Im Prothesengeschäft ist Össur der Big Player, ein global operierendes Unternehmen. Die Zentrale an einer Ausfallstraße von Reykjavík, nicht weit vom Hafen, wirkt nach außen eher zurückgenommen und ist in die Breite gebaut. Lediglich das Portaleingangsgebäude hebt sich mit seinen vier Stockwerken und einer hohen Glasfront heraus. "Life without limitations" ist immer wieder als Schriftzug zu lesen – "Leben ohne Einschränkungen".
Össur selbst ist ein Inklusionsunternehmen, beschäftigt überdurchschnittlich viele Mitarbeiter, die selbst von körperlichen Einschränkungen betroffen sind. Ohne dass es groß auffällt.
Cheetah ist eines der Premiumprodukte – übersetzt: Gepard. So heißt die Prothese, mit der Weitspringer Markus Rehm Höchstleistungen erzielt. Mit der er vor zwei Jahren sogar Deutscher Meister wurde und weiter sprang als die nicht behinderte Konkurrenz. Ähnlich wie zuvor auch schon der südafrikanische Läufer Oskar Pistorius, als er noch mit seinen sportlichen Leistungen Schlagzeilen machte.
Doch schwingt dabei immer die Frage mit, ob die Ergebnisse vergleichbar sind, da unklar ist, ob die Prothese einen Vorteil verschafft. Die Karbonkonstruktion, ungefähr geformt wie ein "J" mit einer Delle.
"Das ist der Cheetah-Extrem-Fuß. Eine einfache Kohlefaserstoff-Schiene, die die meisten paralympischen Athleten nutzen", erklärt Christophe Lecomte, der französische Chefentwickler der Abteilung Fußprothesen bei Össur. Auf den ersten Blick sieht die Prothese simpel aus: Karbon, gepresst, hocherhitzt, in Form gebracht, mit einer Hochdruckmaschine sauber geschnitten.
Bis ins letzte Detail optimiert
Bei genauem Hinschauen und Anfassen wird die aufwendige Herstellung und jahrelange Forschungsleistung, die in diesem Gerät steckt, erst so richtig anschaulich. Material, Form und Stärke sind für den sportlichen Einsatz bis ins letzte Detail optimiert. Die Prothese für Sprinter ist stärker und schwerer als die Version für Läufer, die Strecken zwischen 400 und 5.000 Meter laufen. Und sie hat auch einen längeren Vorfuß zum kraftvolleren Abstoßen, erläutert Chefentwickler Lecomte:
"Wir haben festgestellt, dass wir verschiedene Füße für verschiedene Athleten und Leichtathletikdisziplinen entwickeln mussten. Die Ansprüche bei 100 Meter sind nicht die gleichen wie für 400 Meter, wo die Athleten in die Kurven laufen und eine längere Strecke absolvieren."
Eine Geschichte persönlicher Betroffenheit
High-Tech-Konstruktionen für den Spitzensport, entwickelt an einem Ort, an dem es nur ein großes Stadion gibt und gerade mal eine Handvoll Paralympics-Teilnehmer.
Es ist die Geschichte von persönlicher Betroffenheit, die dahinter steckt. Unternehmensgründer Össur Kristínsson wurde 1943 mit einem 15 Zentimeter kürzeren Bein geboren und wollte sich schon als Junge nicht mit den einfachen Holzprothesen abfinden, die es ihm schwer machten, so wie seine Altersgenossen in der isländischen Natur wandern zu können. Also wurde er Prothesenbauer und entwickelte als weltweit Erster die Silikon-Verbindung zwischen Körper und Prothese, was ihm in den Achtziger Jahren den internationalen Durchbruch brachte - und heute zum globalen Player im Prothesengeschäft.
"Das ist der Bioniksbereich. Hier wird zum Beispiel das erste komplett integrierte Prothesenbein mit mikroprozessorgesteuerten Kniegelenksystem zusammengebaut", erläutert Eydís Sigurðardóttir aus der Kommunikationsabteilung.
Heute macht Össur einen Umsatz von rund 500 Millionen US-Dollar, beschäftigt 2.500 Mitarbeiter in 18 Ländern. Gewachsen ist das Unternehmen in den letzten Jahren vor allem auch durch Zukäufe. Am Unternehmenssitz in Reykjavík arbeiten rund 500, die meisten in der Produktion, Tür an Tür mit den Entwicklern.
"Hier unten ist die Entwicklungsabteilung und der Testbereich."
Rundgang mit Eydís Sigurðardóttir. Längs eine Tartanbahn, seitlich ein Laufband, in der Mitte eine Testrampe und –stufen, dazu Hochfrequenzkameras, Messinstrumente. Weiter hinten stehen Sideboards und Konstrukteurs-Schreibtische, auf der anderen Seite längs: gläserne Konferenzräume. Hier in der Herzkammer der Prothesenforschung wirkt es, als ginge es um Sportartikel. Dabei sind die Sportprothesen das Aushängeschild, weitaus mehr verkauft werden Prothesen für den Alltag.
Gleich nebenan ist der Raum für Materialtests. Hier werden die verschiedenen Modelle über mehrere Tage und Wochen auf ihre Langlebigkeit geprüft, Millionen Schritte durch ständige Bewegung simuliert. Darunter auch eine Fußprothese für Schuhe mit hohen Absätzen. Eydís Sigurðardóttir erklärt die spezielle Prothese für Frauen, die höhere Absätze lieben:
"Die kann so eingestellt werden, dass sie für Absätze bis sechs Zentimeter Höhe getragen werden kann. Aber genauso auch für normale Schuhe. Eine Kollegin aus der Marketingabteilung trägt sie. Sie zieht gerne hohe Schuhe an und hatte bis dahin keine Möglichkeit dazu."
Wenn Technik und Körper verschmelzen
Am Leben teilhaben, als gäbe es gar keine Behinderung, Technik und Körper verschmelzen. Zwei bis drei große Neuheiten bringt Össur im Jahr heraus. Neben Prothesen sind das auch Orthesen.
Seit diesem Jahr forscht das Unternehmen zudem gemeinsam mit dem niedersächsischen Konkurrenten Otto Bock auch an nervengesteuerten Prothesen. Beide Unternehmen nennen es ein historisches Projekt, der Traum, dass Menschen, die ein Körperteil verloren haben oder denen es von Geburt an fehlte, den technischen Ersatz allein durch Gedanken steuern können.