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Hilfe, blaue Briefe!

Bismarck, Churchill und Einstein drehten eine "Ehrenrunde", und auch Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn musste eine Klasse wiederholen. Genau 281.471 Schüler in Deutschland teilten im Schuljahr 2000/2001 dieses Schicksal. Etwa 200.000 weiteren wurde ein Schulwechsel - nach unten - oder gar der Abgang von der Schule nahegelegt. Die meisten Schüler bleiben in Bremen und in Bayern sitzen - 4,63 bzw. 3,75 Prozent der Gesamtzahl: ein Zusammenhang mit den Leistungen der Schüler lässt sich daraus schwer ableiten, wenn man anerkennt, dass Bayern im deutschen Bildungsranking an der Spitze, Bremen hinten liegt. Nach Berechnungen des Bildungsforschers Klaus Klemm kostet eine einjährige Schulzeitverlängerung 16.500 Lehrerstellen - Personalausgaben von 850 Millionen Euro.

Moderation: Jürgen Wiebicke |
    Nur die wenigsten Betroffenen werden sich mit dem Verweis auf die Prominenz trösten, die es ja am Ende auch noch zu etwas gebracht hat. Die allermeisten empfinden die Versetzungsgefährdung, die in einigen Bundesländern sechs Wochen vor Schuljahresende in "blauen Briefe" an die Eltern signalisiert wird, als persönliche Niederlage. Denn die Vorstellung, dass Schulversagen und Lernschwäche gewissermaßen angeborene, irreparable Defekte seien, sitzt tief. Natürlich wissen viele Mütter und Väter von ihren Sprösslingen, dass sie "nur" ein bisschen faul sind und sich bei entsprechender Anstrengung schon berappeln werden - und insofern empfinden viele den "Blauen Brief" als letztes Achtungszeichen. Auch eine "Ehrenrunde" hilft einigen vielleicht, sich zu besinnen. Vielen anderen verleiden in Noten festgehaltener Leistungsdruck und Versetzungspanik die Freude am Lernen fürs Leben...

    Inzwischen mehren sich Forderungen - vor allem von Erziehungswissenschaftlern, die sich in reformpädagogischer Tradition sehen und von Vertretern der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft - das Sitzenbleiben abzuschaffen: Nicht das Kind müsse sich auf die Schule einstellen, sondern die Schule auf das Kind. Zitiert werden Fördermodelle für langsam lernende Kinder ebenso wie Fordermodelle für besonders Begabte (auch die bleiben sitzen, weil sich vor Langeweile den Anschluss verpassen...) aus den PISA-Siegerländern. In vielen deutschen Gesamtschule gibt es ohnehin keine Versetzungsgefährdung - was allerdings den meisten nicht als Argument für das Gesamtschulmodell gilt. Denn: obwohl nicht wenige selbst unter Leistungsdruck in der Schule gelitten haben, sprachen sich in einer repräsentativen Umfrage des Forsa-Instituts nur 16 Prozent der Bundesbürger dafür aus, Schüler trotz schlechter Noten zu versetzen.

    Gesprächspartner:

    Albert Obert, Vorsitzender des Realschullehrer-Verbandes im Deutschen Lehrerverband und Rektor der Realschule Vöhringen

    Ulrich König, Schulpsychologe an der Erich-Fried-Gesamtschule Wuppertal-Ronsdorf

    Literatur zum Thema:

    Einsiedler, W./ Glumpler, E. (1989): Analysen zur Entwicklung des Sitzenbleibens (unter besonderer Berücksichtigung der Grundschule). In: Die Deutsche Schule, 81. Jg., H. 2, 248-259.

    Kemmler, L. (1976): Schulerfolg und Schulversagen. Hogrefe: Göttingen.

    Kern, A. (1963): Sitzenbleiberelend und Schulreife. Herder: Freiburg (3. Aufl.).

    Roeder, P. M./ Schümer, G. (1987): Hauptschullehrer urteilen über das Sitzenbleiben. In: Westermanns Pädagogische Beiträge, 39. Jg., H. 4, 20-25.

    Stark, W. (1974): Die Sitzenbleiber-Katastrophe. Klett: Stuttgart.

    Weegen, M. (1987): 250 000 im Jahr, Sitzenbleiben im Spiegel der Statistik. Westermanns Pädagogische Beiträge, 39. Jg., H. 4, 16-19.

    Weegen, M. (1987b): Statistisches Material zum Sitzenbleiben. In: Westermanns Pädagogische Beiträge, 39. Jg., H. 5, 46-47.

    Links zum Thema:

    Appell gegen das Sitzenbleiben

    Leserbriefe bei Spiegel-Online

    http://www.taz.de/pt/2002/10/30/a0127.nf/text

    http://www.uni-siegen.de/~agprim/brue-sitzenbleiben.htm

    http://www.spiegel.de/unispiegel/studium/0,1518,181217,00.html

    http://www.kssa.de/page50.html

    http://www.gew-unterfranken.de/azubi/azubi054.pdf (pdf-Datei)

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    Die nächste Sendung: Musik macht schlau! Moderation: Jürgen Wiebicke

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