Stephanie Rohde: "Es ist nicht deine Schuld, dass die Welt ist wie sie ist, es wäre nur deine Schuld, wenn sie so bleibt", so singen ja Die Ärzte. Genau diese Zeilen stehen über dem Aufruf einer neuen Bewegung, die unter anderem von SPD-Mitgliedern in dieser Woche ins Leben gerufen wurde: Progressive Soziale Plattform nennen sie sich, und dieses Ärzte-Zitat, das kann man auch als Aufruf an die SPD-Spitze verstehen, die Dinge anders zu sehen in einer erneuten Großen Koalition. Damit heizen die Gründungsmitglieder dieser Bewegung die Debatte um die zukünftige Ausrichtung der Sozialdemokraten an. Die haben ja gestern ihre sechs Minister für die Große Koalition vorgestellt. Am Telefon ist jetzt eine der Gründerinnen der Progressiven Sozialen Plattform, Herta Däubler-Gmelin, sie ist SPD-Mitglied, war von 1998 bis 2002 Justizministerin und bis 2009 für die SPD im Bundestag. Guten Morgen!
Herta Däubler-Gmelin: Guten Morgen, Frau Rohde!
Rohde: Mit Franziska Giffey und Svenja Schulze schickt die SPD zwei neue Gesichter ins Kabinett, ansonsten gibt es alte Bekannte. Ist die SPD fit für die Zukunft damit?
Däubler-Gmelin: Also Sie haben jetzt noch einen Namen vergessen, der mit besonders gut gefällt, es ist Katarina Barley, die das Justizministerium übernimmt.
"Die Erneuerung der SPD, die muss aus der Partei kommen"
Rohde: Die allerdings vorher auch schon dabei war.
Däubler-Gmelin: Ja, das macht ja nichts. Sie ist eine richtig sehr gute Juristin, sie ist engagiert in rechtsstaatlichen Fragen und wird, glaube ich, das, was ja ein Justizminister oder eine Justizministerin machen muss, sehr gut tun, nämlich den Innenminister ausbalancieren, damit wir Freiheit und Sicherheit endlich mal wieder ins Lot bekommen. Also die hätte ich schon ganz gerne erwähnt. Insgesamt ist es eine Mannschaft, die ich gut finde, aber die hat die Aufgabe, die Regierungsarbeit zu machen, das heißt, den Koalitionsvertrag umzuwandeln im Sinne auch jetzt der Sozialdemokraten und der Bürger, jetzt nicht wieder nach rechts oder konservativ oder Weiter-so verschieben zu lassen. Die Erneuerung der SPD, die muss aus der Partei kommen.
Rohde: Von Ihnen zum Beispiel mit Ihrer Plattform.
Däubler-Gmelin: Ja, da gibt es ganz viele. Ja, wir sind ja nun eine Gruppierung, die sagt, ihr müsst euch öffnen, ihr müsst gucken, was gibt es denn eigentlich für die dramatischen Themen unserer Zeit, was gibt es da in der Zivilgesellschaft für Konzepte, und das ist eine ähnliche Situation, wie wir sie zum Beispiel mit Arbeit und Umwelt Anfang der 80er-Jahre hatten, oder mit der Frage, dass man die Verheißungen der Rechte und der Chancen für Frauen endlich mal umsetzen. Das haben wir ja dann später auch erreicht, nur die Konzepte mussten in der SPD entwickelt werden, mithilfe der Zivilgesellschaft und mussten dann mehrheitsfähig gemacht werden, und in der Öffentlichkeit vertreten, das wollen wir. Die drei Punkte, um die es heute eigentlich geht, ist ja, erstens, eine sozialdemokratische Partei ist nötiger denn je, aber sie muss die Bedingungen Klimawandel, Kreislaufwirtschaft, Digitalisierung, die wir ja alle spüren, jetzt in praktische Politik zum Zusammenhalt der Gesellschaft Deutschlands in Europa tatsächlich umsetzen können.
"Es geht um die Frage, wofür sind Sozialdemokraten gebraucht"
Rohde: Das, was Sie machen, könnte man jetzt sagen, hat auch schon Oskar Lafontaine gemacht, woraufhin er dann später Die Linke gegründet wurde. Machen Sie das alles jetzt nur ein Jahrzehnt zu spät?
Däubler-Gmelin: Warum fangen Sie bei Oskar Lafontaine an, das hat schon Willy Brandt gemacht. Das hat er schon früh gemacht, das darf auch sein.
Rohde: Aber Oskar Lafontaine hat eine neue Partei gegründet. Ist das Ihr Ziel, aus der SPD heraus?
Däubler-Gmelin: Nein, ich glaube nicht, dass es jetzt wieder in Parteistrukturen gehen muss, sondern es geht um die Frage, wofür sind Sozialdemokraten gebraucht, und da ist es so, dass die Ziele, nämlich Gleichheit, Solidarität, Zukunftssicherung, dass die ziemlich alt sind, aber dass sie nach den Bedingungen des 21. Jahrhunderts mit den Menschen diskutiert und umgesetzt werden müssen, denen die Angst nimmt, weil diese Angst, die wir zurzeit überall spüren vor Abstieg, vor Veränderungen, vor Verschlechterung des Lebens, um die muss es gehen, die muss Politik aufarbeiten, und das wird eine der notwendigen Aufgaben der Erneuerung der SPD sein, zu sagen, jawohl, wir sehen das, wir bemühen uns um die Konzepte, wir beziehen die Zivilgesellschaft mit ein, und wir fördern zum Beispiel Kreislaufwirtschaft und nicht die alten Industrien. Wir tun jetzt was für den Klimawandel, berücksichtigen dabei aber die Arbeitsplätze, und wir sehen, dass ihr Angst habt vor Digitalisierung, und wir zeigen euch den Weg. Es wird sich verändern, aber nicht verschlechtern zum Beispiel durch Veränderungsmanagement.
"Heimat ist kein politischer Kampfbegriff"
Rohde: Diese Angst hat ja auch Sigmar Gabriel versucht aufzugreifen. Er hat gesagt, das sozialdemokratische Klientel sehnt sich nach mehr Orientierung. Ist das jetzt sinnvoll, Heimat und Leitkultur als Begriff der SPD zu etablieren?
Däubler-Gmelin: Nein, das halte ich überhaupt nicht, sondern ich bin eine absolute Vertreterin – das hören Sie ja schon an meinem Dialekt –, dass Heimat und die Identität und den Leuten wichtig ist, aber es ist kein politischer Kampfbegriff, und so wird es ja zurzeit verwandt, sondern lassen Sie mich noch mal darauf zurückkommen: Wir wissen, der Klimawandel ist da, wir wissen, wir leben, was Ressourcen angeht, über unsere Verhältnisse, und wer Gewalt, wer Krieg und wer Konflikte nicht ständig haben will mit dem entsetzlichen Leid und den Fluchtbewegungen, muss von Industriegesellschaften, mit so viel Intelligenz wie unserer, verlangen, dass man Kreislaufwirtschaft fördert und dass man diese umsetzt. Das können wir, aber das muss dann Politik aufgreifen, das muss auch eine Partei aufgreifen und sagen, das führt uns in die richtige Richtung, in ein gutes, wenn auch völlig verändertes Leben, und das ist die Aufgabe der SPD.
"Agenda 2010 und Hartz IV, das war ein Fehler"
Rohde: Das hat die SPD ja auch in der Vergangenheit schon versucht, sie ist trotzdem in den vergangenen Jahren offenbar nicht so gut angekommen bei Wählerinnen und Wählern. Muss man daraus nicht lernen und tendenziell wieder mehr in die Mitte oder sogar nach rechts gehen?
Däubler-Gmelin: Das sind alles Begriffe, die sind alle ziemlich flexibel. Das wissen Sie so gut wie ich, deswegen brauche ich das gar nicht mehr zu sagen. Nein, ich glaube, dass die SPD in den letzten Jahren sehr viel an Vertrauen verloren hat, weil der Weg eben ein neoliberaler war. Agenda 2010 und Hartz IV, das war ein Fehler. Da hat die SPD bei den Leuten den Eindruck erweckt, nicht ihr seid eigentlich interessant, sondern die Konzerne sind es. Es geht viel weniger darum, dass man jetzt das Leben der Familien, der Alleinerziehenden, der normalen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sieht, sondern insgesamt geht es um Aktien und Statistiken. Das ist ein Fehler, dazu braucht man die SPD nicht.
"Die Agenda hätte man anders machen müssen"
Rohde: Allerdings muss man sagen, also die Arbeitslosigkeit ist zum Beispiel nach den Reformen, also der Hartz-IV-Reformen, massiv zurückgegangen, das heißt, die SPD hatte mit der Agenda tatsächlich auch Erfolg.
Däubler-Gmelin: Natürlich, das leugnet ja auch niemand, aber schauen Sie, die Agenda hätte man anders machen müssen. Ich nehme jetzt mal das, wenn Sie heute sehen, wie viele, gerade auch junge Leute, befristete Arbeitsverhältnisse bekommen – wie sollen die denn planen? Wie sollen die sich gesellschaftspolitisch engagieren in Gewerkschaften, in Betriebsräten, wenn sie im Grunde genommen, ständig drauf gucken müssen, dass sie das, was das Unternehmen will, verwirklichen, einfach deshalb, weil sie sonst keine Chance auf einen ständigen Arbeitsplatz haben? Das sind alles Dinge, die wären bei der Agenda 2010 nicht nötig gewesen, wie auch vieles andere, und deswegen war sie falsch, und das muss man auch sehr deutlich sagen.
"Die SPD ist dann gut, wenn sie eure Sorgen wirklich aufnimmt"
Rohde: Peer Steinbrück, der hat ein Interview gegeben und sagt, die Mehrheitsgesellschaft entscheidet Wahlen, man solle sich nicht so sehr kümmern um Antidiskriminierungspolitik, um Lifestyle-Themen von Minderheiten, sondern auf die Mehrheitsgesellschaft schauen. Finden Sie das auch?
Däubler-Gmelin: Da hat er ausnahmsweise mal recht, ansonsten hat er die Wahlen in Nordrhein-Westfalen und auch sonst wie glanzvoll verloren, aber uns geht es in der Tat um die Lebenssituation gerade derjenigen, die sehen, unsere Gesellschaft wird immer stärker gespalten, der neoliberale Kurs der vergangenen Jahre hat dazu geführt, dass man eine Schicht hat, die immer reicher wird, und ganz viele Leute, die Angst haben, gerade aus dem Mittelstand, dass sie im zunehmenden Bereich der Veränderungen absacken, und das wollen die nicht, und wir wollen es auch nicht, und deswegen wehren wir uns und sagen, guckt mal Leute, in der Öffentlichkeit muss sich vieles ändern. Die SPD ist dann gut, wenn sie eure Sorgen wirklich aufnimmt, diese drei, die ich genannt habe, und Projekte aus der Zivilgesellschaft aufnimmt in die Politik und dann versucht, sie umzusetzen.
Rohde: Aber jetzt sieht es ja erst mal so aus, dass die SPD das machen wird, was im Koalitionsvertrag steht, also zum Beispiel Baukindergeld umsetzen, Mietpreisbremse verschärfen, tausende neue Pflegefachkräfte einstellen – reicht das?
Däubler-Gmelin: Das ist auf jeden Fall mal gut. Das finde ich sehr gut, deswegen finde ich ja auch dieses sympathische Team der SPD, das gestern vorgestellt wurde, gut. Die haben dafür zu achten, dass die umgesetzt werden und dass hier nicht das Fadenkreuz wieder nach rechts oder konservativ oder Weiter-so verschoben wird. Das muss man auch deutlich machen, aber wie gesagt: Die Erneuerung der SPD in den Punkten, die ich genannt habe, um im 21. Jahrhundert unter den Bedingungen der Europäisierung, auch der Globalisierung, Freiheit, Gleichheit und auch Solidarität umzusetzen, das muss aus der sozialdemokratischen Partei kommen.
Rohde: Und glauben Sie, da können Sie auch Wähler im Osten gewinnen, wo die SPD ja oft hinter der AfD inzwischen liegt?
Däubler-Gmelin: Das denke ich schon. Das ist auch eine Frage, ob man die Sorgen der Menschen mit aufnimmt. Ich habe ja in dem großartigen Prozess der Wiedervereinigung immer wieder darauf hingewiesen, dass man den Menschen im Osten nicht vormachen darf, sie hätten 40 Jahre umsonst gelebt, sondern dass man ihre Leistungen, ihre Vita, ihre ganzen Bedingungen sehr viel stärker würdigen muss. Das Problem war, dass viele Menschen im Osten den Eindruck haben, genau das hätten die arroganten Wessis nicht gemacht. Ist ein Sonderproblem, muss aber aufgearbeitet werden, dann wird auch die Kommunikation dort leichter.
"Ich bin keine Katastrophenpolitikerin"
Rohde: Frau Däubler-Gmelin, was ist denn Ihre langfristige Prognose? Wird die Partei zugrunde gehen, ähnlich wie in Frankreich, und in vier Jahren dann zum Beispiel durch eine linke Sammlungsbewegung ersetzt werden?
Däubler-Gmelin: Also ich bin keine Katastrophenpolitikerin. Ich sehe auch in der SPD eine ganze Menge an intelligenten Leuten, die wirklich versuchen, die Gesellschaft zusammenzuhalten, die wissen, was wir von Europa haben, die nicht möchten, dass Menschen in Angst leben. Da gehen sie dann immer automatisch nach rechts bei uns. Auf die setze ich auch und auf deren Erneuerungspotenzial. Selbstverständlich haben Sie auch andere, aber ich denke, die SPD hat eine gute Chance - sie muss sie jetzt wahrnehmen.
Rohde: Das sagt Herta Däubler-Gmelin, sie ist SPD-Mitglied und eine der Gründerinnen der Progressiven Sozialen Plattform. Danke für das Gespräch!
Däubler-Gmelin: Danke sehr!
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