Die Hertie-Warenhäuser - im 19. Jahrhundert gegründet von Oscar Tietz - sind seit dem Jahr 1994 Geschichte. Damals wurden sie an den Karstadt-Konzern verkauft. Der Name Hertie existiert allerdings weiter in der gemeinnützigen Hertie-Stiftung, aus deren Budget die Hertie School of Governance finanziert wird, eine private Hochschule, die internationale Führungskräfte heranbilden soll.
Dass sich hinter dem Namen Hertie das Schicksal deutscher Juden verbirgt, die ihr Eigentum unter den Repressionen des NS-Regimes verloren haben, ist weithin vergessen. Im Dunkel ist auch, inwieweit das Vermögen der Hertie-Stiftung zurück geht auf die Arisierungspolitik der Nazis.
Nun haben zwei Wissenschaftler den Auftrag erhalten, die Vorgeschichte zu untersuchen, einer davon ist der Frankfurter Historiker Johannes Bähr, der einen Schwerpunkt seiner Arbeit auf den Unternehmer Georg Karg legt, der 1934 von den Nationalsozialisten als Geschäftsführer eingesetzt worden ist und laut Johannes Bähr als Profiteur der NS-Arisierungspolitik bezeichnet werden kann.
Das Interview in vollständiger Länge.
Birgid Becker: Wie genau ist der Auftrag?
Johannes Bähr: Der Auftrag ist, die Arisierung des Hertie-Warenhauskonzerns, also der Hermann Tietz OHG 1933 zu untersuchen – die Rolle von Georg Karg, auf den werden wir sicher noch zu sprechen kommen dabei –, und die Geschichte der Hertie GmbH im Dritten Reich.
Benannt nach Hermann Tietz
Becker: Die Kerndaten der Stiftung, 1974 gegründet, sie geht zurück auf den zwei Jahre zuvor verstorbenen Unternehmer Georg Karg. Der war Inhaber der Warenhauskette Hertie, Namensgeber also von Stiftung und Hochschule, und die Hertie-Warenhäuser, 1994 verkauft an den Karstadt-Konzern. Die Hertie-Warenhäuser gehen zurück auf den Kaufmann Oscar Tietz, einen deutschen Juden, der Ende des 19. Jahrhunderts ein Unternehmen gründete, das er nach seinem Onkel und Geldgeber Hermann Tietz benannte, und das haben Sie jetzt eben angesprochen. Diese Hermann Tietz OHG, die geriet 1933 mit der Machtergreifung der Nazis in die Mühlen der sogenannten Arisierung. Was genau geschah?
Bähr: Die Warenhäuser waren schon lange im Visier der NSDAP, schon im ersten Parteiprogramm 1920 wurde die Enteignung gefordert, weil sie alle als, in Anführungszeichen, "jüdisch" galten. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 bekam Hermann Tietz OHG die Kredite der Banken gesperrt. Das war für das Unternehmen eine existenzielle Bedrohung, weil es vorher Jahre der Weltwirtschaftskrise gab, in denen die Warenhauskonzerne alle samt und sonders schwere Verluste erlitten haben.
Die ursprüngliche Absicht war eigentlich, den gesamten Konzern zu schließen – davon haben dann Hitlers Berater ihn abgebracht mit dem Hinweis auf Arbeitslosigkeit, die dadurch gesteigert würde. Es ist schließlich ein Kredit einer staatlichen Bank, der Akzept- und Kreditbank, erteilt worden, der das Unternehmen zunächst einmal liquide hielt unter der Auflage, dass besagter Georg Karg als Geschäftsführer eingesetzt wird. Man muss ergänzend noch dazusagen, dass ein Bankenkonsortium dahinterstand von der Deutschen Bank, der Dresdner Bank und der Commerzbank und anderen, das dann sozusagen als Übernahmegesellschaft die Hertie GmbH gründete. Nach und nach wurde dann die Hermann Tietz OHG gezwungen, Anteile an Hertie abzugeben. Ganz klar als Firmenbezeichnung im allgemeinen Öffentlichkeitsbegriff ist Hertie ein Arisierungsprodukt.
Aufklärung über die Akten der Banken
Becker: Georg Karg hat den Namen dann in der Nachkriegszeit weitergeführt, weiß man über die Motive?
Bähr: Ja, nun, das waren irgendwie eingeführte Marken, es ging ja auch darum, die Kunden zu halten, und wer Hertie liest, der assoziiert ja Hermann Tietz in der damaligen Zeit. Heute ist der Name ja leider fast unbekannt. Hermann Tietz hatte viel zu bieten, das waren großartige Kaufhäuser, das waren Kathedralen des Konsums – am Alexanderplatz, Leipziger Straße - durchaus als bei den Konsumenten positiv assoziiert, und da gab es auch ein kaufmännisches Interesse einfach, an diesem Namen festzuhalten. Ich glaube nicht, dass das jetzt aus Verbundenheit zu der Familie Tietz geschehen ist.
Becker: Wie genau ist bekannt, zu welchen Konditionen dann Georg Karg die Anteile an der neuen Hertie GmbH 1934 bekommen hat?
Bähr: Er hat die Anteile eigentlich erst später bekommen. Er ist als Geschäftsführer eingesetzt worden, aber zunächst mal lagen die Anteile bei dem Bankenkonsortium. Es ist auch noch reichlich im Dunkeln, wie Karg dann daran kam, denn in den folgenden Jahren und wo er das Geld hatte – es war immerhin eine erhebliche Summe –, dann diesen Konzern zu kaufen. Das wird man noch aufklären müssen, und ich denke, dass man da auch besonders über die Akten der Banken dann doch auch sehr viel weiter kommt.
"Karg war kein ideologischer Nazi"
Becker: Ist er, also Georg Karg, ein Profiteur der NS-Arisierungspolitik gewesen?
Bähr: Ja, ganz zweifellos. Karg war jetzt kein ideologischer Nazi, gar nicht in der NSDAP, aber er war ein sehr fähiger Verkäufer, der im Grunde die Chance ergriffen hat, wie so viele, die Verfolgung der Juden zu seinem beruflichen Vorteil zu nutzen.
Becker: Nun gab es wohl in den Nachkriegsjahren Verhandlungen zwischen den Familien Karg und Tietz, drei Warenhäuser gingen auch an die Familien zurück. Wie genau und welche Regelungen getroffen wurden, ist das bekannt?
Bähr: Das ist gut dokumentiert, aber man wird da auch sicherlich noch einmal nachgehen müssen den verschiedenen Schriftwechsel. Man wundert sich oft aus heutiger Sicht, warum eigentlich die geschädigten Familien dann doch recht bereitwillig mit den Arisierenden wieder Vereinbarungen geschlossen haben nach dem Krieg – das gab es in vielen Fällen. Man muss allerdings auch berücksichtigen, dass sie nicht allzu viel Spielraum hatten. Das waren in der Regel ältere Menschen inzwischen geworden, die auch sich im Grunde keinen langen Prozess leisten konnten, und diese Restitutionsprozesse in der Bundesrepublik – man weiß ja auch, wie die Justiz damals zusammengesetzt war –, die zogen sich dann oft über zehn oder zwölf Jahre hin.
Becker: Nun gibt es die Hertie-Warenhäuser nicht mehr, der Name Hertie lebt aber weiter in der Stiftung und in der Hochschule. Warum sollte man wissen, was sich mit diesem Namen verbindet?
Bähr: Aus mehreren Gründen: Zunächst einmal ist es für die Hochschule für ihr Selbstverständnis ganz wichtig zu wissen, woher das Vermögen kam – das wird man auch zu klären haben, in welchem Umfang das Vermögen direkt von Karg stammt, es gibt ja mehrere Stiftungen, es gibt ja auch noch die Karg-Stiftung und die Karg’sche Familienstiftung –, und dass da nicht länger diese Geschichte unaufgearbeitet bleibt.
Aufarbeitung ist vielleicht der falsche Begriff, da assoziiert man dann doch eher so Störungen und Heilungen damit, um das geht es ja nicht, es geht um Aufklärung. Es geht darum, das Gedenken an die Familie Tietz und an das, was ihr angetan wurde, wachzuhalten – und das auch noch über das jetzt laufende Projekt hinweg, das ist nicht damit abzuschließen. Aber man kann die Grundlage dafür schaffen, dass ein besseres Gedenken dann folgen wird. Es ist zwar sehr viel Zeit vergangen, aber es sollte nie zu spät sein, und ich glaube, Familie Tietz hat das sicherlich auch verdient.
Das gilt im Übrigen nicht nur für die Hertie School. Ich erinnere daran, dass auch die Galeria Kaufhof, die heutige, letztendlich aus dem Schwesterkonzern Leonhard Tietz entstanden ist durch Arisierung, und ich denke, es wäre wahrscheinlich auch für das Land Berlin angebracht, angesichts der großen Verdienste, die diese Warenhaus-Unternehmerfamilie hat, da ein stärkeres Gedenken zu erbringen. Bisher ist es ja so, dass man den Fall kennt, und das ist auch das Kuriose daran. Es ist eigentlich jetzt keine sensationelle Entdeckung, aber es ist im Grunde nie gründlich aufgeklärt worden, was damals geschehen ist.
"Niemand hat sich für die Stifter interessiert"
Becker: Dass die Vergangenheit des Stiftungsvermögens nun aufgearbeitet wird, das geht ja wohl auch zurück auf Druck auf den Stiftungsvorsitz aus dem Kreis ehemaliger Studenten der Hertie School. Wie bewerten Sie das?
Bähr: Ja, ganz sicher. Sehen Sie, die Hertie-Stiftung ist 1974 gegründet worden, damals hat sich niemand in der Bundesrepublik dafür interessiert, wo die Stifter herkamen. Als das Interesse dann kam Ende der 90er-Jahre und diese breite Welle einsetzte und man begann, sogenannte Arisierungen zu untersuchen, da gab es Hertie nicht mehr. Insofern ist das sicherlich eine Besonderheit dieses Falls, dass eben über die Stiftung und über die Hertie School dann letztendlich doch wieder die Geschichte der Stiftung eingeholt hatte.
Becker: Der Auftraggeber für Ihre Untersuchung jetzt ist der Stiftungsvorstand, deren Vorsitzender ist Frank-Jürgen Weise, der ehemalige Chef der Bundesagentur für Arbeit. Im Vorstand sitzt auch eine Enkelin von Georg Karg. Können oder wollen Sie eine Bewertung dazu abgeben, wie sich der Stiftungsvorstand bislang in puncto Aufarbeitung der Vergangenheit verhalten hat?
Bähr: Dazu kann ich wenig sagen, mein Auftraggeber ist die Gesellschaft für Unternehmensgeschichte in Frankfurt …
Becker: Die wiederum den Auftrag erhalten hat.
Bähr: … die den Auftrag und diese Verhandlungen über den Auftrag geführt hat. Dass das alles viel zu spät kommt, dazu muss man ja kein Experte sein, um das einschätzen zu können. Da ist natürlich jetzt Hertie auch kein Einzelfall. Man hätte im Grunde vor 50 Jahren damit beginnen müssen, aber das ist ein breiteres Thema. Es ist sicherlich in diesem Fall exzeptionell spät. Aus heutiger Sicht erscheint es reichlich unverständlich, dass man jetzt erst damit beginnt, da Aufklärung zu schaffen.
Becker: Nun gibt es bereits zwei Studien zum Ursprung des Vermögens der Hertie-Stiftung, die aber nicht veröffentlicht wurden. Was macht Sie optimistischer, dass Ihre Arbeit nicht das Gleiche widerfährt?
Bähr: Weil diese Studien eine andere Ausrichtung hatten, da ging es speziell um die Person dieses Georg Karg. Der ist in der Tat ein Phänomen, weil es zu ihm kaum schriftliche Überlieferungen gibt. Der Mann war ja auch kaum bekannt in der Bundesrepublik, anders als Neckermann oder Horten oder so.
Becker: Wenn wir den Bogen noch etwas breiter aufziehen, die Geschichte der großen Kaufhäuser in Deutschland – Hertie spiegelt ja als einziges im Namen noch den Ursprung ihrer jüdischen Gründer –, wenn wir aber ansonsten gucken auf diese ganzen Kaufhausnamen, auf Kaufhof, auf Karstadt, auf Horten, auf Neckermann, deren Ursprünge gehen ja alle auf jüdische Kaufleute zurück, denen die Nazis Hab und Gut und oft genug auch das Leben genommen haben. Ist das adäquat aufgearbeitet?
Bähr: Ansatzweise ja, insgesamt nein. Es lässt sich natürlich nur immer dort aufarbeiten, wo es Dokumente und Quellen dazu gibt, und das Problem ist, dass bei vielen, etwa auch bei Neckermann, da eben kein Unternehmensarchiv mehr existiert, das heißt, es ist sehr mühselig, das aufzuarbeiten. Man muss dann in Bestände hineingehen, das kostet auch viel Geld, und wenn das Unternehmen nicht mehr da ist, gibt es in der Regel auch kaum jemanden, der dafür bezahlt. Insofern ist das aus der Sicht der Forschung auch eine Chance, mit dem Hertie-Projekt, das wir jetzt haben hier, grundsätzlich neue Erkenntnisse über diese gesamte Branche zu gewinnen.
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