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Hessen will Gymnasien die Rückkehr zu G9 ermöglichen

Hessen tut sich schwer mit der Gymnasialzeitverkürzung G8. Mittelstufenschüler und deren Eltern klagen über verdichteten Unterrichtsstoff und erhöhten Leistungsdruck. Mehr als ein Jahr vor der Landtagswahl hat Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier nun angekündigt, Gymnasien die Rückkehr zur neunjährigen Schulzeit G9 freizustellen.

Von Anke Petermann |
    Ihre berufliche Karriere hat Christiane Hennrich erst mal zurückgestellt. Die Gymnasialzeitverkürzung G8 erfordert nachmittägliches Coaching der Söhne, die beide aufs Gymnasium in Wald-Michelbach im Odenwald gehen.

    "Der Leistungsdruck ist enorm groß, und die Kinder kommen teilweise mit Halbwissen nach Hause. Ich mach’ dafür jetzt auch nicht die Schule verantwortlich, das ist einfach die verfehlte Bildungspolitik, die die Schulen zwingt, den Stoff schnellstmöglich durchzupeitschen, und die Kinder kommen nach Hause und müssen das nacharbeiten, manches muss sogar erst verstanden werden, das heißt, den Eltern wird echt viel abverlangt."

    Die anhaltende Unzufriedenheit von Eltern hat bei Hessens CDU-geführter Landesregierung zwar keinen Meinungsumschwung bewirkt - offiziell favorisiert die schwarz-gelbe Koalition weiterhin G8. Doch ein Jahr vor der Landtagswahl geht sie davon ab, Gymnasien auf das Turboabitur nach acht Jahren zu verpflichten. Ob allen oder nur den neun selbstständigen Gymnasien die neue Wahlfreiheit gewährt wird, will Nicola Beer, neue Bildungsministerin von der FDP, allerdings noch nicht verraten.

    "Wir sind momentan eben in der Prüfung. Da sind auch keine Denkverbote. Wir wollen das vor allem zusammen mit den Schulen, den Elternverbänden, den Schulleitungen und den Lehrerinnen und Lehrern entwickeln, und von daher geht es jetzt darum festzustellen, welche Varianten am besten geeignet sind, auch in welchen Entwicklungsschritten man das umsetzt, um eben vor Ort Wahlfreiheit zu geben, aber möglichst viel Ruhe zu bewahren."

    Doch Gymnasialleiter äußern sich bislang eher ablehnend zur Rückkehr zu G9. Viele scheuen den riesigen Organisationsaufwand einer Rückabwicklung, befürchten, als zweitklassig abgestempelt zu werden. Rainhard Rzytki, Leiter der Wiesbadener Elly-Heuss-Schule, gehörte von Anfang an zu den Befürwortern der verkürzten Gymnasialzeit, vor allem, weil ihm die Schüler der 13. Klasse längst über die Schule hinausgewachsen schienen,

    "…und ich war von daher relativ frühzeitig dafür, das was ich im Ausland gesehen habe, auch in Deutschland zu überlegen, dass man sagt, die Schulzeit ist zu einem Zeitpunkt beendet, wo die jungen Leute zwar tendenziell volljährig sind, aber immer noch Jugendliche und nicht junge Erwachsene."

    Wenn es nach Rzytki geht, werden die Fünftklässler an der Wiesbadener Elly-Heuss-Schule auch vom kommenden Sommer an nach acht Jahren Abitur machen. Das Gymnasium hat früh damit angefangen, Schüler zu entlasten, Hausaufgaben können zum Teil in der Unterrichtszeit erledigt werden, Projekttage und Exkursionen nehmen Druck aus dem Schulalltag. "Kompetenzorientiert unterrichten", statt große Stoffkataloge pauken zu lassen, gibt die neue Bildungsministerin als weitere Marschrichtung zur Entschärfung von G8 vor. Die Kritiker der Landesschülervertretung stellt das allerdings ebenso wenig zufrieden wie die angekündigte Wahlfreiheit. Felix Ries, G8-Gymnasiast aus Schlüchtern, meint:

    "Das ist meiner Meinung nach besser, wenn man das Schulsystem nicht zwischen G8 und G9 jetzt hin- und her wirft, sondern sich auch mal was Neues überlegt, eben eine flexible Oberstufe und eine längere Grundschulzeit von mindestens sechs Jahren, dass man einfach viel mehr Zeit von Anfang an hat, und jetzt nicht nur zu dem zurückgeht zu dem was vorher war, weil man gemerkt hat, dass G8 nicht das Beste ist."

    Auf längeres gemeinsames Lernen bis Klasse sechs dürfte sich die schwarz-gelbe Koalition in Hessen kaum einlassen. Ebenso undenkbar: die flächendeckende Rückkehr zu G9, wie die Linke und die Bildungsgewerkschaft GEW fordern. Die neue Wahlfreiheit ist das Maximale, was mit Volker Bouffier zu machen ist. Die sozialdemokratische Opposition, Landeselternbeirat und Schülervertreter wie Felix Ries fordern dagegen, Gymnasiasten nach einer sechsjährigen Mittelstufe selbst zu überlassen, ob sie die Oberstufe in zwei oder mehr Jahren durchlaufen.