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Hilde Mattheis zur Lage der SPD
"Wir dürfen unsere Glaubwürdigkeit nicht verlieren"

Die SPD lasse sich in der Großen Koalition immer wieder nötigen, Dinge gegen die eigene Position zu tun, sagte die linke SPD-Politikerin Hilde Mattheis im Dlf. Ihrer Meinung nach müsse man irgendwann einen Schnitt machen, um nicht ganz unterzugehen.

Hilde Mattheis im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann |
    Die SPD-Politikerin Hilde Mattheis.
    Hilde Mattheis (SPD), Vorsitzende des Forums Demokratische Linke stellt die Große Koalition infrage (imago)
    Dirk-Oliver Heckmann: Über die schlechten Umfrageergebnisse für CDU/CSU und für die SPD in Bayern haben wir vor den Sieben-Uhr-Nachrichten hier im Deutschlandfunk ausführlich gesprochen. Zwei Tage vor der wichtigen Landtagswahl in Bayern fällt Andrea Nahles, der SPD-Partei- und Fraktionsvorsitzenden ein, der Wochenzeitung "Die Zeit" ein Interview zu geben. Die Botschaft darin: Die SPD werde aus dem gedanklichen Gefängnis der Agenda-Politik sich befreien und die SPD werde mit einigen Sachen aufräumen, die uns heute noch blockieren. Sie warnte außerdem davor, dass die Große Koalition zerbrechen könnte, wenn die Streitereien innerhalb der Union so weitergehen, und sie rief die Parteilinke innerhalb der SPD dazu auf, sich stärker einzubringen. - Am Telefon begrüße ich dazu jetzt Hilde Mattheis, Vorsitzende des Forums Demokratische Linke. Guten Morgen, Frau Mattheis!
    Hilde Mattheis: Guten Morgen!
    Heckmann: Fühlen Sie sich angesprochen?
    Mattheis: Na ja, einbringen tun wir uns immer. Ob das gewollt ist oder nicht, ist eine andere Frage. Wenn wir jetzt gehört werden, ist das super, finde ich.
    Heckmann: Sie haben den Eindruck, dass Sie nicht gerne gehört werden von der Parteispitze?
    Mattheis: Ich meine, in der Vergangenheit war es ja nicht an der einen oder anderen Stelle so, dass die Impulse der "DL 21" so groß gewünscht waren. Wir sind immer bereit, uns einzubringen. So sehen wir unsere Aufgabe und unseren Auftrag. Das machen wir jetzt auch übrigens im Erneuerungsprozess, der ja eigentlich hoffentlich demnächst wieder mehr an Fahrt aufnimmt. Und wenn das dazu führt, dass unsere Positionen zum Beispiel zu Hartz IV oder zu anderen sozialpolitischen Themen stärker in der Partei gehört werden und da auch eine Mehrheit finden, fände ich das super.
    Heckmann: Frau Mattheis, vor wenigen Wochen haben wir schon live miteinander telefoniert hier im Deutschlandfunk. Da haben Sie uns gesagt, es geht mittlerweile um die Existenz der SPD. Wir stehen nicht nur am Abgrund, wir stehen schon darüber hinaus. So haben Sie es wörtlich formuliert.
    Mattheis: Ja.
    "Ich möchte eine starke SPD"
    Heckmann: Da hat das Institut Allensbach die SPD noch gesehen bei 19,5 Prozent. Jetzt sieht der ARD-Deutschlandtrend die SPD in Bayern bei zehn Prozent, die Forschungsgruppe Wahlen bei zwölf. Fühlen Sie sich bestätigt mit Ihrer Analyse?
    Mattheis: Ich möchte eigentlich gar nicht recht haben. Das möchte ich wirklich nicht. Ich möchte eine starke SPD. Aber ich möchte auch, dass das, was zum Beispiel auch im Willy-Brandt-Haus ja aus dem Willy-Brandt-Haus geliefert wurde, die Analyse aus Fehlern lernen, wirklich auch umgesetzt wird. Wir sehen ja jetzt gerade in diesen Umfragewerten eigentlich den Beleg dafür, dass es ganz, ganz schwierig ist, Glaubwürdigkeit wieder zurückzugewinnen, und die Kraftanstrengung aller braucht und vereinte Anstrengung aller braucht. Da braucht es nicht nur ein Interview in der "Zeit", sondern da braucht es einfach auch eine klare Botschaft: Was heißt denn das, aus dem Gefängnis befreien? Breche ich aus oder sage ich, zurecht muss ich Fehler eingestehen? Dann bedeutet das, wie gehe ich vor mit diesen ganzen Agenda-Punkten, was mache ich da anders. Natürlich wollen wir miteinander eine Vision erarbeiten: Was heißt denn das, Sozialpolitik 2025. Da brauche ich eine konkrete Unterlegung.
    Heckmann: Hat Andrea Nahles da genaue Vorstellungen, Frau Mattheis? Haben Sie den Eindruck?
    Mattheis: Ich habe den Eindruck, oder ich weiß, dass die "DL 21" klare Vorstellungen hat.
    Heckmann: Das heißt im Umkehrschluss, Andrea Nahles hat es nicht?
    Mattheis: Ich weiß es nicht, weil wir natürlich davon leben, dass wir in diesem Erneuerungsprozess auch miteinander diskutieren.
    "Was meint Andrea Nahles mit Befreiuung?"
    Heckmann: Aber Sie sind doch in einer Partei, Frau Mattheis. Sie reden doch mit Andrea Nahles. Sie müssen doch wissen, was sie für Vorstellungen hat, oder?
    Mattheis: Ja klar! Natürlich reden wir miteinander. Ich möchte aber eine klare Aussage haben, was meint sie damit. Das möchte ich schon. Ich möchte wissen, was meint sie mit dieser Befreiung. Will sie einfach einen Schlussstrich machen, wir reden nicht mehr darüber, oder will sie im Prinzip Fehler korrigieren. Das möchte ich gerne wissen.
    Heckmann: Warum wissen Sie das nicht? Weil es Andrea Nahles selber nicht weiß?
    Mattheis: Weil ich außer diesem Interview noch nichts weiß.
    Heckmann: Und Andrea Nahles, haben Sie den Eindruck, weiß was sie will? Oder überlegt sie, in welche Richtung es weitergehen soll?
    Mattheis: Ich habe schon den Eindruck, dass an der Parteispitze auch klar geworden ist, dass man so nicht weitermachen kann, und dass klar geworden ist, dass in der Großen Koalition es richtig, richtig schwer ist, diesen Spagat hinzubekommen, auf der einen Seite die Partei neu aufzustellen, aber auf der anderen Seite Dinge mitzubeschließen, die in der Öffentlichkeit nicht als Sozialdemokratie pur wahrgenommen werden können. Das, glaube ich, ist angekommen. Ob man jetzt die Lösung hat und den Weg miteinander beschreiten kann, das weiß ich nicht.
    Heckmann: Ich möchte noch mal auf den Zeitpunkt dieses Interviews in der "Zeit" zurückkommen. Sie haben es gerade auch schon mal angesprochen. Zwei Tage vor der Wahl, da fällt Andrea Nahles ein, dass man sich von dem Mühlstein der Agenda-Politik befreien möchte.
    Mattheis: Steht da Mühlstein drin?
    "Da muss man als Parteivorsitzende reagieren"
    Heckmann: Nein, das ist jetzt paraphrasiert. Das ist kein direktes Zitat, aber die Aussage ist ja die gleiche. – Was ist das anderes als Panik, wenn man zwei Tage, drei Tage vor der Landtagswahl in Bayern auf diese Idee kommt?
    Mattheis: Ich bitte Sie! Zehn Prozent sind nun wirklich nicht der Punkt, wo man richtig ruhig schlafen kann, sondern zehn Prozent bedeutet: Hallo, wir sind knapp vor der Einstelligkeit, uns wird das Schicksal ereilen wie das Schicksal der PS in Frankreich. Da muss man natürlich als Parteivorsitzende ein Stück weit reagieren. Ob das jetzt die einzige Reaktion ist, das hoffe ich nicht, sondern da muss eigentlich ein Stück weit nachgelegt werden. Ich hätte mir gewünscht, dass jetzt im Prinzip auch diese Botschaft untermauert wäre. Vielleicht kommt das ja jetzt noch.
    "Die Leute sitzen im Hartz-IV-Gefängnis"
    Heckmann: Was genau muss da kommen, Frau Mattheis?
    Mattheis: Ja, es muss kommen: Was machen wir mit diesen Agenda-Punkten? Denn die Leute sitzen im Hartz-IV-Gefängnis. Die Leute sitzen in der Situation prekärer Beschäftigung. Die Leute sitzen in einer Gesellschaft, wo sie den Eindruck haben, ich kann nicht richtig teilhaben. Die Leute sitzen doch in ihrer Lebenssituation und haben den Eindruck, ihre Kinder haben keine Perspektive. Sie haben doch Wohnungsnot.
    Heckmann: Was muss kommen?
    Mattheis: Ja, ein Zehn-Punkte-Plan, ein Zwölf-Punkte-Plan. Dahin will die SPD und wir müssen das miteinander ausformulieren. Wir haben doch angefangen mit dem Thema Wohnungspolitik. Da war jetzt der Wohnungsgipfel in der Großen Koalition nicht unbedingt die reine Lehre der SPD. Aber da muss man nachlegen und sagen: Hallo, wir können in der Großen Koalition nicht unsere reine Politik verfolgen, aber wir wollen in einer anderen Regierung dieses und jenes umsetzen. Und diese Perspektive andere Regierung, das ist das Wichtige.
    Heckmann: Das heißt, Sie gehen auch nicht davon aus, dass man mit der Union Hartz IV beseitigen kann?
    Mattheis: Das lehrt jetzt meine bescheidene politische Erfahrung, dass das offensichtlich nicht möglich ist.
    "Die SPD muss eine andere Perspektive aufzeigen"
    Heckmann: Das heißt, die SPD muss raus aus der Koalition?
    Mattheis: Die SPD muss eine andere Perspektive aufzeigen und klarmachen, und deshalb ist es wichtig, dass wir Linken auch sagen, in einer linksprogressiven Regierung können wir das umsetzen. Das muss unser Ziel sein.
    Heckmann: Teilen Sie den Eindruck vieler Beobachter, die sagen, dass die SPD am Ende immer alles mitmacht, um an der Macht zu bleiben? Jüngstes Beispiel: die Reduktion von CO2 bei Neuwagen. Die Union wollte da eine Reduktion von 30 Prozent; die SPD wollte eigentlich wesentlich mehr, auch angesichts der Klimakatastrophe. Dann geht Umweltministerin Svenja Schulze von der SPD in die Verhandlungen rein mit 30 Prozent. Der ehemalige Agrarminister Schmidt von der CSU, der hat das damals anders gemacht bei Glyphosat. Der hat da einfach zugestimmt, obwohl es einen gegenteiligen Kabinettsbeschluss gab, und die SPD hat sich das gefallen lassen.
    Mattheis: Das ist wirklich immer eine schwierige Außendarstellung, wenn man erst vollmundig startet und sagt, wir gehen jetzt drei Schritte vor, und man geht mindestens anderthalb Schritte wieder zurück, oder geht sogar vier Schritte zurück. Das ist eine Außendarstellung, die natürlich und nicht unbedingt unsere glaubwürdige Politik unterstreicht. Das ist sehr schwierig.
    In einer Großen Koalition muss man umso klarer auch eine Position halten, die man hat, oder auch Vereinbarungen halten, die man hat. Ich will jetzt hier nicht an diesem konkreten Beispiel herummachen, aber es sind ja viele Punkte, die uns in den letzten Monaten beschäftigt haben.
    "In einer Großen Koalition werden wir als SPD genötigt"
    Heckmann: Betrifft das jetzt auch den Soli? Wirtschaftsminister Altmaier möchte den jetzt abschaffen, und zwar für alle.
    Mattheis: Es ist nicht nur das Thema Dieselskandal; es ist das Thema Soli. Es sind andere Themen, wo klar geworden ist, in einer Großen Koalition werden wir als SPD auch immer wieder genötigt oder lassen uns nötigen, so will ich es formulieren, außerhalb des Vereinbarten im Koalitionsvertrag Dinge zu tun, wo wir unsere Position nicht halten können und nicht sichtbar sind. Das ist das große Problem.
    Heckmann: Um noch mal auf den Soli zurückzukommen. Wirtschaftsminister Altmaier will den abschaffen. Im Koalitionsvertrag ist bisher nur festgelegt, dass er für 90 Prozent der Deutschen abgeschafft wird, für Besserverdienende und Unternehmer nicht. Finanzminister Olaf Scholz hat das bereits abgelehnt. Muss er auf Gedeih und Verderb dabei bleiben?
    Mattheis: Es wäre sehr schwierig, wenn er an der Stelle eine Verteilungsfrage so beantworten würde, wie es ein CDU-Minister gerne machen würde. Das wäre sehr schwierig.
    Heckmann: Nur schwierig?
    Mattheis: Nein, es wäre nicht nur schwierig. Ich habe versucht, dieses Wort zu benutzen, um nicht das Wort fatal benutzen zu müssen.
    Heckmann: Das heißt, die SPD muss an dieser Stelle stehen?
    Mattheis: Wir haben viele Verteilungsfragen, die gelöst werden müssen. Das ist nicht die einzige. Wir haben ganz große Verteilungsfragen. Wir wissen, dass die Schere in unserer Gesellschaft so auseinandergeht, dass auch die Bevölkerung sagt, so kann es nicht weitergehen. Wenn man jetzt an dieser Frage diese klare Antwort nicht gibt, wäre das wirklich fatal, meine ich.
    "Irgendwann mal einen Schnitt machen"
    Heckmann: Sie waren immer gegen die Große Koalition, Frau Mattheis. Daraus haben Sie nie einen Hehl gemacht. Wie ist Ihre Einschätzung nach der Wahl in Bayern und in Hessen? Ist eine Fortsetzung der Großen Koalition überhaupt möglich?
    Mattheis: Ich glaube, das dürften Sie mich eigentlich fast nicht fragen, weil wenn man sich bestätigt fühlt, dass die Argumente, die man vorgebracht hat, im Prinzip eintreffen, klingt das eher wie Rechthaberei, wenn man sagt, ja. Das ist wirklich eine schwierige Frage, die Sie mir da stellen. Ich glaube, dass meine SPD, wir uns alle klarmachen müssen, dass im Prinzip wir in den nächsten zwei Jahren so ein dünnes Eis, auf dem wir uns bewegen, nicht noch zum Einbrechen und Einstürzen bringen dürfen. Damit sage ich nicht, wir dürfen nicht raus aus der Großen Koalition, sondern damit sage ich, dass wir unsere Glaubwürdigkeit nicht weiter verlieren dürfen. Damit glaube ich auch, dass wir an einem Punkt, an mehreren Punkten fragen müssen, ist diese Große Koalition für uns eigentlich noch die richtige Regierungskonstellation. Ich sage das nur an dem Thema Flüchtlinge und Asyl. Es könnte auch ein Thema von Frieden sein, das uns noch mal beschäftigen wird. Es ist das ganze große Thema der Sozialpolitik, das uns beschäftigen wird. Ich habe den Eindruck, wenn wir weiter unser Koordinatensystem nach rechts verschieben, ist das so wie in anderen europäischen Ländern, dass wir nicht mehr sichtbar sind, und dann wird wirklich die Frage eine zentrale Existenzfrage, gehen wir raus oder bleiben wir. Ich persönlich bin der Auffassung, dass man irgendwann mal einen Schnitt machen muss, um nicht ganz unterzugehen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.