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Heuss hat "den Deutschen ins Gewissen geredet"

Mit seinen kunstvollen Reden habe Theodor Heuss Feldzüge gegen das Vergessen unternommen, sagt der Journalist Peter Merseburger, der eine Biografie über den ersten Präsidenten der Bundesrepublik vorgelegt hat. So habe Heuss den Anstoß zu einer Aufarbeitung der Vergangenheit gegeben.

Moderation: Christoph Heinemann |
    Christoph Heinemann: Einige seiner Vorfahren waren Neckarschiffer, die die Obrigkeit während der Revolution von 1848 auf Trab hielten, womit noch einmal daran erinnert wäre, dass das Ländle nicht nur die Heimat der schwäbischen Hausfrau, also der Biedermeierin des 21. Jahrhunderts ist, sondern im 19. Jahrhundert auch Hort vieler Revolutionäre war. Sein Großvater hat gegen die Preußen gekämpft und arbeitete später als Buchhalter. Dieser Großvater hatte nie eine Universität besucht; gleichwohl weist ihn sein Bücherschrank, wie der Biograf bemerkt, als "ersten selfmade Bildungsbürger" im Stammbaum der Familie aus. In Erinnerung geblieben ist der Enkel, um den es jetzt gehen wird, als erster Präsident der Bundesrepublik Deutschland: mit Bürgerbauch, dem Glas Lemberger und Zigarre. Theodor Heuss residierte zunächst auf der Bonner Viktorshöhe im Stadtteil Bad Godesberg; 1950 zog er in die Villa Hammerschmidt am Rhein um und bemerkte damals, er wohne jetzt näher bei Adenauer, aber entfernter von Gott. Der württembergische Gelehrte als Gegengewicht zum rheinischen Katholiken Konrad Adenauer:

    "Theodor Heuss war alles andere denn ein unpolitischer Präsident. Die frühe Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik ruht auf beiden: dem Kanzler und dem Präsidenten. Der Kanzler als Mann der Tat stellte die geschichtlichen Weichen, aber sein Regierungsstil, seine Formulierungsschwäche und sein karg bemessener Wortschatz machten ihn unfähig zu dem, wozu Heuss, der Journalist, Literat und erfahrene, ungewöhnlich redebegabte Parlamentarier, mit seiner Metapolitik herangewachsen ist: zum Erzieher zur Demokratie, wenn nicht zum Vater derselben."

    Heinemann: So endet das Buch, das der Journalist und Publizist Peter Merseburger über Theodor Heuss geschrieben hat. Gut 600 Seiten über einen Mann, der vier Epochen der deutschen Geschichte erlebt und teilweise geprägt hat: Kaiserreich und Krieg, Weimarer Republik, Nazi-Diktatur und Weltkrieg, schließlich die Gehversuche der Demokratie. Peter Merseburgers Biografie über Heuss ist in diesen Tagen erschienen, und weil wir den Begriff Metapolitik gerade gehört haben, habe ich den Autor zunächst gefragt, was Theodor Heuss darunter verstanden hat.

    Peter Merseburger: Das ist erstens ein Wort, das er selber geprägt hat, und damit hat er, glaube ich, sagen wollen, dass seine Form der politischen Einflussnahme als Bundespräsident auf das deutsche Geschehen und auf die Bundesbürger eben nicht in tagesaktueller Form stattgefunden hat, sondern dass er da nicht unpolitisch, aber über der Tagesaktualität stehend, doch gewisse Dinge in das politische Bewusstsein der Deutschen gerufen hat. Das sind traditionsstiftende Reden gewesen, über die wir vielleicht noch sprechen müssen. Das ist aber auch vor allem sein Versuch gewesen, so eine Art geläutertes Nationalbewusstsein zu schaffen. Heuss war ja auch ein sehr Nationaler, außer dass er ein Liberaler war. Er wollte die deutsche Geschichte nicht verkürzt sehen auf zwölf Jahre Nationalsozialismus. Deshalb hat er immer an die positiven Traditionen in der deutschen Geschichte erinnert, auch an Freiheitstraditionen, selbst wenn die Freiheitskämpfe nicht zum Sieg geführt haben.

    Heinemann: Er wollte die Geschichte nicht auf die zwölf Jahre verkürzen. Gleichwohl musste er nach Hitler und Hindenburg ja das Amt der Staatsspitze neu erfinden. Wie hat Theodor Heuss das Bundespräsidentenamt geprägt?

    Merseburger: Ja, er hat es ja selber entmachtet, wenn Sie so wollen, weil er im parlamentarischen Rat auch dafür war, dass dieser Bundespräsident so wenig wie möglich wahre politische Macht bekommt. Er verfügte im Wesentlichen über die Macht der Rede, und die hat Heuss wirklich hervorragend genutzt. Nach ihm hat diese Macht der Rede eigentlich nur noch so kunstvoll und gekonnt genutzt ein Richard von Weizsäcker, würde ich sagen.

    Dass der Bundespräsident Heuss am Anfang im Grunde vor einem Paragraphen-Gespinst stand, das hat er selber einmal betont, aber er hat es, wie er selbst gesagt hat, mit seinem Menschentum – ein Wort, das er gern benutzt hat und das heute eigentlich im aktuellen Sprachkatalog der Deutschen kaum mehr vorkommt -, er hat dieses Paragraphen-Gespinst mit seinem ganzen Menschentum ausgefüllt. Da kam ein Mann wie Heuss, durch und durch Zivilist, eine Person, die über einen orphischen Bass verfügte, ...

    Heinemann: Orphischer Bass – was verstehen Sie darunter?

    Merseburger: Das ist ein ganz tiefer kräftiger Bass, mit dem er dann seine Silvesteransprachen hielt und seine ganzen Reden und dabei auch das, was Augstein mal den Sommerfrische-Dialekt genannt hat, dieses Schwäbelnde, das aus seinen Reden nicht wegzudenken war. Heuss war ein Schwabe durch und durch und hat das überhaupt nicht versteckt. Er war ein unverstellter Mann, er war gegen Pomp und Pathos. Und ich würde auch sagen, damals gehörte wie bei Ludwig Erhard bei seinem Auftreten eben immer die Zigarre, die brennende Zigarre dazu. Die war immer da. Heuss hat sich damit sogar gelegentlich, glaube ich, selbst stilisiert.

    Heinemann: Sie sprachen eben von den traditionsstiftenden Reden. Welche fällt Ihnen da vor allem ein?

    Merseburger: Es gibt mehrere. Aber die vielleicht wichtigste ist die von 1954. Da hat er im Grunde die Attentäter des 20. Juli rehabilitiert und ihre Ehre betont. Das war damals noch nötig, weil viele Deutsche die Männer des 20. Juli noch als Verräter oder Saboteure betrachteten. Und er hat praktisch das so klar gesagt, dass der 20. Juli so ein bisschen Teil der bundesdeutschen Staatsräson geworden ist. Wer jetzt nach dieser Rede im Auditorium Maximum der Freien Universität Berlin 1954 noch gegen die Männer vom 20. Juli war, der verstieß irgendwie gegen die Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland. Und das war natürlich im Hinblick auf den Aufbau der neuen, demokratisch orientierten Streitkräfte ganz enorm wichtig.

    Heinemann: "Informationen am Morgen" im Deutschlandfunk, Sie hören ein Gespräch mit dem Journalisten Peter Merseburger, der eine Biografie über den ersten Bundespräsidenten, über Theodor Heuss gerade vorgelegt hat. – Hat Theodor Heuss dazu beigetragen, dass Juden und Deutsche wieder miteinander zu reden begannen?

    Merseburger: Sehr! Er war in den ersten Jahren der Bundesrepublik der Ansprechpartner für Juden, die aus der Emigration kamen und die Bundesrepublik besuchten. Das war vor allen Dingen Karl Marx, ein früheres DDP-Mitglied, und auch Heuss war ja Mitglied dieser liberalen Partei in der Weimarer Republik. Karl Marx begründete damals die allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland und stellte sich als Verbindungsmann zur Verfügung. Und Heuss, der traditionell ein sehr gutes Verhältnis zu Juden hatte - und viele Freunde von ihm waren jüdisch der Herkunft nach -, hat auf Adenauer schon Einfluss genommen, dass er sich zu den Juden hin öffnet. Die erste Regierungserklärung von Adenauer war so gehalten, dass selbst Kurt Schumacher damals sagte, sie haben von den Opfern gesprochen des Nationalsozialismus, aber nie die Juden erwähnt. Und das hat Heuss versucht zu korrigieren, und das hat er gekonnt hinter den Kulissen im Gespräch mit Adenauer, aber auch gelegentlich durch ein kleines Briefchen ist ihm das sehr gut gelungen.

    Heinemann: Gleichwohl: als Reichstagsabgeordneter hatte Theodor Heuss 1933 ja dem Ermächtigungsgesetz für Hitler zugestimmt. Wie hat er das später begründet?

    Merseburger: Er hat sehr wohl gesagt, das sei ein Ja, das aus seiner Lebensgeschichte leider nicht auszulöschen sei. Er wusste im Augenblick, als er die Hand hob zur Abstimmung, dass er einen großen Fehler begeht. Aber man darf nicht vergessen, dass Heuss ein Gegner der Nationalsozialisten war, und zwar ein erklärter. Er hat das erste Hitler-Buch geschrieben, wenn Sie so wollen, die erste Analyse des Nationalsozialismus, die in Deutschland auf den Markt kam – auf dem Titelbild ein Hitler, der den Mund zur Rede geöffnet hat und die Hand geballt. Da wurde deutlich, dass dieser Mann durchaus ein aggressiver Redner und aggressiver Politiker ist. Das Buch wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Heuss hat auch eine große Abrechnung mit den Nationalsozialisten im Reichstag gehabt 1932. Also er war überhaupt kein Freund der Nazis.

    Dass er für das Ermächtigungsgesetz gestimmt hat, ist heute natürlich eine Sache, die hätte ihn disqualifiziert. Sagen wir so: Wenn die 68er das Sagen gehabt hätten, mentalitätsmäßig und von ihren Meinungen her 1949, dann hätte ein Mann, der für das Ermächtigungsgesetz gestimmt hat, nie eine Chance gehabt, Präsident zu werden.

    Heinemann: Vielleicht hätten die 68er damals seine Frau gewählt. – Viel Platz in Ihrem Buch und naturgemäß ja auch im Theodor-Heuss-Leben nimmt eben diese Elli Heuss-Knapp ein: Politikerin, Sozialreformerin, die Gründerin des Müttergenesungswerks. Inwieweit prägt sie sein Denken?

    Merseburger: Also man muss erst mal sehen, dass diese Elli Heuss-Knapp - ein Professorentöchterchen von einem führenden Professor in Straßburg -, dass diese Elli Heuss-Knapp damals eine durchaus moderne emanzipierte Frau war, auch Heuss mit ihr und sie mit ihm ein wirklich damals vorbildliches, beinahe emanzipiertes Eheleben geführt haben. Aber wie alles bei Heuss in diesen Dingen: Überall da, wo er modern war und der Zeit voraus war, blieb er doch immer im korrekten Bürgerlichen. also sie war keine Frau von feministischen Aktivisten a la Alice Schwarzer oder Suffragetten oder so, aber sie war schon aufgeklärt und sie war eine große Freundin von Albert Schweizer.

    Ich würde sagen, zwischen Elli Heuss-Knapp und Theodor Heuss gab es eine Form von intellektueller Partnerschaft, die eigentlich für eine Ehe vorbildlich ist. Sie war so eine Art Überredakteurin bei ihm. Alles was er schrieb und was für ihn wichtig war, sprach er vorher mit ihr durch und sie hat ihn gelegentlich kritisiert, hat auch schon, als sie noch verlobt waren, noch gar nicht verheiratet, gelegentlich gesagt, das und das, was du geschrieben hast, finde ich unverständlich oder vom Stil her hat mir das nicht gefallen, das musst du abändern, da kommt was Altfränkisches durch und so. Also das war wirklich eine Partnerschaft, eine intellektuelle, und so was ist, wie ich glaube, sehr vorbildlich gewesen.

    Heinemann: Eine Partnerschaft, wie er sie sonst vielleicht im intellektuellen Bereich nur mit Friedrich Naumann geteilt hat?

    Merseburger: Friedrich Naumann war sein - im Grunde war er ein Ziehsohn von Friedrich Naumann und er hat Naumann als ein Idol bewundert und hat dann nach seinem Tod sich als sein Erbe gefühlt, ein Mann, der seine Gedanken weiterträgt. Naumann war ja eine sehr merkwürdige Figur, ziemlich ambivalent, einerseits sehr demokratisch, andererseits sehr national. Er gehörte auch zu jener Gruppierung liberaler Imperialisten, die wir uns heute eigentlich nur schwer denken können. Das waren also Demokraten, die aber gleichzeitig für deutsche Weltgeltung, für die Flotte und für Kolonien eintraten und das völlig in Ordnung fanden.

    Heinemann: Herr Merseburger, was können die heute politisch Verantwortlichen von Theodor Heuss lernen?

    Merseburger: Wenn Sie die Präsidenten meinen, dann würde ich auf die Reden abheben und sagen, die Reden, die er gehalten hat, die waren wirklich geschliffen kunstvoll und sie berührten auch essenzielle Themen. Denken Sie daran, dass er in Bergen-Belsen bei der Einweihung des Mahnmals für das Konzentrationslager und die dort Ermordeten wirklich für die damaligen Verhältnisse den Deutschen ins Gewissen geredet hat und mit seinen Reden Feldzüge gegen das Vergessen unternommen hat, wie er selber gesagt hat. Und er sagte, man muss die volle Grausamkeit erkennen. Er sprach - das Wort "Holocaust" war damals noch überhaupt unbekannt – schon von der Pedanterie des Mordens als schier automatischem Vorgang. Und ich glaube, die Art, wie er den Deutschen ins Gewissen geredet hat, nie von oben herab, sondern sich immer einbeziehend, die war wirklich sehr wirksam.

    Heinemann: Der Begriff der Kollektivscham stammt auch von ihm.

    Merseburger: Er hat den Begriff Kollektivscham geprägt. Er lehnte den Begriff Kollektivschuld ab, weil er sagte, das ist die Umkehrung dessen, was die Nazis mit den Juden gemacht haben. Nur weil die Juden Juden waren, waren sie schuldig, und das lehnen wir ab. Aber nur weil die Deutschen Deutsche sind, sind sie schuldig, das lehne ich ebenfalls ab. Aber wir müssen uns schämen, Deutsche gewesen zu sein im Sinne dieser Verbrechen, die der Nationalsozialismus begangen hat, und wir müssen wirklich uns damit auseinandersetzen. Und ich glaube, er hat den Anstoß gegeben zu dem, was dann später Aufarbeitung der Vergangenheit nennt.

    Heinemann: "Theodor Heuss - der Bürger als Präsident" – Autor des Buchs ist und Gesprächspartner im Deutschlandfunk war der Journalist und Publizist Peter Merseburger.

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    Der Journalist und Autor Peter Merseburger
    Der Journalist und Autor Peter Merseburger (picture alliance / dpa / Karlheinz Schindler)