Am Anfang, als die Revolution 1919 den Verfassungsstaat geschaffen hatte, wurde Philipp Scheidemann zum ersten Reichsministerpräsidenten der neuen Republik gewählt. Aber nur vier Monate später trat er von seinem Amt zurück, weil er sich weigerte, das Versailler Friedensabkommen zu unterzeichnen. Pathetisch erklärte er, jedem müsse die Hand verdorren, der dieses demütigende Papier unterzeichne. Ein vorschneller Schritt, zumal sich für keine deutsche Regierung eine realistische Alternative zur Vertragsunterschrift angeboten hätte. Scheidemanns Entscheidung bedeutete den Anfang vom Ende einer demokratischen Reichstagsmehrheit. Für ihn selbst war es gleichzeitig der Abschied von der großen politischen Bühne, die der 1865 in Kassel geborene und aus einem kleinbürgerlichen Handwerkermilieu stammende ehemalige Buchdrucker und Redakteur 1903 als Reichstagsabgeordneter betreten hatte. Bis zu seinem Rücktritt zählte er neben August Bebel (der 1913 starb), Friedrich Ebert und Eduard David zu den führenden Köpfen der Sozialdemokratie. Ein temperamentvoller, politisch pragmatischer Sozialdemokrat blieb Scheidemann während seiner ganzen politischen Laufbahn.
In den Schriften seiner Exiljahre, die nun über 60 Jahre nach ihrer Entstehung veröffentlicht worden sind, fällt Scheidemann vernichtende Urteile über die Politik seiner Partei in den historisch entscheidenden Monaten 1918/19 und 1932/33. Alt, einsam und in ärmlichen Verhältnissen lebend, zuerst in Prag, dann in Kopenhagen, zieht der einstige Reichskanzler noch einmal Bilanz des Scheiterns der Republik und der Rolle seiner Partei in diesem Drama.
Warum diese Aufsätze, Aufrufe und Briefe Scheidemanns erst jetzt erscheinen, begründet Herausgeber Frank Reitzle in seinem Vorwort unter anderem mit dem Hinweise auf einen Brief Erich Ollenhauers an die Tochter Scheidemanns aus dem Jahre 1948.
Wir glauben, dass es im Interesse der Partei liegt, wenn das Manuskript, in dem sich Ihr Vater ja teilweise sehr kritisch mit der offiziellen Politik der Partei in der Weimarer Republik auseinandersetzt, nicht in der gespannten Situation veröffentlicht wird.
Während Scheidemann in dem Aufsatz "Den Bestien entschlüpft" noch ohne allzu starke Angriffe auf seine ehemaligen Genossen die Geschichte seiner Flucht vor der Gestapo und seine Monate im Prager Exil schildert, wird er im zentralen Essay des Buches, geschrieben in Jahren 1935/36, deutlich.
In Zeitschriften und besonderen Schriften hat man der Sozialdemokratie Vorwürfe gemacht, weil sie 1918 ihre Macht nicht ausgeübt habe und weil sie auch später viel zu leichtgläubig und nachsichtig selbst ihren gehässigsten Feinden gegenüber gewesen sei. An diesen Vorwürfen ist mancherlei richtig...
Einer der Hauptschuldigen in den Reihen der SPD ist für Scheidemann sein alter Kontrahent Friedrich Ebert. Er habe viel zu lange an dem monarchistischen Gedanken festgehalten, und vor allem, so berichtet der Autor an verschiedenen Stellen, habe der spätere Reichspräsident in den entscheidenden Novembertagen mit den Generälen und der Reichsleitung geheime, mit der Partei nicht abgesprochene Vereinbarungen getroffen.
Der Verfasser hat die von Ebert oft vertretenen abweichenden Ansichten häufig genug nicht verstanden... Niemals ist er freilich hinweggekommen über die peinliche Tatsache, dass Ebert schon vor dem Eintritt eines Sozialdemokraten in das Kabinett sowie während der Zugehörigkeit des Verfassers zur Regierung häufig mit dem Prinzen Max allein vertraulich verhandelt und ihm Ratschläge gegeben hat, die zu der Stellungnahme des offiziellen Parteivertreters in der Regierung im Widerspruch standen.
Scharf geht Scheidemann auch mit der Exil-SPD der dreißiger Jahre ins Gericht. Gewerkschaften und Sozialdemokraten hätten bei Hitlers Machtübernahme die Anhängerschaft zum Stillhalten verpflichtet und damit die Chance des Widerstandes freiwillig verspielt.
Die sozialdemokratischen Führer haben nach Auffassung nicht nur der Arbeiter versagt, besonders als es sich darum handelte, im letzten Moment noch die kampfbereiten Organisationen zu den Waffen und zum Generalstreik aufzurufen.
Wären Scheidemanns Aufzeichnungen aus seiner Exilzeit damals oder unmittelbar nach dem Krieg veröffentlicht worden, hätten diese Aussagen zweifellos für erhebliches Aufsehen gesorgt. Inzwischen hat die Forschung vieles von dem aufgearbeitet, was der einstige sozialdemokratische Reichskanzler in den dreißiger Jahren bereits kritisch angemerkt hatte. Die tragische, aber auch politisch zwielichtige Rolle Eberts findet sich ebenso wie das kaum verständliche Zurückweichen von SPD und Gewerkschaften in den letzten Tagen der Republik in vielen historischen Darstellungen. Erstaunlich aber, wie deutlich Scheidemann seine Kritik – die nicht frei von persönlichen Ressentiments gegen einstige Genossen ist – formulierte und wie klar er die Wirklichkeit des Dritten Reiches analysierte. Das macht dieses Buch auch heute noch so lesenswert.
Philipp Scheidemann: Das historische Versagen der SPD, Schriften aus dem Exil, herausgegeben von Frank R. Reitzle, erschienen im Verlag zu Klampen. Das Buch hat 236 Seiten und kostet 19.80 Euro.