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"Hier ist ganze Kraft Graumanns geboten"

Dieter Graumann ist zum neuen Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland gewählt worden. Für den Publizisten Günther Bernd Ginzel ist es wichtig, dass Graumann künftig "Führungskraft nach innen" biete.

Günther Bernd Ginzel im Gespräch Mascha Drost |
    Mascha Drost: Sie, Herr Ginzel, haben sie als die große alte Dame des deutschen Judentums bezeichnet. Halten Sie diese Vorwürfe für gerechtfertigt?

    Günther Bernd Ginzel: Nein, das ist sicherlich in dieser Form übertrieben. Charlotte Knobloch hatte ein ungemein erfolgreiches Leben. Sie hat eine der größten Gemeinden hervorragend im wahrsten Sinne des Wortes aus einer fast ghettohaften Nachkriegsvergangenheit in unsere Zeit, in die Bundesrepublik, in die Moderne geführt, mit Neubau, mit einer wunderbaren Mischung von Tradition und Erneuerung, und sie hat in München wirklich Großes geleistet. Das ist natürlich auf der Bundesebene nicht so ohne Weiteres zu wiederholen, aber auch hier hat sie eine gute Figur gemacht, wenn auch im Endeffekt, glaube ich, heute alle hoch zufrieden sind, dass sie einen Nachfolger gefunden hat und dass sie nicht noch einmal angetreten ist.

    Drost: Großes Thema in den Medien ist ja, dass Dieter Graumann der erste Vorsitzende ist, der den Holocaust nicht selbst erlebt hat, wie etwa Frau Knobloch, die als Kind versteckt die Nazi-Zeit überlebte. Ist dieser Fakt, die Geburt nach dem Krieg, allein schon ein Hinweis, vielleicht sogar Bestätigung für eine Veränderung in der Politik des Zentralrates?

    Ginzel: Also es macht mich natürlich etwas misstrauisch, weil ich darin die Sehnsucht eben einer großen breiten Öffentlichkeit sehe nach einem Ende dieser Debatte, nach einem Ende der Beschäftigung mit der Vergangenheit, denn natürlich: Graumann ist nach der Auschwitz-Generation aufgewachsen mit allen Phobien und allen Traumata der Eltern- und Großelterngeneration. Da ist nicht in dem Sinne die Zäsur. Natürlich ist es ein Wechsel, der sicherlich ein bisschen mehr Gelassenheit mit sich bringt, und vor allen Dingen, der offener ist, offener ist für die Dinge, die heute notwendig sind, und dazugehören zum Beispiel die Defizite des Zentralrates, die Tatsache, dass der Zentralrat es in den letzten Jahren und Jahrzehnten zugelassen hat, dass man ihn fast immer nur im Kontext von Schoa, von Auschwitz, von Antisemitismus, Rassismus und dergleichen in Verbindung gebracht hat und dass er sozusagen die zukunftsorientierten Dinge, die Dinge, die nicht unmittelbar mit dieser Thematik zu tun haben, dass er die nicht richtig hat transportieren können.

    Drost: Er hat ja sehr stark nach außen gewirkt mit Charlotte Knobloch und wäre es jetzt an der Zeit, sich vielleicht sozusagen um die Innenpolitik zu kümmern, um die vielen völlig unterschiedlichen und oft auch zerstrittenen Gemeinden, dass man die wieder an einen Tisch bringt?

    Ginzel: Das wäre unbedingt notwendig. Ich meine, die Verführungen und auch die Anforderungen, die von außen, von der Gesellschaft, von der Politik vor allen Dingen gestellt werden, die sind immens. Der Zentralrat ist ein Mittel der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland, das darf man nicht vergessen. Daher kommt ja auch ein Großteil seiner Bedeutung. Aber was ansteht, ist ein Vorsitzender, der sich mit Macht um die Interna kümmert, der sich um die Rabbiner kümmert, die zum Teil in ihren Rabbinerkonferenzen – ich sage das Mal offen – aus dem Ruder laufen, die nicht in der Lage sind, sich auf Kriterien zu einigen, die sich in Hickhacks zersplittern zwischen orthodox und liberal, ganz vergessend, dass wir hier eine Nachkriegstradition haben, wo alle Rabbiner in einer einzigen Rabbinerkonferenz waren. Hier ist Führungskraft geboten nach innen. Die Integration der russischen Juden, die braucht noch viele neue Impulse. Also hier ist die ganze Kraft von Graumann gefordert, eben insbesondere nach innen zu wirken, denn dort wird es am notwendigsten sein, sagen wir mal so, eine moderate und moderierende Hand zu spüren.

    Drost: Und ist er der richtige Mann für dieses Amt mit diesen Aufgaben nach Ihrer Meinung?

    Ginzel: Zum einen gab es überhaupt gar keine Alternative. Der Zentralrat hat noch nie dafür Sorge getragen, dass wirklich Nachfolger nachwachsen. Dafür machen die Herren und Damen das alles viel zu lange, das ist wie in jedem Kaninchenzüchterverein. Graumann ist mit Sicherheit unter den gegebenen Umständen der Richtige, und wenn man sich an die letzten Interviews, an seine, wie ich finde, große Rede am 9. November in der Paulskirche erinnert, dann muss man sagen ist er auf dem Weg, in dieses Amt mit den großen Schuhen hineinzuwachsen. Ich glaube, es wird ein interessanter Vorsitzender werden.

    Drost: Zur Wahl des neuen Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland, Dieter Graumann. Das war der Publizist Günther Bernd Ginzel. Vielen Dank für das Gespräch.