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Heuss-Rede vor 70 Jahren
Nazi-Verbrechen und deutsche Kollektivscham

Theodor Heuss, der erste Bundespräsident, setzte sich mit dem Nationalsozialismus auseinander. Am 7. Dezember 1949 prägte er dabei den Begriff Kollektivscham für die Verbrechen - als eine Art Gegenentwurf zur Kollektivschuld und auch zur verbreiteten Schlussstrichmentalität.

Von Bernd Ulrich |
    Bundespräsident Theodor Heuss und seine Frau Elly Heuss-Knapp winken 1949 aus einem Auto heraus der Menge zu
    Bundespräsident Theodor Heuss und seine Frau Elly Heuss-Knapp im Jahr 1949 (picture alliance/AP Images )
    Theodor Heuss: "Es hat keinen Sinn, um die Dinge herumzureden. Das teuflische Unrecht, das sich an dem jüdischen Volk vollzogen hat, muss zur Sprache gebracht werden."
    So am 7. Dezember 1949 der kurz zuvor zum ersten Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählte Theodor Heuss. Er trat als Festredner vor der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Wiesbaden auf. Viele seiner Zuhörer empfanden sich vermutlich selbst als Leidtragende eines Unrechts. Die Deutschen trauerten um tote oder vermisste Angehörige, sie litten an der Zerstörung ihrer Städte und beklagten die Vertreibung aus ihrer Heimat. Diese Identifizierung mit der Opferrolle hatte Folgen. Sie versperrte die Auseinandersetzung mit den Ursachen der Diktatur und mit der eigenen Beteiligung an den deutschen Verbrechen. Heuss ahnte das:
    "Was ich hier sage, wird, zumal das Mikrofon da steht, manche Leute ärgern."
    Aber das sollte Heuss damals wie in den Folgejahren nicht abhalten, die Dinge beim Namen zu nennen:
    "Wir dürfen nicht vergessen die Nürnberger Gesetze, den Judenstern, den Synagogenbrand, den Abtransport von jüdischen Menschen in die Fremde, ins Unglück, in den Tod."
    Verbunden war dieser einzigartige Aufruf zur Vergegenwärtigung deutscher Vergangenheit mit der damals so verbreiteten wie vehementen Ablehnung einer Kollektivschuld. Das Bekenntnis zu ihr war zwar unmittelbar nach dem Krieg gefordert worden. Doch tatsächlich spielte sie keine wesentliche Rolle, auch nicht in den Kriegsverbrecherprozessen – wie etwa in der Urteilsbegründung im Prozess gegen die I.G. Farben vom 29. Juli 1948:
    "Es ist undenkbar, dass die Mehrheit aller Deutschen verdammt werden soll. Das würde der Billigung des Begriffes der Kollektivschuld gleichkommen. Und daraus würde logischerweise Massenbestrafung folgen, für die es keinen Präzedenzfall im Völkerrecht und keine Rechtfertigung in den Beziehungen zwischen den Menschen gibt."
    Kollektivscham als Gegenentwurf zur Kollektivschuld
    Was Heuss in seiner Rede nun an Stelle der Kollektivschuld den Zuhörern anbot, war die "Kollektivscham":
    "Das Wort Kollektivschuld und was dahinter steht ist eine zu simple Vereinfachung. Aber etwas wie Kollektivscham ist aus dieser Zeit gewachsen und geblieben. Denken Sie, was der Hitler uns antat - und er hat uns viel angetan - ist doch dies gewesen, dass er uns in die Scham gezwungen hat, mit ihm und seinen Gesellen den Namen Deutsche zu tragen."
    Das war eine Passage, für die der Schriftsteller und Journalist Ralph Giordano in seinem 1987 publizierten Buch "Die zweite Schuld" zu Recht nur bitteren Spott übrig hatte:
    "Hitler und wir? Hier wird eine Trennung konstruiert, die es nie gab, die angesichts der historischen Tatsachen völlig unglaubwürdig ist und mich an den Ausspruch eines Strafrechtlers erinnert: ‚Ein Täter und 60 Millionen Gehilfen.‘ Aber diese Nation stand, bis auf Ausnahmen, geschlossen hinter Hitler."
    Theodor Heuss hatte dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt
    Heuss blieb selbst ein quasi von der Scham Betroffener. Als nationalliberaler Reichstagsabgeordneter seit 1924 hatte er zu den frühen Kritikern Adolf Hitlers gehört. Gleichwohl stimmte er am 23. März 1933 dem Ermächtigungsgesetz zu, mit dem Demokratie und Rechtsstaat ad absurdum geführt wurden. Darunter litt er Zeit seines Lebens. Und fand doch eine weitere, eine neue Form der Aneignung von Vergangenheit – neben dem Vergessen und Verdrängen der deutschen Unheilsgeschichte oder gar der schon damals grassierenden Schlussstrichmentalität. Der katholische Theologe und Heuss-Kenner Karl-Josef Kuschel:
    "Und diese Kategorie nennt er Kollektivscham. Gemeint war, dass gerade auch diejenigen Deutschen, die nicht unmittelbar schuldig geworden waren, von den Exilanten angefangen, die ja nach Deutschland zurückkehrten, bis hin zu vielen, vielen Deutschen, die nicht im System der Vernichtung von Juden beteiligt waren, gerade auch denen sollte klar werden, wir sind alle betroffen, der deutsche Name ist ein für allemal kontaminiert."
    Das war viel für die junge Republik. Dennoch irrlichterte der von Heuss geprägte Begriff der Kollektivscham bis heute zwischen Schuldbekenntnis und Schuldabwehr und tabuisierte nachhaltig das Eingestehen persönlicher Verantwortung.