganz Norddeutschland etwas ganz Besonderes."
Der mecklenburgische Generalmajor Joachim Heinrich von Vieregge, nach dem Militärdienst südlich der Alpen ein Liebhaber der italienischen Architektur, hatte sich das Traumschloss nach seinem Geschmack erbauen lassen - war aber längst tot, als dieses nach 23 Jahren endlich fertig wurde. Großherzog Friedrich Franz der Erste, der Gründer des ersten deutschen Seebads in Heiligendamm, wählte Rossewitz später als Jagdsitz. Rundherum entwickelte sich ein kleines Dorf. Als er jedoch starb, geriet der Palast mit all seinen Nebengebäuden in Vergessenheit und wurde schließlich zu DDR-Zeiten bewusst zerstört. Hintergrund: Ein Militärflughafen, der in der Nähe gebaut wurde, wäre vom oberen Stockwerk aus gut einsehbar gewesen.
"Die Bürgermeisterin von Liessow, das ist der Ort hinterm Wald, die war sehr rot die Frau, die hat richtig gesagt: Fenster, Türen, Parkett, Panele, alles was ihr braucht, Holz, Baumaterial, alles raus holen! Man kann sich wundern, dass überhaupt noch so was stehen geblieben ist."
Kerzen sind einzige Beleuchtungsmöglichkeit
Ursprünglich war es eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, um derentwillen Siegrid Freiheit nach Rossewitz kam. Denn nach der Wende versuchte der Denkmalschutz zu retten, was noch zu retten war. Doch dann fanden immer mehr Menschen den Weg zur Baustelle, wollten wissen, was dort geschieht. Und die Frau bot sich an, unentgeltlich an jedem Wochenende für ein, zwei Stunden Neugierige durch die Räume zu führen.
"Das Schild ist meine Rückversicherung hier: (lacht) Betreten auf eigene Gefahr! Ja, das ist gut so."
Eine gute halbe Stunde braucht die Dame jedes Mal, um im ganzen Haus die Kerzen anzuzünden - die einzige Beleuchtungsmöglichkeit, die ihr zur Verfügung steht. Sie erzählt von Geheimgängen im dicken Mauerwerk, führt in den Festsaal mit seinen illusionistischen Malereien und auf engen Gängen hinab in den Keller.
"Wir stehen praktisch hier im Feuer, äh, im Mittelalter. Hier unten war die Feuerstelle und denn der Ochs am Stier drüber oder der Dreifuß mit einem Kessel. Und darüber die sogenannte schwarze Küche, diese Riesen-Esse, wo dann sicher auch Schinken und Würste gleichzeitig geräuchert wurden."
Seit neun Jahren ist das Schloss wieder in Privatbesitz. Ein klares Konzept für die Zukunft des alten Adelssitzes gibt es allerdings nicht, weshalb die Sanierung nur in sehr kleinen Schritten vorankommt. Siegrid Freiheit sitzt weiter an jedem Wochenende vor dem Eingang und wartet auf Gäste - in der Hoffnung, dass eines Tages vielleicht doch noch ein zahlungskräftiger Investor mit einer guten Geschäftsidee vorbei kommt.
"Alle müssen jetzt mitklatschen. Also das ist einfach großartig, dass sie soviel Jahre, die wir uns schon kennen, immer durchhalten und immer das erzählen mit so viel Herzblut.“
Kerstin Kluth kann bei den vier verschiedenen Touren, die sie anbietet, immer nur Ausschnitte zeigen, kurze Einblicke in die Vergangenheit geben. Ihr Traum ist es, die Teilnehmer mit ihrer Begeisterung anzustecken, sie zu eigenen Erkundungen zu verführen. Zu entdecken gibt es genug: In Mecklenburg und Vorpommern steht auf jedem zehnten Quadratkilometer ein anderes Herrenhaus.