Wolfgang Straub ist 63 Jahre alt. Seine Erwerbsbiographie klassisch: Nach seiner Lehre als Einzelhandelskaufmann bekommt er in Berlin eine feste Stelle. 42 Jahre lang verkauft er Autoersatzteile. Sein letztes Bruttogehalt liegt bei 1600 Euro. Damit kommt er gut zurecht. Doch dann, vier Jahre vor dem eigentlichen Rentenalter, wird Wolfgang Straub krank: Osteoporose. Er, der immer stolz darauf war, dass er nie gefehlt hat, muss sein Arbeitsleben als Frührentner beenden.
Wolfgang Straub trägt einen blauen Jogginganzug, bequeme Turnschuhe. Er steht im Wohnzimmer seiner gemieteten Berliner Altbauwohnung, setzt sich auf ein altmodisches Sofa mit geschwungenem Holzrahmen. Vor ihm auf dem Tisch liegt der Rentenbescheid. 985 Euro bekommt Wolfgang Straub jeden Monat.
"Wenn ich nicht krank geworden wäre, hätte ich bis 65 durchgearbeitet. Das wären bestimmt so um die 1200, 1300 geworden, netto. Das wären immerhin 400 Euro mehr als ich heute habe und das ist natürlich ein Haufen Geld."
Im Wohnzimmer brennt kein Licht, es ist halbdunkel und kühl. Er versucht zu sparen, wo es eben geht. Nach Abzug von Kranken- und Pflegeversicherung, Strom und Miete, bleiben ihm etwa 400 Euro zum Leben. Das bedeutet: Keine Urlaubsreise, kein Kino, kein Theater, selten frisches Obst und Gemüse. Einmal in der Woche geht er in die Kneipe. Mehr, sagt Wolfgang Straub, ist nicht drin. Seit er Rentner ist, sind viele Freundschaften zerbrochen.
"Ja sicher sind viele Freundschaften auseinander gegangen. Weil manche, die kriegen ja Witwenrenten und Nachkriegsrente, die sind natürlich bedeutend besser gestellt als ich, und das ist dann in die Brüche gegangen, weil die dann öfter mal essen gehen, und da kann ich nicht mithalten. Da bleib ich still zuhause sitzen und träum vor mich hin."
Er zeigt auf die gräulich weißen Tapeten. Wolfgang Straub würde die Wände gerne streichen, aber auch dafür hat er kein Geld.
"Ich zahle hier 400 Euro, dann kommt Strom und Gas, dann bin ich bei 500 Euro. Für 74 Quadratmeter, da kann ich nicht meckern, das ist noch günstig, deshalb halte ich auch die Füße still und bleib hier drin. Wenn ich jetzt umziehen würde, käme ja noch mehr auf mich zu, könnte ich mir gar nicht erlauben finanziell. Klar, ich könnte eine kleinere Wohnung nehmen, aber die ist ja teurer als meine, die ich jetzt habe und das wäre ja, gehupft wie gesprungen."
Er ist stolz auf seine Mietwohnung im Seitenflügel. Die Miete ist seit Jahren unverändert. Dafür hat Wolfgang Straub vor 22 Jahren seine ganzen Ersparnisse investiert und die marode Altbauwohnung selbst renoviert.
"Am stolzesten bin ich auf mein Badezimmer, das hat mich am meisten Geld gekostet. Das habe ich neu kacheln lassen und neue Armaturen, Waschbecken und Badewanne, alles neu. Das war ja vorher vergammelt wie man so sagt. Die ganzen Wände waren schwarz und dunkelgrau. Also ich hab bestimmt 30.000 D-Mark rein gesteckt in die Wohnung."
Hätte er geahnt, dass er sein Arbeitsleben als Frührentner beendet, er hätte sich anders entschieden. Geld zum Sparen bleibt nicht übrig, trotzdem ist er zufrieden.
"Ich habe ja alles. Hauptsache es geht nichts kaputt, dann bin ich natürlich zurück geschmissen, aber sonst geht es mir einigermaßen ganz gut."
Nur die Reden der Politiker, die machen ihn richtig wütend. Rund ein Prozent Rentenerhöhung. Für Wolfgang Straub wären das gerade einmal neun Euro.
"Ich finde das lächerlich. Alle reden von 3 bis 8 Prozent im Arbeitsleben und die Rentner? Voriges Jahr waren es 0,54 Prozent. Dieses Jahr soll es 1 Prozent werden. Die Inflationsrate ist ja höher als der Rentenausgleich sozusagen. Da ist ja überhaupt nichts mit anzufangen."
Und dennoch reißt die Diskussion nicht ab, seit Bundesarbeitsminister Olaf Scholz Mitte März sein vorösterliches "Überraschungsei" der Öffentlichkeit präsentiert hatte: Nach dem Willen der Koalition sollen die rund 20 Millionen Rentner in diesem Jahr eine Art Sonderzuschlag auf ihr Altersgeld erhalten. Zum 1. Juli, so die Botschaft von Sozialdemokrat Scholz, werde die Rente um 1,1 Prozent steigen - und damit etwa doppelt so stark wie das nach der so genannten Rentenformel eigentlich möglich wäre:
"Die Bundesregierung war davon ausgegangen, dass wir im letzten Jahr einen Anstieg der Löhne um 1,9 Prozent haben werden. tatsächlich herausgekommen ist eine Lohnsteigerung von 1,4 Prozent. Und würde man ausschließlich die geltende Formel zur Anwendung bringen, würde das lediglich eine Rentenerhöhung von 0,46 Prozent ergeben."
Die Höhe der Renten hängt von der Entwicklung der Löhne und Gehälter ab. Seit Jahren aber bleibt der Anstieg der Altersgelder hinter den Einkommen der Berufstätigen zurück. Der Grund dafür ist die höchst komplizierte Rentenformel, in die die Politiker eine Reihe von Dämpfungsfaktoren eingebaut haben. Sie sollen dafür sorgen, dass das System der umlagefinanzierten Rente auch in Zukunft noch funktioniert, und dabei zugleich ein gerechter Ausgleich zwischen den Generationen gewährleistet ist.
So gibt es zum einen den Nachhaltigkeitsfaktor. Er hat Einfluss auf die Rentenformel, wenn sich die Zahl der Beitragszahler, also der Berufstätigen, gegenüber der Zahl der Beitragsempfänger, sprich der Rentner, verändert. Da es aufgrund der Alterung der Gesellschaft künftig immer mehr Ruheständler gibt, wird der Nachhaltigkeitsfaktor eine dämpfende Wirkung auf die Rentenformel haben - soll heißen: Die Renten werden hinter der Entwicklung der Löhne und Gehälter zurückbleiben.
Verstärkt wird dieser Effekt durch den Riester-Faktor. Er berücksichtigt die gestiegene Belastung der Berufstätigen durch die private Vorsorge und beeinträchtigt ebenfalls die Höhe der Rentenzahlungen. Dieser Korrekturmechanismus, auch "Riester-Treppe" genannt, hätte gegenwärtig Jahr für Jahr eine Minderung des Rentenanstiegs von etwa 0,6 Prozentpunkten zur Folge. Genau hier setzt Minister Scholz an: In diesem und im nächsten Jahr werden die Stufen der Riester-Treppe gleichsam übersprungen. Mit der Folge, dass ein Durchschnittsrentner monatlich nicht nur knapp sechs, sondern rund 13 Euro zusätzlich im Portemonnaie haben wird.
Diese Maßnahme hat indes ihren Preis, denn das zusätzliche Geld für die Renten muss schließlich aufgebracht werden. Daher werden die Beitragssätze zur Rentenversicherung bis 2013 weniger stark absinken als dies nach geltender Rechtslage eigentlich vorgesehen ist. Für Alexander Gunkel von der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände ist das nicht akzeptabel:
"Die jetzt geplanten Sonderrentenanhebungen werden die Steuer- und Beitragszahler in hohem Maße belasten. Das bedeutet weniger Netto für die Arbeitnehmer und höhere Personalzusatzkosten für die Arbeitgeber."
Die Gesamtbelastung beläuft sich auf geschätzte 11 bis 13 Milliarden Euro.
Doch nicht nur die Arbeitgeberverbände üben Kritik an den Plänen der Bundesregierung: Die Berliner Opposition wie auch zahlreiche Wirtschaftsexperten bezeichnen den Eingriff in die Rentenformel als Geschenk an die große Wählergruppe der Senioren - ein Jahr vor der nächsten Bundestagswahl. Die Politik setze ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel und untergrabe das Vertrauen in das umlagefinanzierte Rentensystem - ein Vorwurf, der bis in die Reihen der Koalitionsfraktionen hineinreicht. So sagt der CDU-Bundestagsabgeordnete Jens Spahn:
"Wir ändern willkürlich, mal wieder, in der Rentenformel einen Faktor nach Umfragelage. Nach Kassenlage wird das auch gerne gemacht. Wir sollten endlich in der Rentenformel mal 15, 20 Jahre Verlässlichkeit und Beständigkeit haben, damit auch wieder Vertrauen in die Politik wachsen kann."
Jüngere Beitragszahler würden durch den Rentenzuschlag in besonderer Weise benachteiligt. Daher sei das Vorhaben der Koalition auch ein Verstoß gegen das Gebot der Generationengerechtigkeit, argumentiert der 27jährige Christdemokrat Spahn:
"Meine Generation wird länger arbeiten müssen, bis 67, höhere Beiträge zahlen und dafür ein wesentlich niedrigeres Rentenniveau zu erwarten haben."
Trotz der Kritik einiger Abgeordneter von Union und SPD steht fest, dass der Rentenbonus eine breite Mehrheit in den Koalitionsfraktionen finden wird. Ein Grund dafür ist auch, dass die anfänglichen Pläne von Arbeitsminister Scholz inzwischen vom Tisch sind. Denn der Sozialdemokrat hatte ergänzend vor, die Finanzreserve der Rentenkasse auf das Zweieinhalbfache einer Monatsreserve, und damit auf rund 42 Milliarden Euro, aufzustocken. Derzeit ist lediglich vorgesehen, diese "eiserne Reserve" auf eineinhalb Monatsausgaben anwachsen zu lassen.
Ausschließlich dieser Plan hatte zu Streit in der Koalition geführt. Dabei konnte Olaf Scholz für sein Vorhaben durchaus gute Gründe anführen. Der Minister wollte die Rentenkasse krisenfester machen für schlechte Zeiten, wenn die Konjunktur lahmt und die Beitragseinnahmen rapide sinken. Schließlich war die Nachhaltigkeitsrücklage der Rentenversicherung 2005 schon einmal so stark geschrumpft, dass die pünktliche Auszahlung der Renten nur über einen vorgezogenen Bundeszuschuss gesichert werden konnte.
Die Aufstockung der Rücklage in Verbindung mit dem Rentenzuschlag hätte indes Beitrags- wie Steuerzahler erheblich belastet. Der Beitragssatz wäre nach den Plänen von Minister Scholz bis 2014 auf dem heutigen Stand von 19,9 Prozent geblieben - und damit zwei Jahre länger als vorgesehen. Außerdem wäre der Bundeshaushalt mittelfristig mit fast acht Milliarden Euro zusätzlich belastet worden.
Nun können die Ruheständler in diesem und im kommenden Jahr zwar höhere Altersgelder erwarten als dies nach der Rentenformel gerechtfertigt wäre. Doch in den Folgejahren wird der Anstieg der Renten erneut besonders mager ausfallen, sagt das Arbeitsministerium bereits voraus. So sollen 2012 und 2013 nicht nur die beiden Stufen des jetzt ausgesetzten Riester-Faktors nachgeholt werden. Zusätzlich greift dann der so genannte Nachholfaktor. Er soll die in den Jahren 2005 und 2006 schon einmal versäumte Rentendämpfung kompensieren. Damals hätte es für die Senioren nach der Rentenformel eigentlich Kürzungen ihrer Bezüge geben müssen, was die Politik den Betroffenen aber nicht hatte zumuten wollen.
Für die Interessenvertreter der Rentner, aber auch für den Deutschen Gewerkschaftsbund, ist die geplante Anhebung der Altersbezüge unzureichend. DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach verweist auf die aus ihrer Sicht völlig verfehlte Rentenpolitik:
"Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Denn hier nimmt die Bundesregierung wenigstens einen Teil der beschlossenen Rentensenkung zurück, beziehungsweise setzt sie wenigstens vorübergehend aus. Trotzdem bleibt die Rentenentwicklung weit hinter den Lebenshaltungskosten zurück."
Mit der Folge, dass die Altersarmut dramatisch anwachsen werde, wie Gewerkschafterin Buntenbach befürchtet. Für den Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider, greift es allerdings zu kurz, den Blick nur auf die Situation der gegenwärtigen Rentnergeneration zu richten.
"Die Aussetzung des Risterfaktors, die jetzt nach Jahren wieder zu einer Rentenerhöhung führt, eine bescheidene Rentenerhöhung von 1,1 Prozent, sei den Rentnern gegönnt. Es geht hier sicherlich auch um Anerkennung von Lebensleistung. Aber es kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass dies mit einer nachhaltigen Rentenpolitik, die die Probleme anpackt, mit denen wir es hier in Deutschland zu tun haben und vor allem haben werden in den nächsten Jahren, überhaupt nichts zu tun hat."
Das eigentliche Problem seien die Renten von morgen. Noch gehe es den Alten im Schnitt gut, sagt Schneider. Nur etwa 2,5 Prozent lebten derzeit von der Grundsicherung, also von 347 Euro Regelsatz im Monat.
"Im Vergleich zu den Menschen im erwerbsfähigen Alter ist es eine Quote von 10 Prozent und bei den Kindern bis 15 Jahre ist es sogar eine Quote von 16 Prozent, die auf Armutsniveau leben. Das heißt, im Durchschnitt betrachtet geht es den Rentnern heute so gut wie noch nie."
Aber damit ist wohl bald Schluss. Die Rentner von morgen haben nicht mehr lückenlos in die Versicherung eingezahlt. Das Arbeitsleben ist seit den 90er Jahren von Arbeitslosigkeit und prekären Beschäftigungsverhältnissen geprägt. Und die Politik will zusätzlich das Rentenniveau deutlich senken von gegenwärtig etwa 50 auf 40 Prozent in den nächsten 30 Jahren. Ein Abwärtstrend ist dadurch programmiert, sagt Prof. Meinhard Miegel, Leiter des Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft in Bonn.
"Wenn beides zusammen kommt, Geldentwertung und Absenken des Rentenniveaus, dann werden wir zukünftig eine deutlich schlechtere Versorgung der Bevölkerung haben als heute. Große Teile der Bevölkerung haben keine Maßnahmen getroffen um die voraussehbare Absenkung der Rente zu kompensieren."
Sozialhilfeniveau für zwei Millionen Alte, das könnte die nahe Zukunft sein. Die Politik habe viel zu lange an einem Rentensystem festgehalten, das gesellschaftlich längst überlebt sei, meint der Wirtschaftsfachmann.
"Dies ist ein reines Fürsorgesystem. Dieses System ist so gut und so schlecht, wie die jeweils aktive Generation bereit ist die alte Generation mit zu tragen. Und wenn das schwächelt und in Zukunft zeigen wird, dass es in höchstem Maße abhängt von demografischen Entwicklungen, von der Entwicklung der Produktivität, dann beginnt die Bevölkerung zu verarmen."
Vor dieser absehbaren Entwicklung habe die Politik bislang die Augen verschlossen:
"In der Vergangenheit hat man irreführender Weise gesagt, dieses gesetzliche Altersicherungssystem ist ein Lebensstandardsicherndes System. Was es nicht sein konnte. Es hat sehr lange gedauert, nämlich bis zu Walter Riester, er hat gesagt, das ist ein Existenzsicherungssystem."
Im Klartext: Die gesetzliche Rente schafft künftig kaum mehr als die Grundsicherung. Wer mehr will, muss privat Vorsorge treffen. Darauf ist die Bevölkerung aber nicht vorbereitet. In den alten Bundesländern verlassen sich etwa 60 Prozent allein auf die gesetzliche Rente, in den neuen Ländern sind es sogar fast 90 Prozent. Erst langsam wird den meisten klar: Ohne ein zweites Standbein droht ein armseliger Ruhestand. Aber nur die großen Firmen leisten sich eine betriebliche Altersvorsorge. Und privat vorsorgen kann nur, wer tatsächlich am Monatsende etwas übrig hat.
Etwa 40 Prozent der Bevölkerung gehe es sehr gut, sagt Meinhard Miegel. Und in dieser Gruppe werde in den nächsten Jahren ein Billionenbetrag ver- und geerbt. Aber für die übrigen 60 Prozent ist die Zukunft mager:
"Die Schere geht weiter auseinander. Wir werden in Zukunft einen deutlich größeren wohlhabenden Bevölkerungsteil haben. Aber wir werden auch einen deutlich größeren wirtschaftlich schwachen Bevölkerungsteil haben. Das ist eine neue Erfahrung für Deutschland. Viele Millionen Menschen werden den Euro zweimal umdrehen."
Höchste Zeit also für einen grundlegenden Umbau des Rentensystems, meint auch Ulrich Schneider vom DPWV.
"Das Problem mit unserem Generationenvertrag ist ja, dass wir die Renten nach wie vor wie zu Bismarcks Zeiten finanzieren. Das heißt von jedem Lohn der gezahlt wird, wird in die gesetzliche Rentenversicherung abgeführt. Das heißt im Klartext auch, heute zahlt ein Restaurant- oder Eisdielenbesitzer mit zwei, drei Beschäftigten mehr als Arbeitgeber in die Rentenkasse ein, als ein gut gehendes Notariat, wo Millionen Umsätze gemacht werden. Wer wirklich sehr ordentliche Gewinne macht, der muss genauso rangezogen werden zur Finanzierung des Rentensystems wie derjenige der letztendlich vor allen Dingen Lohnkosten hat."
Für die Rente zahlt, wer Lohn zahlt beziehungsweise bekommt. Das ist das alte Modell. Für die Rente zahlt, wer Steuern zahlt. So könnte das neue Modell aussehen, zumindest wenn es nach dem Willen der Sozialverbände geht. Der Wirtschaftsexperte Meinhard Miegel rät der Politik schon seit 25 Jahren zu diesem Systemwechsel. Auch die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, OECD, hat Deutschland vorgeschlagen, sich das Rentensystem der Schweiz zum Vorbild zu nehmen, um der drohenden Altersarmut zu begegnen. Das eidgenössische Drei-Säulen-Modell besteht aus einer steuerfinanzierten staatlichen Sockelrente und der Pflicht zur zusätzlichen betrieblichen und privaten Altersvorsorge. Dabei findet in der Schweiz eine erhebliche Umverteilung von reich zu arm statt: Wer zehnmal so hohe Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung zahlt, bekommt nur doppelt so viel Rente, wie derjenige, der nur ein Zehntel zahlt, erklärt Meinhard Miegel.
"In gewisser Weise plädiere ich für genau das Gleiche. Nur mit dem Unterschied, dass ich sage, lasst uns das ganze gleich über die Steuern finanzieren. Warum dieser mühsame Austausch zwischen den stärkeren und den schwächeren Einkommen. Das ganze wird ja über die Steuern ideal erfasst. Und dann lasst uns auf diese Sockel von 40 bis 45 Prozent private Vorsorge aufbauen."
Laut OECD liegt Deutschland bei der Höhe der Renten für Geringverdiener an letzter Stelle von 30 Industrienationen. Eine Reform scheint unabwendbar. Doch der Umbau des Rentensystems wird 20 bis 30 Jahre brauchen - also beinahe eine ganze Generation. Schließlich gibt es Eigentumsansprüche aus dem bestehenden System. Deshalb fordern die Sozialverbände schon jetzt Freibeträge auf kleine Renten, auf Riester-Renten und andere Einkünfte bei der Grundsicherung. Für die heute 20jährigen könnte es dann schon normal sein, dass ihre Grund-Rente aus Steuern bezahlt wird, meint Meinhard Miegel vom Institut für Wirtschaft und Gesellschaft.
"Die Stimmen mehren sich, die jetzt diesem Pfad folgen wollen, selbst in Regierungskreisen wird das nicht mehr brüsk abgelehnt. Wenn man vor 10, 15 Jahren damit begonnen hätte, dann hätten wir diese ganze Diskussion heute nicht mehr. Jetzt müssen wir die Veränderungen in einer ungleich schlechteren Situation vornehmen. Man hat hier wirklich politisch gesehen kostbare Zeit vertrödelt."
Wolfgang Straub trägt einen blauen Jogginganzug, bequeme Turnschuhe. Er steht im Wohnzimmer seiner gemieteten Berliner Altbauwohnung, setzt sich auf ein altmodisches Sofa mit geschwungenem Holzrahmen. Vor ihm auf dem Tisch liegt der Rentenbescheid. 985 Euro bekommt Wolfgang Straub jeden Monat.
"Wenn ich nicht krank geworden wäre, hätte ich bis 65 durchgearbeitet. Das wären bestimmt so um die 1200, 1300 geworden, netto. Das wären immerhin 400 Euro mehr als ich heute habe und das ist natürlich ein Haufen Geld."
Im Wohnzimmer brennt kein Licht, es ist halbdunkel und kühl. Er versucht zu sparen, wo es eben geht. Nach Abzug von Kranken- und Pflegeversicherung, Strom und Miete, bleiben ihm etwa 400 Euro zum Leben. Das bedeutet: Keine Urlaubsreise, kein Kino, kein Theater, selten frisches Obst und Gemüse. Einmal in der Woche geht er in die Kneipe. Mehr, sagt Wolfgang Straub, ist nicht drin. Seit er Rentner ist, sind viele Freundschaften zerbrochen.
"Ja sicher sind viele Freundschaften auseinander gegangen. Weil manche, die kriegen ja Witwenrenten und Nachkriegsrente, die sind natürlich bedeutend besser gestellt als ich, und das ist dann in die Brüche gegangen, weil die dann öfter mal essen gehen, und da kann ich nicht mithalten. Da bleib ich still zuhause sitzen und träum vor mich hin."
Er zeigt auf die gräulich weißen Tapeten. Wolfgang Straub würde die Wände gerne streichen, aber auch dafür hat er kein Geld.
"Ich zahle hier 400 Euro, dann kommt Strom und Gas, dann bin ich bei 500 Euro. Für 74 Quadratmeter, da kann ich nicht meckern, das ist noch günstig, deshalb halte ich auch die Füße still und bleib hier drin. Wenn ich jetzt umziehen würde, käme ja noch mehr auf mich zu, könnte ich mir gar nicht erlauben finanziell. Klar, ich könnte eine kleinere Wohnung nehmen, aber die ist ja teurer als meine, die ich jetzt habe und das wäre ja, gehupft wie gesprungen."
Er ist stolz auf seine Mietwohnung im Seitenflügel. Die Miete ist seit Jahren unverändert. Dafür hat Wolfgang Straub vor 22 Jahren seine ganzen Ersparnisse investiert und die marode Altbauwohnung selbst renoviert.
"Am stolzesten bin ich auf mein Badezimmer, das hat mich am meisten Geld gekostet. Das habe ich neu kacheln lassen und neue Armaturen, Waschbecken und Badewanne, alles neu. Das war ja vorher vergammelt wie man so sagt. Die ganzen Wände waren schwarz und dunkelgrau. Also ich hab bestimmt 30.000 D-Mark rein gesteckt in die Wohnung."
Hätte er geahnt, dass er sein Arbeitsleben als Frührentner beendet, er hätte sich anders entschieden. Geld zum Sparen bleibt nicht übrig, trotzdem ist er zufrieden.
"Ich habe ja alles. Hauptsache es geht nichts kaputt, dann bin ich natürlich zurück geschmissen, aber sonst geht es mir einigermaßen ganz gut."
Nur die Reden der Politiker, die machen ihn richtig wütend. Rund ein Prozent Rentenerhöhung. Für Wolfgang Straub wären das gerade einmal neun Euro.
"Ich finde das lächerlich. Alle reden von 3 bis 8 Prozent im Arbeitsleben und die Rentner? Voriges Jahr waren es 0,54 Prozent. Dieses Jahr soll es 1 Prozent werden. Die Inflationsrate ist ja höher als der Rentenausgleich sozusagen. Da ist ja überhaupt nichts mit anzufangen."
Und dennoch reißt die Diskussion nicht ab, seit Bundesarbeitsminister Olaf Scholz Mitte März sein vorösterliches "Überraschungsei" der Öffentlichkeit präsentiert hatte: Nach dem Willen der Koalition sollen die rund 20 Millionen Rentner in diesem Jahr eine Art Sonderzuschlag auf ihr Altersgeld erhalten. Zum 1. Juli, so die Botschaft von Sozialdemokrat Scholz, werde die Rente um 1,1 Prozent steigen - und damit etwa doppelt so stark wie das nach der so genannten Rentenformel eigentlich möglich wäre:
"Die Bundesregierung war davon ausgegangen, dass wir im letzten Jahr einen Anstieg der Löhne um 1,9 Prozent haben werden. tatsächlich herausgekommen ist eine Lohnsteigerung von 1,4 Prozent. Und würde man ausschließlich die geltende Formel zur Anwendung bringen, würde das lediglich eine Rentenerhöhung von 0,46 Prozent ergeben."
Die Höhe der Renten hängt von der Entwicklung der Löhne und Gehälter ab. Seit Jahren aber bleibt der Anstieg der Altersgelder hinter den Einkommen der Berufstätigen zurück. Der Grund dafür ist die höchst komplizierte Rentenformel, in die die Politiker eine Reihe von Dämpfungsfaktoren eingebaut haben. Sie sollen dafür sorgen, dass das System der umlagefinanzierten Rente auch in Zukunft noch funktioniert, und dabei zugleich ein gerechter Ausgleich zwischen den Generationen gewährleistet ist.
So gibt es zum einen den Nachhaltigkeitsfaktor. Er hat Einfluss auf die Rentenformel, wenn sich die Zahl der Beitragszahler, also der Berufstätigen, gegenüber der Zahl der Beitragsempfänger, sprich der Rentner, verändert. Da es aufgrund der Alterung der Gesellschaft künftig immer mehr Ruheständler gibt, wird der Nachhaltigkeitsfaktor eine dämpfende Wirkung auf die Rentenformel haben - soll heißen: Die Renten werden hinter der Entwicklung der Löhne und Gehälter zurückbleiben.
Verstärkt wird dieser Effekt durch den Riester-Faktor. Er berücksichtigt die gestiegene Belastung der Berufstätigen durch die private Vorsorge und beeinträchtigt ebenfalls die Höhe der Rentenzahlungen. Dieser Korrekturmechanismus, auch "Riester-Treppe" genannt, hätte gegenwärtig Jahr für Jahr eine Minderung des Rentenanstiegs von etwa 0,6 Prozentpunkten zur Folge. Genau hier setzt Minister Scholz an: In diesem und im nächsten Jahr werden die Stufen der Riester-Treppe gleichsam übersprungen. Mit der Folge, dass ein Durchschnittsrentner monatlich nicht nur knapp sechs, sondern rund 13 Euro zusätzlich im Portemonnaie haben wird.
Diese Maßnahme hat indes ihren Preis, denn das zusätzliche Geld für die Renten muss schließlich aufgebracht werden. Daher werden die Beitragssätze zur Rentenversicherung bis 2013 weniger stark absinken als dies nach geltender Rechtslage eigentlich vorgesehen ist. Für Alexander Gunkel von der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände ist das nicht akzeptabel:
"Die jetzt geplanten Sonderrentenanhebungen werden die Steuer- und Beitragszahler in hohem Maße belasten. Das bedeutet weniger Netto für die Arbeitnehmer und höhere Personalzusatzkosten für die Arbeitgeber."
Die Gesamtbelastung beläuft sich auf geschätzte 11 bis 13 Milliarden Euro.
Doch nicht nur die Arbeitgeberverbände üben Kritik an den Plänen der Bundesregierung: Die Berliner Opposition wie auch zahlreiche Wirtschaftsexperten bezeichnen den Eingriff in die Rentenformel als Geschenk an die große Wählergruppe der Senioren - ein Jahr vor der nächsten Bundestagswahl. Die Politik setze ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel und untergrabe das Vertrauen in das umlagefinanzierte Rentensystem - ein Vorwurf, der bis in die Reihen der Koalitionsfraktionen hineinreicht. So sagt der CDU-Bundestagsabgeordnete Jens Spahn:
"Wir ändern willkürlich, mal wieder, in der Rentenformel einen Faktor nach Umfragelage. Nach Kassenlage wird das auch gerne gemacht. Wir sollten endlich in der Rentenformel mal 15, 20 Jahre Verlässlichkeit und Beständigkeit haben, damit auch wieder Vertrauen in die Politik wachsen kann."
Jüngere Beitragszahler würden durch den Rentenzuschlag in besonderer Weise benachteiligt. Daher sei das Vorhaben der Koalition auch ein Verstoß gegen das Gebot der Generationengerechtigkeit, argumentiert der 27jährige Christdemokrat Spahn:
"Meine Generation wird länger arbeiten müssen, bis 67, höhere Beiträge zahlen und dafür ein wesentlich niedrigeres Rentenniveau zu erwarten haben."
Trotz der Kritik einiger Abgeordneter von Union und SPD steht fest, dass der Rentenbonus eine breite Mehrheit in den Koalitionsfraktionen finden wird. Ein Grund dafür ist auch, dass die anfänglichen Pläne von Arbeitsminister Scholz inzwischen vom Tisch sind. Denn der Sozialdemokrat hatte ergänzend vor, die Finanzreserve der Rentenkasse auf das Zweieinhalbfache einer Monatsreserve, und damit auf rund 42 Milliarden Euro, aufzustocken. Derzeit ist lediglich vorgesehen, diese "eiserne Reserve" auf eineinhalb Monatsausgaben anwachsen zu lassen.
Ausschließlich dieser Plan hatte zu Streit in der Koalition geführt. Dabei konnte Olaf Scholz für sein Vorhaben durchaus gute Gründe anführen. Der Minister wollte die Rentenkasse krisenfester machen für schlechte Zeiten, wenn die Konjunktur lahmt und die Beitragseinnahmen rapide sinken. Schließlich war die Nachhaltigkeitsrücklage der Rentenversicherung 2005 schon einmal so stark geschrumpft, dass die pünktliche Auszahlung der Renten nur über einen vorgezogenen Bundeszuschuss gesichert werden konnte.
Die Aufstockung der Rücklage in Verbindung mit dem Rentenzuschlag hätte indes Beitrags- wie Steuerzahler erheblich belastet. Der Beitragssatz wäre nach den Plänen von Minister Scholz bis 2014 auf dem heutigen Stand von 19,9 Prozent geblieben - und damit zwei Jahre länger als vorgesehen. Außerdem wäre der Bundeshaushalt mittelfristig mit fast acht Milliarden Euro zusätzlich belastet worden.
Nun können die Ruheständler in diesem und im kommenden Jahr zwar höhere Altersgelder erwarten als dies nach der Rentenformel gerechtfertigt wäre. Doch in den Folgejahren wird der Anstieg der Renten erneut besonders mager ausfallen, sagt das Arbeitsministerium bereits voraus. So sollen 2012 und 2013 nicht nur die beiden Stufen des jetzt ausgesetzten Riester-Faktors nachgeholt werden. Zusätzlich greift dann der so genannte Nachholfaktor. Er soll die in den Jahren 2005 und 2006 schon einmal versäumte Rentendämpfung kompensieren. Damals hätte es für die Senioren nach der Rentenformel eigentlich Kürzungen ihrer Bezüge geben müssen, was die Politik den Betroffenen aber nicht hatte zumuten wollen.
Für die Interessenvertreter der Rentner, aber auch für den Deutschen Gewerkschaftsbund, ist die geplante Anhebung der Altersbezüge unzureichend. DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach verweist auf die aus ihrer Sicht völlig verfehlte Rentenpolitik:
"Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Denn hier nimmt die Bundesregierung wenigstens einen Teil der beschlossenen Rentensenkung zurück, beziehungsweise setzt sie wenigstens vorübergehend aus. Trotzdem bleibt die Rentenentwicklung weit hinter den Lebenshaltungskosten zurück."
Mit der Folge, dass die Altersarmut dramatisch anwachsen werde, wie Gewerkschafterin Buntenbach befürchtet. Für den Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider, greift es allerdings zu kurz, den Blick nur auf die Situation der gegenwärtigen Rentnergeneration zu richten.
"Die Aussetzung des Risterfaktors, die jetzt nach Jahren wieder zu einer Rentenerhöhung führt, eine bescheidene Rentenerhöhung von 1,1 Prozent, sei den Rentnern gegönnt. Es geht hier sicherlich auch um Anerkennung von Lebensleistung. Aber es kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass dies mit einer nachhaltigen Rentenpolitik, die die Probleme anpackt, mit denen wir es hier in Deutschland zu tun haben und vor allem haben werden in den nächsten Jahren, überhaupt nichts zu tun hat."
Das eigentliche Problem seien die Renten von morgen. Noch gehe es den Alten im Schnitt gut, sagt Schneider. Nur etwa 2,5 Prozent lebten derzeit von der Grundsicherung, also von 347 Euro Regelsatz im Monat.
"Im Vergleich zu den Menschen im erwerbsfähigen Alter ist es eine Quote von 10 Prozent und bei den Kindern bis 15 Jahre ist es sogar eine Quote von 16 Prozent, die auf Armutsniveau leben. Das heißt, im Durchschnitt betrachtet geht es den Rentnern heute so gut wie noch nie."
Aber damit ist wohl bald Schluss. Die Rentner von morgen haben nicht mehr lückenlos in die Versicherung eingezahlt. Das Arbeitsleben ist seit den 90er Jahren von Arbeitslosigkeit und prekären Beschäftigungsverhältnissen geprägt. Und die Politik will zusätzlich das Rentenniveau deutlich senken von gegenwärtig etwa 50 auf 40 Prozent in den nächsten 30 Jahren. Ein Abwärtstrend ist dadurch programmiert, sagt Prof. Meinhard Miegel, Leiter des Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft in Bonn.
"Wenn beides zusammen kommt, Geldentwertung und Absenken des Rentenniveaus, dann werden wir zukünftig eine deutlich schlechtere Versorgung der Bevölkerung haben als heute. Große Teile der Bevölkerung haben keine Maßnahmen getroffen um die voraussehbare Absenkung der Rente zu kompensieren."
Sozialhilfeniveau für zwei Millionen Alte, das könnte die nahe Zukunft sein. Die Politik habe viel zu lange an einem Rentensystem festgehalten, das gesellschaftlich längst überlebt sei, meint der Wirtschaftsfachmann.
"Dies ist ein reines Fürsorgesystem. Dieses System ist so gut und so schlecht, wie die jeweils aktive Generation bereit ist die alte Generation mit zu tragen. Und wenn das schwächelt und in Zukunft zeigen wird, dass es in höchstem Maße abhängt von demografischen Entwicklungen, von der Entwicklung der Produktivität, dann beginnt die Bevölkerung zu verarmen."
Vor dieser absehbaren Entwicklung habe die Politik bislang die Augen verschlossen:
"In der Vergangenheit hat man irreführender Weise gesagt, dieses gesetzliche Altersicherungssystem ist ein Lebensstandardsicherndes System. Was es nicht sein konnte. Es hat sehr lange gedauert, nämlich bis zu Walter Riester, er hat gesagt, das ist ein Existenzsicherungssystem."
Im Klartext: Die gesetzliche Rente schafft künftig kaum mehr als die Grundsicherung. Wer mehr will, muss privat Vorsorge treffen. Darauf ist die Bevölkerung aber nicht vorbereitet. In den alten Bundesländern verlassen sich etwa 60 Prozent allein auf die gesetzliche Rente, in den neuen Ländern sind es sogar fast 90 Prozent. Erst langsam wird den meisten klar: Ohne ein zweites Standbein droht ein armseliger Ruhestand. Aber nur die großen Firmen leisten sich eine betriebliche Altersvorsorge. Und privat vorsorgen kann nur, wer tatsächlich am Monatsende etwas übrig hat.
Etwa 40 Prozent der Bevölkerung gehe es sehr gut, sagt Meinhard Miegel. Und in dieser Gruppe werde in den nächsten Jahren ein Billionenbetrag ver- und geerbt. Aber für die übrigen 60 Prozent ist die Zukunft mager:
"Die Schere geht weiter auseinander. Wir werden in Zukunft einen deutlich größeren wohlhabenden Bevölkerungsteil haben. Aber wir werden auch einen deutlich größeren wirtschaftlich schwachen Bevölkerungsteil haben. Das ist eine neue Erfahrung für Deutschland. Viele Millionen Menschen werden den Euro zweimal umdrehen."
Höchste Zeit also für einen grundlegenden Umbau des Rentensystems, meint auch Ulrich Schneider vom DPWV.
"Das Problem mit unserem Generationenvertrag ist ja, dass wir die Renten nach wie vor wie zu Bismarcks Zeiten finanzieren. Das heißt von jedem Lohn der gezahlt wird, wird in die gesetzliche Rentenversicherung abgeführt. Das heißt im Klartext auch, heute zahlt ein Restaurant- oder Eisdielenbesitzer mit zwei, drei Beschäftigten mehr als Arbeitgeber in die Rentenkasse ein, als ein gut gehendes Notariat, wo Millionen Umsätze gemacht werden. Wer wirklich sehr ordentliche Gewinne macht, der muss genauso rangezogen werden zur Finanzierung des Rentensystems wie derjenige der letztendlich vor allen Dingen Lohnkosten hat."
Für die Rente zahlt, wer Lohn zahlt beziehungsweise bekommt. Das ist das alte Modell. Für die Rente zahlt, wer Steuern zahlt. So könnte das neue Modell aussehen, zumindest wenn es nach dem Willen der Sozialverbände geht. Der Wirtschaftsexperte Meinhard Miegel rät der Politik schon seit 25 Jahren zu diesem Systemwechsel. Auch die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, OECD, hat Deutschland vorgeschlagen, sich das Rentensystem der Schweiz zum Vorbild zu nehmen, um der drohenden Altersarmut zu begegnen. Das eidgenössische Drei-Säulen-Modell besteht aus einer steuerfinanzierten staatlichen Sockelrente und der Pflicht zur zusätzlichen betrieblichen und privaten Altersvorsorge. Dabei findet in der Schweiz eine erhebliche Umverteilung von reich zu arm statt: Wer zehnmal so hohe Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung zahlt, bekommt nur doppelt so viel Rente, wie derjenige, der nur ein Zehntel zahlt, erklärt Meinhard Miegel.
"In gewisser Weise plädiere ich für genau das Gleiche. Nur mit dem Unterschied, dass ich sage, lasst uns das ganze gleich über die Steuern finanzieren. Warum dieser mühsame Austausch zwischen den stärkeren und den schwächeren Einkommen. Das ganze wird ja über die Steuern ideal erfasst. Und dann lasst uns auf diese Sockel von 40 bis 45 Prozent private Vorsorge aufbauen."
Laut OECD liegt Deutschland bei der Höhe der Renten für Geringverdiener an letzter Stelle von 30 Industrienationen. Eine Reform scheint unabwendbar. Doch der Umbau des Rentensystems wird 20 bis 30 Jahre brauchen - also beinahe eine ganze Generation. Schließlich gibt es Eigentumsansprüche aus dem bestehenden System. Deshalb fordern die Sozialverbände schon jetzt Freibeträge auf kleine Renten, auf Riester-Renten und andere Einkünfte bei der Grundsicherung. Für die heute 20jährigen könnte es dann schon normal sein, dass ihre Grund-Rente aus Steuern bezahlt wird, meint Meinhard Miegel vom Institut für Wirtschaft und Gesellschaft.
"Die Stimmen mehren sich, die jetzt diesem Pfad folgen wollen, selbst in Regierungskreisen wird das nicht mehr brüsk abgelehnt. Wenn man vor 10, 15 Jahren damit begonnen hätte, dann hätten wir diese ganze Diskussion heute nicht mehr. Jetzt müssen wir die Veränderungen in einer ungleich schlechteren Situation vornehmen. Man hat hier wirklich politisch gesehen kostbare Zeit vertrödelt."