Die 15-jährige Jale liegt in einer kleinen Turnhalle in Kölns Uni-Viertel auf einer blauen Gymnastikmatte und macht Situps. Eine Trainerin zählt mit. "Noch zehn Sekunden, komm, zieh durch!" Jale schafft es, 40 Sekunden durchzuziehen.
Sie trainiert hier mit vier anderen Jugendlichen – im Rahmen eines speziellen Reha-Programms für stark übergewichtige Kinder und Jugendliche. "Unser erstes Ziel war erstmal, das Gewicht zu halten. Und man lernt auch, wie man sich zum Beispiel ernähren kann", erzählt die Schülerin.
Yeter, 17 Jahre alt, nickt zustimmend: "Nachdem ich hier war, wurde mir klar, dass es mein Ziel ist, gesünder zu leben, Sport zu machen, aktiver im Leben zu sein."
Umfeld mit Rückfallgefahr
Sechs Monate lang kommen die Kinder und Jugendlichen nachmittags nach der Schule in die Uniklinik – in Intensivwochen jeden Tag, ansonsten einmal die Woche. Betreut werden sie von Ernährungswissenschaftlern, Psychologen, Kinderärztinnen und Sportwissenschaftlerinnen wie Natalie Stertz: "Zusätzlich gibt es auch noch einen Hausbesuch. Wir machen zusammen einen Trainingsplan und ich überlege mit den Kindern und Jugendlichen: Was macht ihnen Spaß, was können sie sich vorstellen, längerfristig weiterhin auch zu machen."
Insbesondere wenn es um die längerfristige Perspektive geht, sieht das Reha-Team allerdings gesellschaftliche Hürden. Psychologin Astrid Schirmer-Petri: "Da können wir ganz viel Reha machen, aber wir entlassen die in ein Umfeld, das eine ganz große Rückfallgefahr birgt."
Gut 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland sind laut Robert-Koch-Institut übergewichtig, knapp die Hälfte davon adipös, also extrem übergewichtig. Die zusätzlichen Kilos belasten die jungen Körper: Bluthochdruck, Hüft- und Knieschmerzen, Diabetes sind nicht selten. Gründe genug, frühzeitig gegenzusteuern.
Grundnahrungsmittel oder Süßigkeit
Stattdessen aber würden Kinder allein gelassen, sagt Renate Künast, ernährungspolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion. "Alleingelassen in einem Umfeld, in dem es immer mehr hoch verarbeitete Lebensmittel gibt, zu viel Salz, zu viel Fett, zu viel Zucker."
In Supermärkten, Schul-Kiosken und natürlich in vielen Küchen stehen sie – die süßen Puddings, Riegel, Snacks, Fertiggerichte und Limos. "Wir brauchen eine Nährwertkennzeichnung, damit wir wirklich sehr klar mit dem ersten Blick darauf sehen: Ist etwas rot, gelb oder grün, also Grundnahrungsmittel oder Süßigkeit", so Künast.
Solch eine Kennzeichnung soll es nun bald geben – den Nutri-Score: ein waagerechter Balken mit fünf Kästchen. Ganz links das grüne A, das ausgewogene Lebensmittel kennzeichnet. Ganz rechts das rote E, das heißt: Hier sind viel Fett, Salz oder Zucker und wenige Nährstoffe drin.
Bundesernährungsministerin Julia Klöckner, CDU, plant die Einführung des Nutri-Scores noch in diesem Jahr - allerdings freiwillig, nicht verpflichtend. Das kritisieren viele Ernährungsexpertinnen und -experten. Luise Mölling von der Verbraucherschutzorganisation foodwatch: "Leider ist hierzulande der Einfluss der Lebensmittellobby nach wie vor sehr groß."
Zuckersteuer und Kindermarketing
Um Übergewicht zu verhindern, hat unter anderem die Weltgesundheitsorganisation drei Maßnahmen identifiziert, sagt Mölling. Neben der verpflichtenden Nährwert-Kennzeichnung "eine gesetzliche Beschränkung des Kindermarketings, dass nur noch solche Produkte an Kinder beworben werden, die auch ausgewogen und für Kinder geeignet sind und das ist drittens eine Limo-Steuer."
Eine solche sogenannte Zuckersteuer auf Softgetränke gibt es unter anderem in Großbritannien. Dort hat die Steuer dazu geführt, dass weniger Limo, und dafür mehr Wasser verkauft wird.
Eine Sprecherin des Bundesernährungsministeriums weist allerdings darauf hin, dass stattdessen der Gesamtzuckerabsatz in anderen Bereichen leicht gestiegen sei. Ministerin Julia Klöckner setze deshalb auf die 2018 geschlossene Grundsatzvereinbarung mit der Lebensmittelindustrie, nach der Zucker-, Fett- und Salzgehalte in Fertigprodukten insgesamt reduziert werden sollen. Allerdings ist auch diese Vereinbarung freiwillig.
Beim Thema Übergewicht spielt aber nicht nur die Ernährung eine Rolle – auch mangelnde Bewegung. Sport ist deshalb ein wichtiger Bestandteil des Kölner Reha-Programms.
Eine Stunde Bewegung pro Tag
Trainerin Natalie Stertz ist immer wieder erstaunt, mit viel Motivation die Kinder und Jugendlichen mitmachen. "Das stelle ich auch durch die Bank fest, dass die alle Lust haben und Spaß haben, sich zu bewegen, wenn man ihnen die Möglichkeit gibt, frei zu experimentieren und nicht so viel Wert legt auf Leistung."
Leider gebe es bei Vereinen häufig nur leistungsorientierte Mannschaften oder Trainings. Wer nicht mehr mithalten könne, sei raus. "Und dann kommt ganz oft so eine Phase, wo man in eine Bewegungsarmut rein verfällt."
Der Sport-Professor Alexander Woll vom Karlsruhe Institut für Technologie kann dieses Problem mit Zahlen unterlegen. In einer deutschlandweiten Studie "konnten wir feststellen, dass fast 80 Prozent der Kinder und Jugendlichen die Bewegungsempfehlungen, das heißt eine Stunde Bewegung pro Tag mit mindestens mittlerer Intensität, nicht erreicht."
Allerdings liege das nicht allein am fehlenden Vereinssport. Stattdessen fehlten vor allem Bewegungsmöglichkeiten im Alltag, "also dieses Draußen-Spielen mit Freunden, sich auf der Wiese treffen, zum freien Fußball-Spielen."
Lust statt Leistung
Aber auch die Schulen sieht Woll in der Pflicht. "Eigentlich müssten wir bildungspolitisch gesehen viel in den Kinder- und Jugendsport investieren, deutlich mehr, als wir es tun im Moment. Im Grunde genommen bräuchte jede Grundschule eine tägliche Sportstunde."
Es müsse endlich eine Art bundesweiten Bewegungspakt für Kinder geben, ähnlich dem Digitalpakt an Schulen.
Die Jugendlichen im Reha-Programm der Uniklinik Köln haben selbst entschieden, ihre Gewohnheiten zu ändern – zum Positiven, sagt die 17-Jährige Yeter: "Das Leben macht mehr Spaß, weil man jetzt aktiver ist, weil man mehr Lust hat, etwas zu machen. Dass ich hier mitgemacht habe, war eine gute Entscheidung."