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"Hier wird Politik bewertet"

Die Anleger seien stark verunsichert, ob die "riesengroße" Verschuldung der Staaten noch zu lösen sei, sagt Birger Priddat, Professor für Politische Ökonomie an der Universität Witten-Herdecke. Viele Börsianer könnten in dieser unübersichtlichen Lage die Risiken nicht mehr einschätzen.

Birger Priddat im Gespräch mit Jürgen Zurheide |
    Jürgen Zurheide: Für die Amerikaner war es vermutlich ein weiterer Schock nach den vielen, die sie schon haben verarbeiten müssen. Ihr AAA-Rating ist weg und was sich da so technisch anhört, hat natürlich erhebliche Konsequenzen, weil es bedeuten wird, dass die Zinsen steigen. Und das, obwohl ohnehin nicht genügend Geld da ist, das alles zu bezahlen, was da bezahlt werden muss. Also eine schwierige Lage!

    Und wir wollen mal grundsätzlich fragen: Wie reagieren die Märkte eigentlich, ist das noch rational, was sich da im Moment abspielt? Das Thema wollen wir bereden mit Birger Priddat, der Inhaber des Lehrstuhls für politische Ökonomie an der Universität Witten-Herdecke, den ich jetzt begrüße, guten Morgen, Herr Priddat!

    Birger Priddat: Ja, schönen guten Morgen!

    Zurheide: Herr Priddat, man könnte ja sagen, die Märkte reagieren eigentlich viel zu spät, denn dass es in Griechenland Schwierigkeiten mit den Schulden gibt, dass Italien und möglicherweise auch Spanien und Portugal da doch das eine oder andere Problem haben, das wissen wir seit fast zehn Jahren. Da hat man lange gar nicht reagiert und jetzt sehr hektisch, obwohl doch eigentlich in den letzten drei Tagen wenig passiert ist. Also: Wie rational ist das, oder könnte man sagen, da sind hoch neurotische Investoren im Spiel, wie das der Kollege Bofinger von Ihnen sagt?

    Priddat: Ja, da wäre ich vorsichtig, weil … Wissen Sie, das Hauptproblem ist bei Kapitalmärkten, das Geld muss angelegt werden. Es ist hohe Liquidität da, was soll man machen? Man sucht Anlagen, jede Finanzanlage ist riskant. In welchem Maße, kann man eigentlich nicht abschätzen. Und so wechseln die Meinungen hin und her, wo investieren? Und dieses Wechseln der Meinungen ist das Entscheidende, man beobachtet sich wechselseitig, man beobachtet, wer macht was? Und dann können Sie erleben, dass plötzlich alle wie ein Fischschwarm oder wie ein Vogelschwarm auf ein ganz bestimmtes Projekt gehen, auf eine ganz bestimmte Optionenwelt, auf eine ganz bestimmte Derivatenwelt oder jetzt hier bei Ihrem Thema Staatsverschuldung, Bonds, Staatsanleihen.

    Und dann werden plötzlich Bewertungen hochgefahren, wie denn? Weil das Geld muss angelegt werden und die Bewertung geschieht durch Kauf. Dann steigt alles hoch und das eigene Urteil bleibt auf der Strecke. Das heißt, selbst wenn man sozusagen einschätzt, oh Gott, das ist eventuell eine schwierige Welt, ich kann das Risiko nicht wirklich einschätzen, gilt aber: Wenn alle anderen da reingehen, dann gehe ich mit rein, denn da sind ja Gewinne zu machen. Und jetzt kommt das psychologische Moment: Und ich steige rechtzeitig wieder aus! Das heißt, ich will nur Gewinne mitnehmen im Aufsteigen, um dann gewissermaßen, bevor das Risiko, dass alles zusammenbricht, dass die Werte wieder runtergehen, gehe ich raus.

    Und dieser Punkt, dieser tip-in point, dieser Änderungspunkt, diesen Schwellenwert, den verfehlen sie dann alle oder sehr viele. Das heißt, natürlich gehen ein paar Anleger richtig raus, nehmen ordentlich mit auf der Strecke nach oben, während die anderen darauf hängenbleiben. So haben wir innerhalb des Finanzmarkts so eine Art zeitliche Umverteilung. Die Schnellen gewinnen, also die sozusagen rechtzeitig rausgehen, und die, die es nicht schaffen, die bleiben auf der Strecke und müssen entwerten.

    Zurheide: Nur, was Sie uns da gerade schildern, Herr Priddat, heißt doch eigentlich, dass die fundamentalen Daten, die eigentlich die Grundlage für Geldanlage sein sollten, dass die kaum eine Rolle spielen, sondern dass – Sie haben es gesagt und ich spitze es zu –, dass der Herdentrieb praktisch wichtiger wird und jeder nur noch für sich seine Positivposition in diesem Herdentrieb sucht? Das ist offensichtlich Finanzanlagen heute?

    Priddat: Das ist in gewissem Sinne richtig, weil die Lage ist so unübersichtlich, das Ganze ist so komplex, dass niemand mehr endgültig alles beurteilen kann. Und weil aber Geld angelegt werden muss – Millionen- und Milliardenbeträge können ja nicht einfach im Schuhkarton liegen –, geht man auf Gerüchte. Man geht auf Einschätzung, man geht auf Meinung. Das Ganze ist ein großes Kommunikationsspiel: Wo soll ich mein Geld anlegen? Das Zweite ist, das Ganze sind meistens Wetten. Es ist ja nicht mehr so eine vernünftige Anlage wie, ich gebe es in ein Industrieunternehmen, das langfristig wächst und seine Profite entwickelt, und dann will ich damit rein und langfristig was rausholen. Es geht ja immer um relativ kurzfristige Entscheidungen. Und niemand hat das im Blick, die Urteilsfähigkeit ist bei allem Können, bei aller Einschätzung – es sind ja meist kompetente Leute – können sie aber sozusagen die Risiken nicht wirklich einschätzen. Und deswegen orientiert man sich an anderen.

    Das ist gewissermaßen eine Hilflosigkeit in dem Dilemma: Ich will Geld anlegen, ich will das Geld ja arbeiten lassen, ich will es ja nicht einfach rumliegen lassen, und zum Zweiten, ich weiß aber nicht genau, wo. Und deswegen wird in dem Moment, wo ein neues Signal kommt, eine neue Nachricht – manchmal ist es ja nur ein Gerücht –, gehen Millionen und Abermillionen und manchmal Milliarden auf eine andere Seite.

    Zurheide: Kommen wir mal zu den Selbstverstärkungseffekten, die es dann natürlich auch gibt, jetzt zunächst mal bei den Staatsschulden. Also, die Zinsen eines Landes steigen, weil man Probleme bekommt und weil die Bonität möglicherweise sinkt, die Investoren ziehen sich zurück, das Land muss wie in Griechenland dann noch höhere Zinsen zahlen, dann kommen die Rating-Agenturen, die wirken dann als Brandbeschleuniger. Das sind Selbstverstärkungseffekte eines Systems, von dem Sie gerade sagen: Sehr rational ist es nicht.

    Priddat: Ja, natürlich. Aber es beruht ja darauf, dass alle erwarten, Griechenland ist ja Mitglied der EU, dass die EU finanziert. Wenn klar gewesen wäre – und das wäre ja nur der Fall gewesen, wenn Griechenland nicht in der EU wäre –, dann wäre das alles vorher schon geklärt und geregelt worden. Dann würde man ja gar nicht da reingehen. Es ist das Gleiche, was wir 2008, 2009 erlebt haben: Die Banken werden vom Staat gerettet. Sie sind zu groß, um zu fallen. Und dieses Moment hat man auch – und anscheinend ja auch zu Recht, weil die Europäische Union ja so reagiert hat –, darauf hat man gewettet. Man wettet darauf, letzthin auf die Politik.

    Wir haben eine viel engere Kopplung zwischen Wirtschaft und Politik, und die Anleger – also, der Kapitalmarkt im weitesten Sinne – bewertet die Politik. Das ist das Neue. Das sehen wir ja auch gerade bei der Abwertung der amerikanischen Staatsanleihen, hier wird Politik bewertet. Und das ist ein neues Phänomen jeweils da, wo Staatsanleihen eine Rolle spielen, der Rest läuft ja sozusagen weniger über die Politik, dass wir nicht, dass die Politik in gewissem Sinne mit in diesem Zyklus drinsteckt, in diesem selbstreferenziellen Zyklus. Sie wird bewertet, wie wird sie handeln; oder auch: wie wird sie zukünftig handeln, was traut man ihr zu? Und das Zweite ist, die Politik aber ist ja nicht mehr unabhängig, gerade bei Staatsanleihen. Wenn sie erhöhen will, muss sie gewissermaßen ja bei den Banken leihen. Und das bringt sie in die Zwickmühle, im Grunde das ganze Bankensystem zu tragen, letzthin zu schützen, damit ihre eigene Verschuldungspolitik überhaupt noch sozusagen was kaufen kann.

    Das Grundproblem in diesem Sektor – also jetzt in diesem Sektor der Staatsanleihen – liegt daran, dass wir Staaten uns angewöhnt haben, letzthin nur über Verschuldung zu arbeiten. In Deutschland haben wir gewissermaßen seit 1991 mehr Ausgaben als Einnahmen und die Politik, die vier Jahre arbeitet, sagt, nach mir die Sintflut, ich gebe jetzt aus, damit meine Wähler zufriedengestellt werden, und dann gucken wir mal, die Nächsten sollen das Problem lösen. Wir haben hier ein völlig neues Problem der riesengroßen Verschuldung der Staaten und niemand weiß wirklich, wie das zu beseitigen ist. Und darauf reagieren die Märkte immer unsicherer.

    Zurheide: Und Sie haben gesagt, das Vertrauen in die Politik ist eben deutlich kleiner geworden. Ich will noch mal einen anderen Punkt ansprechen: die Größe der Finanzwirtschaft. Wir wissen in London, ein Drittel der wirtschaftlichen Leistungen in London haben mit Finanzwirtschaft zu tun und jeder vernünftige Ökonom sagt doch, das ist eine Größe der Finanzwirtschaft, die völlig irrational ist und die auch am Ende keinen wirklichen Wohlstand mehr schaffen kann, oder? Gibt es da so was wie eine optimale Größe?

    Priddat: Da würde ich sagen, das hängt ab vom Modell und da streiten die Kollegen erheblich. Niemand hat sozusagen eine eindeutige Einschätzung und Sie kennen ja den alten Witz: Wenn fünf Ökonomen beraten, dann gibt es sieben Meinungen. In dem Zustand befinden wir uns teilweise jetzt. Die Realwirtschaft – also dort, wo ja eigentlich Werte geschaffen werden, wo Produkte geschaffen werden – braucht Geld. Und dieses Geld selber muss sie sozusagen ja von außen holen, also per Kredit, Bank oder über Aktien von anderen Anlegern …

    Zurheide: … so sollte es sein …

    Priddat: … und diese Balance ist verrutscht. Das heißt, wir haben natürlich viel höhere Profiterwartungen am Kapitalmarkt, als dass man mit sechs Prozent oder sieben Prozent, was man so in einem normalen Unternehmen kriegen könnte, als Beispiel. Und da ist sozusagen eine große Verschiebung gelaufen. Und das Zweite ist, diese Verschiebung läuft als ein Wettspiel. Vieles, was dort gehandelt wird, sind ja Derivate, Optionen, Futures und andere, das heißt, das sind im Grunde Wetten auf zukünftige Bewertungen, die jetzt aber schon ausgezahlt werden. Das heißt, Sie sehen, wir haben sozusagen einen Vergegenwärtigungszyklus. Das Geld, was später gemacht werden wird, wird jetzt schon geholt. Und in diesem Zusammenhang ist der Kapitalmarkt natürlich viel, viel interessanter als die sogenannte Realproduktion, und dieser ganze Zirkus geht auf Kosten der Nichtinvestition in den Realmarkt. Und da ist etwas so auseinandergerutscht, von dem wir nicht mehr wirklich wissen, ob wir das einfangen können.

    Zurheide: Und am Ende wird es irgendeiner bezahlen, meistens ist es dann der Steuerzahler …

    Priddat: … so ist es …

    Zurheide: … das ist dann das nächste Thema, da könnten wir dann in einem anderen Interview noch mal drüber reden. Ich bedanke mich bei Ihnen, Herr Priddat, für dieses Gespräch, danke schön!

    Priddat: Aber gerne!

    Zurheide: Das war Birger Priddat, der Inhaber des Lehrstuhles für politische Ökonomie an der Universität Witten-Herdecke.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.